Eine Weihnachtsgeschichte aus den Vierlanden

Die kleine Anna war sechs Jahre alt, als sie das kleine Haus am Elbdeich entdeckte. Schon immer war sie diesen Weg entlang gegangen, aber an jenem Tag lag der Schnee besonders schön und der kleine unscheinbare Wald beim Haus glänzte besonders hell im Schneelicht der Sonne. Die kleine Anna sah wohl dieses Mal mit anderen Augen.

Vorsichtig ging sie die Stufen des Deichs hinunter zur kleinen Haustür des kleinen Hauses und klopfte daran. Sie musste sich bücken, um unter der Traufe des Daches hindurch zu kommen. Komisch, fragte sie sich, das ist ein wirklich sonderbares Haus, ich bin doch schon so klein und die Tür ist noch viel kleiner.

Als nach einiger Zeit keiner öffnete, drehte sie sich um und wollte wieder gehen. Doch da bemerkte sie ein kleines Licht im kleinen Wäldchen, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Vorsichtig ging sie am Haus entlang und sah weiter hinten im Wald eine kleine Hütte stehen.

Sie traute ihren Augen nicht, als sie sich der Hütte näherte. Denn vor der Hütten standen zwei flauschige Biber, die einen großen schweren Sack in die Hütte trugen. Ganz leise schlich sich die kleine Anna immer näher an die Hütte heran, bis einer der Biber sie entdeckte.
“Hey du, was machst du da?”, rief er und Anna konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Ein Biber, der spricht? Doch ehe sie darüber nachdenken konnte, rannte sie fort.
“Bleib doch!”, rief der Biber, aber sie rannte und rannte und rannte – bis sie den Deich erreichte und hinaufklettern wollte. Da verlor sie ihr Gleichgewicht und – holterdiepolter – rutschte herunter direkt in die Arme des flauschigen Bibers.
“Keine Angst, meine Kleine, keine Angst. Wir tun dir nichts.”, brummte der Biber.
“…”, Anna bekam kein Wort heraus.
“Wie heißt du?”
“…”
“Lass mich raten. Du heißt Anna!”
“… …”, jetzt bekam sie es erst recht mit der Angst zu tun.
“Komm, ich zeig dir etwas!”

Anna zitterte, doch der Biber nahm sie fest in den Arm, lächelte freundlich und ging mit ihr in den Wald. Hinter der großen, sehr großen Tanne entdeckte sie plötzlich die Hütte, die sie eben gesehen hatte. Und noch eine. Und noch eine! Der kleine Wald schien auf einmal gar nicht mehr so klein und sie wunderte sich wieder, warum sie das Haus und die kleinen Hütten noch nie gesehen hatte. Überall leuchteten Kerzen in den Bäumen und der Schnee funkelte tausendfach. Aus den Hütten stieg ein duftender Rauch empor.

“Komm herein!”, sagte eine klitzekleine alte Frau, die dick mit mehreren Schichten Wolldecken eingepackt war. “Hier, setz dich und trink einen Tee. Und nimm ein paar Kekse.”
“…”, wieder konnte die kleine Anna keinen Ton von sich geben.

Die kleine hölzerne Hütte stand von oben bis unten voll mit Kiste, Dosen und Gläsern. Überall Regale, die merkwürdig schräg an den Wänden befestigt waren. Mitten im Raum stand ein kleiner Tisch, an dem die alte Dame einen Teig nach dem anderen rollte und immer neue Plätzchen ausstach.

Auf jeder der Kisten und Dosen und Gläser stand ein Name geschrieben. Clara, Emily, Jonas, Ben, Henri und noch viele viele mehr.
“Was machen sie denn hier?”, fragte Anna plötzlich und war ganz überrascht, dass ihre Angst ein wenig verflogen schien.
“Tannenzimtkekse, Vierländer Erdbeerpralinen, Winterglöckchensterne, Rosenkugelkuchen …”, die Dame zählte noch lange immer mehr Kekse auf, da entdeckte Anna auch ihren Namen an einer Dose.
“Da steht mein Name!”, rief Anna, sprang auf und rannte zur Dose. Doch bevor sie die Dose greifen konnte, stand auf einmal der flauschige Biber vor ihr. Wie ist er dort so schnell hingekommen?
“Neinneinnein nein! Bitte, das geht nicht. Das kannst du nicht. Das geht so einfach nicht.”
“Was denn? Was geht denn nicht? Ich möchte doch nur meine Dose anschauen!”

Vorsichtig nahm die alte Dame die Hand der kleinen Anna: “Komm, ich möchte dir etwas zeigen!”
Gemeinsam verließen sie die kleine Hütte, gingen durch den kleinen verschneiten Wald zum Haus zurück und den langen Deich hinauf. In der Elbe schwommen dicke Eisplatten den Strom entlang und knirschten fröstelnd über das kalte Wasser. Die Luft war klar und der Horizont war weit.

Am Haus angekommen führte die alte Dame die kleine Anna zu einer Brücke, die über den Deich direkt ins Haus führte. Komisch, das war ihr eben auch nicht aufgefallen. Sie gingen über die Brücke durch die kleine Tür und durch viele viele kleine dunkle Zimmer im Haus. Nur ein paar kleine flackernde Lichter leuchteten den Weg – es sah fast so aus, als ob Glühwürmchen in kleinen Glaskugeln das Licht spendeten, aber das kann doch nicht sein, oder? – und Anna schmiegte sich eng an die alte Dame. Ein wohliges Gefühl stieg in ihr hoch und sie fühlte sich ganz heimelig.

Sie gingen eine knarzende Treppe herab und standen plötzlich in einem riesigen Raum voller Kerzen und einem großen Feuer in der Mitte. Es knisterte und ihr wurde ganz warm ums Herz. Weiter hinten sah sie eine bunt verzierte Tür und zwei kleine Fenster zwischen den alten dicken Fachwerkbalken, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.
“An Weihnachten kommen die Kinder zu mir und ein jedes bekommt ein paar Plätzchen, je nachdem, wie bedürftig es ist”, erzählte die alte Dame und ging langsam durch die Tür von der Anna so verzaubert war.

Neugierig schweiften ihre Blicke von einer Ecke des Raumes in die andere. Der Raum war so groß, dass sie kaum seine vier Wände sehen konnte. Vor lauter Aufregung vergaß Sie ganz die alte Dame und ging zu einer großen schweren Tür. Vorsichtig öffnete Sie die Tür und blickte in einen noch größeren, viel viel größeren Raum. Sie traute ihren Augen nicht. Überall standen Pferde mit großen Wagen – und die Biber wieder, die die Wagen mit großen Säcken beluden. Alles war geschmückt, die Wagen, die Pferde, selbst die Biber – mit Tannenzweigen, Äpfeln, getrockneten Blumen und vielen vielen großen und kleinen Plätzchen. Kerzen leuchteten überall und alles duftete so schön nach Weihnachten. Heute, dachte sie, ist der Weihnachtsmann die Weihnachtsfrau.

“Deine Zeit kommt erst noch, kleine Anna.” Erschrocken dreht sich Anna um und entdeckte die alte Dame, die auf sie zukam. “Geduld, Geduld. Alles hat seine Zeit.”
“Was, wie, was … was meinst du?”, erwiderte Anna. “Und warum hab ich dich hier noch nie gesehen?”
“Die kleine Anna. Du warst schon immer sehr ungeduldig! Du wolltest immer alles gleich sofort. Die kleine Anna. Wie schön das ist.”
“Und warum weißt du auch, wie ich heiße? Warum wisst ihr alle, wie ich heiße und warum sprechen die Biber überhaupt mit mir?”
“Komm, komm setz dich.”, sagte die alte Dame und ließ sich mit der kleinen Anna an einem Tisch beim offenen Feuer nieder. “Schau, probier den mal!” Sie hielt ihr einen kleinen, hellbraunen Keks mit drei gestanzten Tulpen darauf hin.
“Jajaja, aber warum weißt du denn jetzt, wie ich heiße?”, fragte die kleine Anna immer ungeduldiger und verspeiste ganz hastig den kleinen Keks.
“Und?”, wollte die alte Dame wissen.
“Und was?”
“Der Keks.”
“…”, ?
“Wie schmeckt dir der Keks?
“A. Ach der, der ist lecker. Der ist lecker!”, flüsterte sie und wurde dabei immer müder – und müder und müder.
“Weißt du,” fuhr die alte Dame fort, “das Weihnachtswunder, das Christkind, die bunten Lichter, die leckeren Kekse und deine geliebten Geschwister, deine Mama und dein Papa, das alles ist nur für dich gemacht. All das Gute und all der Segen. Vergiss das nie, mein Kind, sei dankbar im Herzen und du wirst ein glückliches Leben führen. Das wollte ich dir noch sagen, kleine …”, … … …

Blitzartig zuckte die kleine Anna zusammen, öffnete ihre Augen und richtete sich auf. Was war passiert? Wo ist sie hier? Wo sind all die Biber und die alte Dame? Und was ist mit dem Haus, und … Doch auf einmal wurde sie ganz ruhig und merkte, dass das alles wohl nur ein Traum gewesen war. Ein bisschen traurig zog sie sich an und ging zu ihren Geschwistern und Mama und Papa in die Küche.

Noch ganz müde, taumelte Sie in die Arme ihrer Mama und nuschelte etwas, das niemand verstand.
“Kleine, was sagst du da? Ich verstehe dich nicht.”, fragte die Mama.
“…”, aber die kleine Anna wollte es nicht mehr wiederholen.
“Komm, setz dich. Iss erstmal was.”
Doch die kleine Anna setzte sich nicht. Stattdessen rannte sie plötzlich weg, zog sich schnell Schuhe und Jacke an und verschwand im Schneegestöber. Die Mama rief ihr noch etwas hinterher, aber sie war schneller. Sie rannte zum Deich, da, wo das Haus stand. Doch da war es nicht mehr. Und der Wald lag da, wie immer, aber von dem Haus mit der alten Dame, den Hütten oder den Bibern gab es keine Spur mehr.

Zurück zu Hause war die Mama ganz außer sich: “Anna, Anna, was ist denn los mit dir? Erzähl mir doch, was du hast!” Aber Anna wollte immer noch nichts erzählen. Wieder am Küchentisch, aß die kleine Anna widerwillig ihr Müsli. Immer wieder musste sie an das Haus denken, als ihr auf einmal der Atem stockte. Ganz oben auf dem alten Küchenregal sah sie eine alte Dose mit drei Tulpen darauf stehen. Hastig kletterte sie das Regal empor und griff sich diese Dose: “Ha! Da steht ja mein Name drauf!” Sie öffnete die Dose und wollte wissen, was darin war.

Doch die Dose war leer. Nur ein weißes Blatt Papier war darin. “Pah! Was soll denn das? Wieso ist da nichts drin?”, fragte Anna trotzig.
Da nahm die Mama die Dose und zeigte ihr das leere Blatt Papier. Auf der anderen Seite war ein altes Bild. Und auf dem alten Bild eine alte Dame.
“Das ist deine Oma, kleine Anna.”, flüsterte die Mama. “Und deine Oma, die hieß Anna. Und deine Oma Anna ist der Grund, warum du auch Anna heißt. Du hast sie leider niemals kennenlernen dürfen. Sie ist kurz vor deiner Geburt gestorben. Aber ich habe ihr gesagt, dass sie gut auf uns aufpassen soll. Und sie hat gesagt, dass wir uns alle wiedersehen.”
“…”, da musste Anna ein bisschen weinen.
“Deine Oma wohnte in einem kleinen Haus am Deich. Sie hat dort einen kleinen Krämerladen geführt. Und an Weihnachten hat sie den Kindern selbstgebackene Kekse geschenkt. Doch als sie verstarb, hatten wir niemanden mehr, der sich um das Haus kümmern konnte. Und so wurde es verkauft. Es wurde abgerissen und es wurde ein neues gebaut.”

Und so war die kleine Anna ein ganz klein wenig traurig. Aber auch ein ganz klein wenig glücklich. Denn heute war Weihnachten und dieses Weihnachtsgeschenk wird sie nie wieder vergessen.


Erinnerungen sind keine fernen und längst vergangenen Erlebnisse, sie sind Teil von uns, ein Teil von dem, wer wir sind. Wir tragen einander weiter. Und immer weiter, bis ans Ende der Zeit. Und das ist doch das schönste Geschenk.

Fröhliche Weihnachten.

P.S.:
Das ist, was für mich diese alten Häuser ausmachen. Gar nicht nur das Alter, die Baukunst oder die Geschichte. Es ist viel mehr. Es ist dieses etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Dieses etwas, das nur diese alten Häuser mit sich bringen. Für mich hat jedes dieser alten Häuser eine Seele. Es erzählt mir etwas, wenn ich genau hinhöre. Ich spüre etwas von seinen Menschen, wenn ich es betrachte. Und so ist jedes dieser Häuser ganz einzigartig. Und mit jedem dieser Häuser, das verloren geht, stirbt ein Teil dieses Zaubers. Bis am Ende nur noch quadratische Häuser stehen, mit Menschen, die den ganzen Tag nur auf einen Bildschirm starren und das Leben nennen.