Business: Feiern oder Ferien

Buch: Kapitel 06

2017. Alles grau. Staub überall, Löcher in den Wänden. Es ist kalt, der norddeutsche Deichwind pfeift, prescht, schlägt durch das Haus und lässt eigentlich jegliche Gefühle sofort erstarren. Tod, so muss sich das anfühlen, kurz davor. Kalt. Das ist ein Rohbau.
“Das kann ich mir gut für meine Hochzeit vorstellen!”, trällert Ann-Berit.
“Das freut uns”, säuselt Tati schüchtern.
“Ich seh das alles schon vor mir. Hier die Trauung, da sitzen wir als Brautpaar, meine Eltern, deine, Großeltern und so, da drüben die engste Familie, da vielleicht eine Candy-Bar.”
“Das ist schön”, Tati lächelt.
“Das Wetter passt bestimmt. Solange das nicht zu kalt ist, wird das schon. Aber, ach, ich denke, Juni, das geht schon.”
“Ja. … Aber…”
“Ein paar Lichterketten wären schön. Die besorgen wir dann noch.”
“Also, aber was ich noch sagen wollte…”
“Aber kein Hartalk. Das soll nicht ausufern oder so. Schönen Wein, ein bisschen Bier für die Männer.”
“Also, bitte, ganz kurz, es kann aber auch sein, dass wir noch nicht fertig sind. Was machen wir dann? Auch mit den Bauarbeiten kann ja immer was sein. Da kann ja auch mal Materialmangel sein, oder einem passiert was oder so.”
“Ach was. Das wird schon! Und wenn, dann haben wir bestimmt einen Plan B. Aber – nein, ich denke, ihr kriegt das hin!”
Das Grau erstrahlt in einem ganz neuen Licht. Da ist nichts fertig. Die Diele, in der einmal geheiratet werden soll, ist eine Baustelle. Rohbau. Doch Ann-Berit, mit der Tati vor ein paar Wochen telefoniert hat, ist jetzt hier im Haus, im Rohbau, und kann sich das schon vorstellen. Wir auch, das ist nicht das Problem. Aber die Zeit. Wenn das nicht fertig ist, und die Hochzeit abgesagt werden muss, sind wir schon wieder vom Markt weg, bevor wir überhaupt aufgetreten sind. Ann-Berits Mutter hatte am Tag des offenen Denkmals mit uns gesprochen, ob man hier nicht auch heiraten könnte. Wir so, ja, und sie so, o toll, es dann gleich ihrer Tochter erzählt, und jetzt stehen wir hier im unendlichen Grau dieser Baustelle.
“Nein, nein, ich mache mir da gar keine Sorgen. Wollen wir nochmal in den Garten gehen?”
“Garten, – … ja! Ja, wir können ja noch mal … in den Garten”, stammelt Tati.
“Super!”
Noch schlimmer. Der Garten, das geht doch gar nicht, der ist noch viel schlimmer als die Diele im Rohbau. Kalt, matschig, grau, braun, Schrottplatz. Holzschrott. Platz. Da liegen achtzigtausend Kubikmeter Holz. Der ganze Garten – wenn man ein von Efeu und sonstigem nicht weiter definierbarem Grünzeug zugewuchertes Stückchen Land überhaupt so nennen darf – voll mit Brettern, Holzbohlen, Balken, OSB-Platten, Spanplatten, Schreibtischplatten, halb oder total zerkloppten Möbelteilen und sonstigem, das aus Holz gefertigt sein könnte.
“Pass ein bisschen auf, hier liegen auch Nägel und so”, Tatis best Advices für Rookies auf dem Bau.
“Klar.”
“Ja gut, also…”
“Die freie Trauung kann ich mir hier so gut vorstellen.”
“…”
“Im Sommer, das wird hier doch alles total schön! Da sitzen wir dann, die Gäste vielleicht hier”, Ann-Berit gestikuliert wild um sich und zeigt abwechselnd auf den Haufen mit splitterholzartigen Ablagerungen und den mit den dicken Holzbalken.
“Ja…”
“Und dann gehen wir noch zu den Hütten?”
“Ja?…”
“Klar!”
Die gibt es ja auch noch.
“Ach, die sind doch herzallerliebst. Und die kann man dann mit mieten, oder?”
“Ja.”
“Das ist doch super. Ich weiß genau, wer hier hinkommt. Und wer in die Wohnungen. Da ist ja echt für jeden was dabei!”
“Ja … schön!”
Das geht noch eine ganze Weile so. Und wir können es gar nicht glauben. Dieser Moment, den man nicht vergisst. Dieses verfallene Haus, überall Schrott, und doch – da gibt es neben uns auch noch andere Menschen, die hier mehr sehen als das Gesehene.

Business as usual – nicht

Dieser unvorhergesehene Besuch, wenn man das so nennen kann, zeigt uns aber auch, dass wir langsam mit den Planungen für unser Geschäft anfangen sollten.
Wo fangen wir überhaupt an? Leichte Panik überkommt uns, ich besinne mich auf mein Studium. Text & Konzept, eins der wenigen Fächer, das ich jemals in meinem Leben wieder gebraucht habe. Wenn man gar nichts weiß, erstmal mit den W-Fragen anfangen. Hört sich ein bisschen simpel an, hilft aber weiter. Was? Wie? Wann? Warum? Wo? Wer? Und so weiter und sofort.
Was machen wir überhaupt? Ferienwohnungen mit Waldhütten und Baumzelten. Hochzeiten und andere Feiern. Und ein Café wollen wir irgendwann auch machen. Dafür brauchen wir erstmal Gäste. Werbung. Gut, gut. Uns wird langsam ganz heiß, wie wir so dasitzen im Garten vor unserer ewig währenden Hausbaustelle, und merken, dass es jetzt ernst wird.
Wir haben so viel darüber nachgedacht, geplant, gesponnen, entworfen, jetzt muss das alles in nicht allzu ferner Zukunft in konkreten Zahlen münden. Geld. Umsatz. Gewinn. Einkommen. Wir müssen unserem überdimensionalen Kredit etwas entgegensetzen. Ein geiles Geschäftsmodell, das das alles überhaupt erst zum Leben erweckt. Dass es am Leben bleibt, und dass wir damit gut leben können.
Was sollen die Ferienwohnungen kosten? Die Hütten, die Zelte? Bettwäsche kommt dazu, Endreinigung. Hunde, kosten die extra, erlauben wir diese überhaupt? Die Hochzeiten, wo soll man denn da anfangen? Von A wie Aperol Spritz bis Z wie Zelte. Die Liste an Punkten dehnt sich ins Unendliche aus. Uns wird immer heißer. Wer liefert uns Getränke? Was kostet was überhaupt ungefähr. Mit welchen Caterern arbeiten wir zusammen? Sonnenschirme, Bierbänke, wo kommt sowas her? Wie heißen solche Firmen überhaupt? Eventausstatter? Schließt man gleich Verträge mit den Gästen oder läuft das so? Wo kommen die Gäste her? Welche Portale wollen wir? Was kosten die? Wir brauchen Bilder. Tonnen an Bildern. Texte. Wer schreibt die ganzen Texte? Wir. Wann? Wer? Alle. Wie ist das, wenn Urlaubsgäste kommen und trotzdem Feiern sind? Was ist rentabler? Mehr Feiern oder mehr Ferien? Oh mein Gott, wo soll das ganze Geschirr herkommen? Die Einrichtung, Tische, Stühle? Wir brauchen eine Bar. Brauchen wir eine Konzession? Ja, welche, wo bekommen wir die her? Lebensmittelamt. Wen ruft man da an?
Bulettenschein, das weiß ich noch. Da mussten wir so eine Schulung machen. Nach der Arbeit, abgehetzt wie ein Marlboro-Männchen, gerade noch die Bahn bekommen, in die Stadt, ins Rathaus, alles rein in den Kopf, und dann viel Glück.
Kühlschränke. Tiefkühlschränke. Uns ist jetzt so heiß, unsere Hitze hat mittlerweile die Kern-Temperatur der Sonne überstiegen. 15 Millionen Grad Celsius. 15 Millionen und ein Grad Celsius.
Über Wochen und Monate fertigen wir eine Liste nach der anderen. Treffen uns wieder mit Freunden und sprechen das alles durch, immer in der Hoffnung, dass uns das vor den allzu heftigen bösen Überraschungen bewahren könnte. Es ist der Wahnsinn.
Die Wissenschaft des Stuhls.
Das hat Monate gedauert. Welcher Stuhl ist der richtige? Ist bei ein paar Stühlen nicht das große Drama. Aber wenn man fast Hundert Stühle für viele Tausend Euro kaufen muss, fängt es an, kompliziert zu werden. Mit Polster oder ohne? Die Form? Retro, Schullook, modern, rustikal? Stabil muss er sein, aber er muss auch stapelbar sein, das wird schnell klar. Wir haben keinen Lagerplatz. Alleine dieses Kriterium schmälert die Auswahl der in Frage kommenden Stühle um 80 Prozent. Die Sitzfläche: groß genug? Oder zu klein?
Wir fahren von einem Möbelgeschäft zum nächsten. Wir sitzen auf hunderten Stühlen. 99 sind immer gleich scheiße. Einer bleibt übrig. Der ist aber nicht stapelbar. Wir verzweifeln. Die Wochen vergehen, und wir müssen jetzt liefern. Die Lieferzeiten werden lang sein, und wenn wir zu unserer ersten Hochzeit keine Stühle haben, haben wir ein Problem.
Am Wochenende ist die Internorga, die Messe für Gastronomie und Hotellerie in Hamburg, und wir bangen und hoffen, dass es hier klappt.
Die türmen sich vor uns auf wie Berge am Horizont. Die werden immer größer und hässlicher. Je näher wir kommen, desto abstoßender sind sie. Diese Hallen sind so quadratisch, praktisch, häßlich, dass wir es mit der Angst bekommen. Wir sind nicht allzu oft auf einer Messer gewesen. Sind alle Messen so häßlich? Wir betreten das Gelände und reihen uns ein in die Menschenschlange vor der Kasse.
Nach einiger Zeit entern wir auch die Empfangshalle. Disneyland, Tropical Island, sonstwas gepaart mit dem Charme einer Industriebrache. Wer hat Messe erfunden? Die Halle ist groß wie ein Universum. Und dann kommt noch eine Halle und noch eine Halle.
Wir irren stundenlang umher. Manchmal finden wir uns auf einem Stuhl wieder. Meistens sind wir einfach nur abgelenkt von Farben, Gerüchen, Formen – vor allem von Verkäufern. Diesen Menschen mit Anzügen, die nicht ganz sitzen, mit Krawatten mit lustigen Motiven oder Hemdkragen, die das Logo der Firma eingestickt haben. Sie gucken in der Gegend umher, wollen nicht zu aufdringlich sein, aber sie sind es doch. Wenn ein Blick rein zufällig deinen Blick streift, ist es zu spät. Dann hat er dich. Er zieht dich an sich heran, psychisch, quatscht dich voll, labert, Rhabarber, laber, ich halt es nicht aus, ich bin dann immer zu nett und sag nicht einfach, halt die Fresse, sondern höre zu, mhm, ja, mhm, nein, in Ordnung, nein, Danke, ich bin nicht interessiert, aber er lässt nicht nach, und wenn er dir nur von hinten, wenn du dich irgendwann losreißen konntest, die Visitenkarte in deine Hosentasche gefeuert bekommt. Ich bin ja nur neidisch, dass ich das nicht kann. Liebe Verkäufer, verzeiht meinen Ausbruch. Ich bewundere euer Talent.
Nach langen Stunden in der Wüste des Konsums kommen wir an einem – wie nennt man das überhaupt? – Stand an, an dem wieder ein paar Stühle stehen. Wie von Geisterhand werden unsere Hinterteile von ihnen angezogen und es passiert etwas Magisches
– Dadaaa –
unser Hintern sagt, das ist er.
Wir haben den – unseren – Stuhl gefunden. Und im Angebot ist der auch noch. Der Verkäufer (keine Witze mehr) kommt auf einem fliegenden Teppich herbei geflogen und wir werden uns ganz schnell einig. Wir sind überglücklich.
Monate später kommen die Stühle. Jeder einzelne Stuhl ist in einem Karton verpackt. Ein ganzer LKW braucht einen halben Tag, um alles auszuladen. Alles stapelt sich vor unserem Dielentor. Meter hoch. Einen weiteren halben Tag brauchen wir, um alle Stühle in die Diele zu wuchten und einen weiteren halben Tag, um alles auszupacken.

“Schatz, die haben uns die Plattform weggerissen!”, ruft mich Tati auf der Arbeit an.
“Was? Ich weiß gar nicht, was du meinst”, frage ich.
“Warte.”
Ping. Ich gucke auf meine Handy. Whatsapp. Ein Bild – oh mein Gott! Da, wo vorher die schätzungsweise zehn Quadratmeter große und mit Backsteinen in den Deich vor unserem Haus gebaute Ebene mit altem gusseisernen Zaun und Bänken war, ist nun eine Brache im Deich. Die ganze Plattform – einfach weggerissen. Das war einmalig in den ganzen Vier- und Marschlanden.
“Waaaaas?!”, ich bin fassungslos.
“Wir sind doch immer da, aber gerade jetzt, wo wir mal zwei Tage nicht am Haus sind, reißen sie das Ding weg! Das kann doch wohl nicht wahr sein!”
“Und wo ist der Zaun überhaupt? Das war doch was ganz Besonderes! Ich kann das nicht glauben!”
“Das ist so heftig!”
“Alter, ich poste das sofort auf Facebook. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Vielleicht kann uns da einer was zu sagen.”
Vorgeschichte:
“O, das ist nicht unser Bereich, tut mir Leid.”
“Da müssen sie beim Deichamt mal nachfragen.”
“Das ist die Aufgabe des Bezirksamts.”
“Nein, das Straßen- und Verkehrsamt.”
“Nein, das hat mit Denkmalschutz nichts zu tun. Das ist das Bauamt.”
Das geht über Wochen und Monate. Kein Amt möchte für die Problematik zuständig sein. Es geht um unsere Plattform am Deich. Sie ist mit Backstein in den Deich gemauert. Das Problem besteht allerdings darin, dass eben diese Backsteinmauer langsam zerbröckelt und auseinanderzubrechen droht. Im worst case sind dann gerade Handwerker, Kinder oder sonstige Menschen da unten und werden erschlagen. Der Efeu, der sich um und durch die Mauer schlängelt, ist an manchen Stellen armdick und könnte schon als mittelgroßer Baum durchgehen.
Ursprünglich hat die Plattform, genau wie Nebengebäude und Elbvorland mit Wald, zum Haus und Hof dazugehört. Der Bauer war früher für die Instandsetzung des Deichs verantwortlich. Nun gehört die Plattform, da sie im Deich liegt, der Stadt Hamburg. So wie alle Deiche. Unser Vorschlag: Wir geben einen Teil (Geld) und die Stadt den anderen Teil dazu, damit die Plattform wieder vernünftig hergerichtet werden kann.
Pustekuchen. Sie ist jetzt weg. Einfach weg, und kein Amt der Welt hat es für nötig gehalten, wenigstens einen Anruf zu tätigen und uns darüber zu informieren. Gut, müssen die ja nicht machen. Aber, um es mal menschlich auszudrücken, wir – opfern – unser Leben für dieses Haus, wir investieren alle Kraft, alle Zeit, alles Geld, das wir haben, damit es, nicht nur für uns, sondern eben auch für den Ort, erhalten bleibt, und die Behörden investieren keine zwei Minuten für einen Anruf. Ja, wir haben uns das so ausgesucht. Aber – ein Anruf wäre doch vielleicht drin gewesen.
Die Bergedorfer Zeitung greift unseren Post von Facebook auf und findet heraus, dass der Zaun auf dem Betriebshof in Bergedorf liegt. Wochen später, wir mussten extra Verträge unterschreiben, konnten wir immerhin den Zaun wieder unser eigen nennen. Die Plattform kam nie wieder.

Werbung. Auch so ein Ding. Gut, dass ich das gelernt habe. Dabei brauchen wir doch erstmal einen Namen. Wir machen Listen, Mind-Maps, diskutieren, überlegen, machen wieder Listen und diskutieren. Das geht ein paar Wochen bis wir am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Das Haus vor lauter Balken sozusagen.
Eines Tages muss unsere Firma eingetragen werden. Wir brauchen also den Namen, wenn wir weiterkommen wollen. Verdammt. Da erinnern wir uns an einen Arbeitstitel zu einem unserer Konzepte für eins unserer vorherigen Häuser, das wir kaufen wollten. Ein Wortspiel. Haus Anna Elbe. Wie Haus an der Elbe, nur als Name. Anna. Anna Elbe.
“Müsste das nicht AnnE Elbe heißen, hier so in Norddeutschland?”, kommt dann auch immer wieder als Frage. Anna. Von hinten wie von vorne. Es ist wie es ist. Und so ist es dann auch. Außerdem haben wir über mehrere Zufälle – nein, es sollte so sein – eine Vierländer Brauttruhe mit feinsten Intarsienarbeiten von 1878 und dem Namen Anna Timmann erstanden. Punkt.
Kommt aber auch gut an. Teilweise erreichen Tati Briefe oder E-Mails mit der Anrede: Frau Elbe, Frau Anna, Frau von der Elbe. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Internetseite, Flyer, Facebook, Instagram. Wir kontaktieren unsere regionalen Zeitungen vor Ort, die Bergedorfer Zeitung, das Bille Wochenblatt, den Vierländer Boten. Über Wochen und Monate begleiten sie unsere Arbeit. Und auch der NDR ist wieder dabei. Diesmal ist das meiste von unserem Haus fertig, und jeder kann es sehen: Aus dem alten Schrotthaus ist ein frisch saniertes altes Bauernhaus geworden, das offen ist für jeden. Unser Anspruch: Unser Haus soll Teil von Altengamme sein. Es soll ein ganz besonderer Teil der Vier- und Marschlande in Hamburg sein.
Ein großer Vorteil sollte auch unsere Facebook Vier-und-Marschlande-Fanpage sein. Seit fast zehn Jahren pflege ich die Seite jetzt und erreiche damit mehrere Tausend Menschen. Mit unseren anderen Gruppen – allen voran der Marktplatz von Tati – erreichen wir fast 20.000 Menschen. Das ist in dieser ländlichen Region natürlich schon eine gewisse Reichweite, die wir gut zu nutzen wissen.
Die Anfragen für Feiern, Hochzeiten und auch die Ferienwohnungen, Waldhütten oder Baumzelte erreichen uns jetzt immer öfter, und auch bekannte Social-Media-Plattformen aus Hamburg teilen unsere Inhalte. Wir sind guter Dinge.
“Schatz, hier, guck!”, quietscht mich Tati von der Seite an.
“Was?”, ich drehe mich zu ihr. Wir sind am Bergedorfer Bahnhof in einem Zeitschriftenladen.
“Da, guck!”
“…”, ich weiß nicht, was sie meint.
“Hier!”, sie zeigt jetzt deutlich in Richtung Regionalblätter.
“Boa…”, tatsächlich. Da liegt es jetzt. Unser Land zwischen Bille und Elbe. Ein Magazin aus unserer Heimat, das alle paar Monate erscheint.
“Schatz, wir sind Stars!”, freut sich Tati.
“Beere! Psssst!”
Tausende bunter Blätter. Alles voll Cover. Häuser, Promis, Paare, Stofftiere, Gitarren, Blumen, Skulpturen, Titten, Haare, Lastwagen, Traktoren – und mitten drin Tati und ich in Vierländer Tracht mit einer großen Story über unser Haus. Wir können es nicht glauben.
“Mach mal ein Bild, Schatz!”, flüstert Tati weiter.
“Hm.”
“Dochdoch! Dann mach ich das!”
“Na gut!”
Wir zücken beide unsere Handys und fotografieren heimlich unser Cover. Das war ein jahrelanger Prozess für dieses Magazin-Cover. Es gab natürlich auch noch andere Anwärter dafür. Aber am Ende sind wir es geworden, wir und unsere Geschichte.

Immer noch 1000 Entscheidungen. Die Wohnungen gehen jetzt ins Finale, die Handwerker machen ihre letzten Handschläge, und wir können über Möbel und Ähnliches nachdenken. Möbel, Deko, Accessoires, Betten, Matratzen, Lattenroste, Bettbezüge, Handtücher, Geschirr – die Liste dehnt sich immer weiter aus. Auch hier überfällt uns wieder leicht die Panik.
Welche Farben, welche Materialien, welcher Style?
“Stefan, ne, hör auf, so viele Bilder, das will doch keiner sehen!”, ruft mein Vater, als er in der Diele die Bildwand an der weißen Mauer sieht.
“Schatz, vielleicht nicht ganz so viele. Vielleicht einfach auch nicht ganz so chaotisch?”, Tati zögert auch noch.
“Und diese alten Holzbohlen da drunter, ich weiß ja nicht”, mein Vater wieder.
Wochen lang habe ich Bilder gesucht. Alt Hamburg. Alt Vierlanden. Menschen in Tracht. Menschen bei der Arbeit. Ein Seemann. Blumen. Bäume. Dies, das. Tage lang habe ich sie bearbeitet, aufgehübscht, aufgehellt, habe sie zusammengetragen, Druckbögen erstellt, Drucken lassen, liefern lassen, zurechtgeschnitten, Punkt. Ich habe mir die schönsten alten Bohlen rausgesucht, sie sauber gemacht, die schönsten Stellen der Bohlen rausgesucht, diese herausgesägt, abgeschmirgelt und erneut gereinigt, Punkt. Dann habe ich meine Bilder, vielleicht 20 Stück insgesamt, je eins auf ein Stück Bohle geklebt, und das alles schön gewollt ungewollt an die Wand gehängt. Geil!
“Ich weiß nicht, wenn du meinst.”
“Wir können es ja wieder abnehmen, wenn es zu vielen nicht gefällt.”
Ich hör da gar nicht mehr hin. Alle zweifeln an meiner Bilderwand. Ich lasse mich aber nicht beirren.
Cut. Wir nehmen das zweite Mal am Tag des offenen Denkmals teil. Ich führe eine kleinere Gruppe durch das Haus.
“Wahnsinn, diese Wand mit den Bildern, super!”, freut sich ein Mann neben mir.
“Danke.”
“Ne, auch die Idee mit den Bohlen. Super. Die Idee nehme ich mir einfach mit nach Hause und mache das da nach.”
Ich lache: “Das freut mich sehr, Danke!”
“Ich komm aus der Kreativ-Branche, da hat man einfach ein Auge für sowas.”
“Cool.”
Ich gucke zu Tati. Mit dem überlegenen Blick der Genugtuung. Ich habe Feuer gemacht!, ruft mir meine innere Stimme zu, und ich sehe, wie Forrest Gump – Entschuldigung – Tom Hanks, oder wie der in dem Film heißt – bei Cast Away vor seinem Feuer tanzt.
Ich weiß nicht viel. Ich kann nicht viel. Aber irgendwann im Leben habe ich, denke ich, wenigstens ein paar Sachen gelernt, die ich (hoffentlich) kann. Ich kann Design. Ich habe ein Gefühl. Vielleicht habe ich ein Talent. Es gibt Dinge, die kann man nicht lernen, sagt man. Die hat man, oder die hat man nicht.
Das habe ich auch weiter so gehalten. Einrichten, Interior, Raumgefühl, wann bekommt ein Ort eine Seele, alles Dinge, die ich mache.
Lampen, Leuchten, Deckenleuchten, Wandleuchten, Spotlights, Hängelampen, Lichterketten für den Wald, kleine, große, Biergartenlichterketten, Lampions, LEDS, 2800 Kelvin, 2200, 2700, kaltwarm, warmweiß, warmwarm, 2 Watt, 1 Watt oder 7 Watt? Welches Licht ist wo richtig? Es darf nicht zu hell sein, aber auch nicht zu dunkel. Man soll ja auch noch lesen können, aber gemütlich soll es auch noch sein. Indirektes Licht. Geht aber auch nicht immer. Da ist ein Wackelkontakt, die Lichterkette im Wald fällt aus, warum? Warum? Wo soll ich anfangen? Drei Steckdosen, fünf Verlängerungskabel, fünf Lichterketten, zig Verbindungen und Dutzende Fassungen. Überall kann ein Tröpfchen Wasser eingedrungen sein. Ein Staubkorn? Eine Kellerassel. Am wahrscheinlichsten sind Ohrenkneifer. Stellen wir ein paar antike Bügeleisen, Nähmaschinen, Spinnräder oder sonstwas aus unserem Fundus in die Wohnungen oder sieht das nach Flohmarkt aus. Oder klaut das eh jeder oder ist das genau das, was wir wollen? Draußen liegen überall alte Türen, alte Fenster, alte Balken, Bohlen, Bretter rum, kann man da nicht auch noch was draus machen? Wir brauchen eine Bar. Das hab ich mal wo gesehen, ich nehme die Türen, die nehme ich als Verblendung und baue die an so kleine Regale dran, die müssen ja auch was aushalten, ich google Regale, entdecke Schwerlastregale, bestelle alles, baue drauf los, wie machen wir eigentlich die Schlüsselübergabe, wenn Gäste kommen da gibt es doch so Schlüsselkästen, die kann man doch an die Tür machen damit alle Gäste sich die dann selber rausholen können –––

Overkill. Interior Super GAU. Mein Gehirn kollabiert. Biiiiieeep. Eine neontürkisfarben leuchtende lange Linie zieht sich durch das Bild –––

Diese ganzen tausenden Mikroentscheidungen zerstückeln unsere Gedanken auch fernab des Hauses – obwohl es das kaum noch gibt. Schnell, schnell, schnell. Wir müssen fertig werden, Zeit ist Geld, das zieht sich bis in die schon am Abgrund zum Schlaf befindlichen halbluziden Gedankenblitze kurz bevor man einschläft.
Ich gehe manchmal noch ins Fitnessstudio. Jede Sekunde ist verplant. Schon beim Aufstieg der Treppen öffne ich Reißverschlüsse oder Knöpfe meiner Kleidung, die ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen zu öffnen möglich sind, damit ich ein paar Sekunden in der Umkleide sparen kann. Der Ladevorgang des Chips, der das Drehkreuz am Empfang löst, dauert mir jedes mal zu lange. Ich frage mich, ob das an mir liegt. In der Umkleide steuere ich hektisch auf einen Spind zu als ob es davon zu wenig gäbe und schmeiße bereits die ersten vom Laib gerissenen Klamotten an den Haken. Schnell der Rest, dann rein ins Getümmel. Die Gerätefolge ist klar, wer steht an dem Gerät. Niemand? Super. Doch, verdammt. Eine Auswahl an Alternativgeräten rattert vor meinem inneren Auge vorbei wie die drehende Symbolanzeige eines einarmigen Banditen. Nach einer tausendstel Sekunde ist das Alternativgerät gefunden, während mein Gehirn im Unterbewusstsein schon längst den schnellstmöglichen Weg vorprogrammiert hat. Da steht auch einer, das darf nicht wahr sein. Strategie ändern, andere Muskelgruppen heute, eine zehntel Sekunde später stehe ich vor dem nächsten Gerät. Dort steht keiner. Super. Push, push, atmen, halten, Pause, push, push und so weiter. Die Geräte laufen heiß, ich laufe heiß, schnell bin ich wieder auf der Arbeit, zu Hause, oder sonstwo.
Jahre später habe ich erst gemerkt, dass das krank ist. Das ist krank! Ich muss nicht auf jede Sekunde achten. Ich gehe dahin, ziehe mich ganz gemütlich um, wie jeder normale Mensch auch, und schlendere dann so los. Mal hier, mal da, dann komm ich zurück und mache mich in aller Ruhe fertig. Herrlich!

Jetzt ist es soweit. Unser erster Gast ist da. Alle unsere Mühe macht sich ausgezahlt, jetzt beginnt unser neues Leben.
Wir heißen ihn ganz herzlich willkommen und führen ihn, bevor er seine Wohnung in Empfang nehmen darf, über unser Land. Die Elbe im Hintergrund, der Deich, das Haus, wir gehen runter, die Wiese entlang ins kleine Wäldchen zu den Hütten und von da aus wieder am Deich zurück zur Deichbrücke. Feierlich gehen wir – einer Prozession gleich – zusammen bis vor die Tür.
Disney-Film, alles funkelt und glitzert, von irgendwoher singt eine zauberhafte Mädchenstimme ein wunderbares Lied, die Sonne geht gerade in wunderschönen Farben am Horizont auf, Streicher setzen ein, Blumen erblühen, Vögel zwitschern, kleine Feen schwirren um unsere Köpfe, unser Gast betritt jetzt das Haus, winkt uns noch zu, dreht sich wieder um und schlägt sich einen zehn Zentimeter langen rostigen Nagel in den Kopf. Blut. Rettungswagen, zu langsam. Rettungshubschrauber, Krankenhaus, Not-OP, Gehirn-Transplantation – ach Mist, jetzt weiß er nicht mehr, dass er bei uns war. – Wobei, vielleicht auch ganz gut so.
Ein Albtraum!
Zum Glück habe ich noch die langen rostigen Nägel entdeckt, die aus allen möglichen Balken, Wänden, Brettern oder Ständern herausgeguckt haben, bevor unser erster Gast tatsächlich zu uns gekommen ist. Alle wurden fachgerecht im Holz versenkt.

Ein Haus im Brief

“Schatz…”, Tati wird kreidebleich als wir morgens im alten schummrig beleuchteten Flett am Küchentisch sitzen.
“Was denn?”, möchte ich wissen.
“Da liegt gerade ein kleines Haus im Brief”, sie steckt die Dokumente wieder zurück und wirft mir den Umschlag zu.
“Was?”, ich verstehe nicht.
Tati ist ganz leise.
Ich nehme den Umschlag.
“Das ist ein Haus!”, ruft sie.
Ich öffne den Brief.
Biiieeeep.
Mein Herz pocht lauter, meine Blicke irren in der Gegend umher, ich schwitze: “Was machen wir jetzt?”
“Keine Ahnung!”
“Mama, geht es euch gut?”, möchte David wissen.
“Mama, Papa?”, auch Johanna spürt etwas.
“Geht ihr mit Mathilda nochmal ins Zimmer? Papa bringt euch gleich zur Schule und in den Kindergarten, ja?”, Tatis Stimme bricht weg.
“Mäuse, bitte”, ich nehme sie in den Arm. “Wir schaffen das schon irgendwie.”
“…”, Schweigen.
Da liegt ein Haus in diesem Brief. Gleich mehrere Rechnungen von verschiedenen Gewerken, so hoch in Summe, dass man davon ein kleines Haus auf dem Land hätte zahlen können. Uns wird schlecht.
“Das war’s. Wie sollen wir das denn hinkriegen? Und da sind ja noch nicht mal alle Sachen jetzt fertig!”, ruft Tati verzweifelt.
“Schatz…”
“Bär, wirklich, ich habe Angst!”
Ich nehme sie in den Arm, und wir schweigen.
Dann: “Ich habe keine Ahnung. Aber ich schicke original erstmal sofort alle Handwerker auf der Stelle nach Hause, die hier noch irgendwo im Haus rumeiern.”
Ich stehe auf und gehe einen Raum weiter. Dort wird an einer Treppenstufe zu den Dielen-Toiletten gearbeitet. “Moin, es tut mir sehr leid. Das hört sich jetzt vielleicht etwas merkwürdig an, und ich kann das auch noch gar nicht erklären. Aber ihr müsst jetzt alle nach Hause gehen.”
“…”, der Tischler guckt hoch und kneift die Augen zusammen.
“Es tut mir wirklich Leid, ich muss jetzt erstmal mit dem Architekten reden. Da scheint in den Planungen irgendwie etwas … – etwas schief gelaufen zu sein oder so.”
“Ww… also, wie … also, ich soll jetzt einfach nach Hause gehen?”
“Ja. Leider. Ich weiß auch nicht.”
“Öm. Ja, ich klär das mal mit dem Chef ab.”
“Ja, ich kann sonst auch mit ihm sprechen.”
“Nein, nein … kein Problem. Ich mach das.”
Ich laufe durch das ganze Haus, und nach weniger als einer Stunde waren alle Handwerker weg. Dieser Moment hat alles verändert. Bis heute, Jahre später, spüren wir seine Auswirkungen, denn die restlichen Arbeiten, die wir handwerklich irgendwie selbst nacharbeiten konnten, haben wir seitdem natürlich auch gemacht. Und dieser Rest war immer noch viel zu viel. Fliesen, Fensterbänke, Malerarbeiten, Geländer und so weiter und sofort. Die Dämmung der Fenster in Johannas Zimmer haben wir erst vier Jahre später fertiggestellt – vorher klemmten ein paar Decken dazwischen. Die gelieferten Fußleisten liegen immer noch im Keller.
xxxabhier Panische Anrufe, Erklärungsversuche, Krisenmeetings, das volle Programm. Am Ende will es natürlich keiner gewesen sein. Wir sind schockiert. Bei jedem Bau, vor allem bei solchen Projekten mit alten Häusern, kann was dazwischen kommen, da wird am Ende immer was teurer. Aber das muss immer noch im Rahmen bleiben. Und das ist es nicht mehr.
Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir natürlich auf 1000 Dinge verzichtet, die man noch später hätte machen können. Allen voran die kleinen Saunen in den Wohnungen (wir sollten noch feststellen, dass uns die Saunen in den vielen Corona-Wintern wahrscheinlich den Arsch gerettet haben, aber das konnten wir zu dem Zeitpunkt ja nicht ahnen, von daher, wie meine alte und einzig vernünftige Lehrerin, die ich jemals hatte, Frau Hegmann zu sagen pflegte: Danke, lieber Zufall). Aber auch an Fliesen, Materialien, Möbeln und sonstwas hätte man irgendwo sparen können. Alles eine gigantische Scheiße, aber da müssen wir jetzt durch. Wie, keine Ahnung. Wann wir die ganzen Arbeiten jetzt selber machen sollen? Keine Ahnung. Tati, unsere drei Kinder, ich immer noch voll in der Agentur am arbeiten, – wo soll das ganze Geld herkommen?
Einen Teil sparen wir, weil wir jetzt irgendwann noch mehr selber machen. Einen Teil sparen wir jetzt wohl in Einrichtung, Gastro, Garten, sonstwas. Aber der Rest?
Wir reden mit dem Bauleiter, wir reden mit dem Architekten, wir wollen mit der Bank reden, wir wollen mit meinen Eltern reden, vielleicht können wir noch einen Kredit irgendwo bekommen, wir wollen nicht mehr leben.
Diesen Zustand zu diesem Zeitpunkt hätten wir so nun gar nicht erwartet und bohrt sich dermaßen in unser Gemüt, unsere Stimmung und unseren Bauch, dass wir kaum noch zu denken in der Lage sind.
Nachts wachen wir verschwitzt auf, es ist dieses Gefühl, dass sich der Brustkorb zuzieht, du kannst kaum noch atmen, das sind so komische Nervenzuckungen, innerlich, manchmal verursacht es dir sogar Gänsehaut, aber du entkommst ihm nicht. Manchmal ist es ruhig, wenn du nicht dran denkst, aber in dem Moment, eigentlich schon einen Bruchteil einer Sekunde früher, kommt es wieder, alles ist wieder da, der Albtraum in deinem Kopf, deinen Gedanken, deinen Gelenken, in deinem Leben, in der Realität, das ist viel schlimmer. Dann musst du ganz tief einatmen, sonst wachst du da nie wieder auf.


Irgendwann haben wir Mahnungen im Briefkasten, weil wir die Geldsituation noch irgendwie klären müssen. Eine Firma möchte uns direkt verklagen. Mama!
Wir fühlen uns wie Schwerverbrecher. Gleich kommt die Polizei und wir landen im Knast. Oh Gott, oh Gott. Dieses Gefühl ist uns so fremd und beängstigend, dass wir überlegen, alles hinzuschmeißen.
HA, das geht im Leben nicht, brüllen uns unsere innere Stimmen an. Was hier an Geldern durch Denkmalschutzamt und Stiftungen geflossen ist, müssten wir alles wieder zurückzahlen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir dann kein Zuhause mehr hätten. Geht also nicht. Wir müssen da irgendwie durch.
Nach ein paar weiteren sehr harten Wochen, können wir uns mit den Handwerkern einigen. Am Ende konnten wir doch unsere Schulden begleichen.

Ostern 2018. Sonderangebot in unseren Waldhütten. Ganz günstig, die ersten Gäste usw. Steht da so auf unserer Internetseite und auf allen möglichen Portalen. Kommt eh keiner, steht ja auch da, das da keine Heizung ist und hier alles noch halb eine Baustelle.
Ping.
“Schatz, da hat jemand gebucht!”, freut sich Tati.
“?”, ich verstehe nicht ganz.
“Ja, da muss jemand gebucht haben.”
Wir sitzen im Wohnzimmer beim TV. Ich frage weiter: “Und das kannst du am Ton erkennen?”
“Ja, Airbnb hat da seinen eigenen Ton.”
“Oke.”
“Wie geil, da kommen tatsächlich welche. Zwei Mädels, die kommen morgen schon vorbei. Das ist ja cool!”
“Oha.”
Ich kann es gar nicht glauben, dass trotz der Beschreibung und der Bilder, die ja teilweise noch einen Rohbau zeigen, ein Interesse zu bestehen scheint.

Die ersten Gäste

Die stehen da vor uns. Unsere ersten Gäste überhaupt, jetzt stehen die da wirklich vor uns. Zwei Spanierinnen, klein und süß, alle lange schwarze Haare, alle im T-Shirt und Rucksack.
“Hi.”, sagt eine.
“Hi.”, sagt Tati.
“Wir sind hier für Wohnung.”
“O.”, Tati schmunzelt. “Für die Waldhütte.”
“A. Ja.”
“Habt ihr auch noch andere Sachen dabei?”
“Wie meinen?”
“Ähm, also, das soll heute Nacht noch schneien…”
“Was?”
“Ja, also, wir hatten das ja auch geschrieben, dass man sich gut einpacken soll – also warme Sachen und so.”
“Im April?”
“Schnee im April. Ja, das ist hier normal.”
“Oh.”
“Ähm…”
“Ja, wir können ja mal schauen, wie es ist.”
“…, ja. Komm, ich zeig euch die Hütten.”
Ich stehe nur da wie ein begossener Pudel. Unsere ersten Gäste. Zwei Spanierinnen. Na ja, vielleicht schneit es ja gar nicht.
Klingeling.
“Ö.”, ich.
“Hä?”, Tati.
Nachts, halb eins. Das Handy klingelt, klingeling.
“Hallo?”, röchelt Tati ins Handy.
“Hallo?, ja, ist doch etwas kalt.”, die Spanierin.
“Hä?”, ich.
“Ja, ok, wartet, wir kommen gleich.”
“Ja, ist gut.”
Tati bäumt sich auf. Das Bett ist verdammt gemütlich: “Was machen wir denn jetzt?”
Ich mach die Augen wieder zu: “Ö.”
“Die packen wir oben in den Rohbau.”
“Hä?”
“Ja, das sieht da zwar aus wie Sau, und auch der ganze Staub und so, aber da ist es jetzt wenigstens warm.”
“Okay. Okay, dann warte, du holst die beiden und ich mache schnell ein bisschen klar Schiff in der Wohnung.”
“Ja.”
Es schneit, okay, es schneit. Alles weiß. Scheiße. Tati verschwindet, nachdem sie sich was übergeworfen hat, in unserem kleinen Wald, und ich torkel hoch in die Wohnung. Alles grau. Überall Staub. Staub wie Schnee, man hinterlässt Fußspuren. Die überleben hier keine Nacht.
Mit einem Besen kehre ich vorsichtig eine Schneise auf den Boden, wo ich notdürftig ein paar Matratzen von uns platziere. Alles staubt, es ist stickig, aber warm. Ich habe Angst. Wenn die hier gleich als erstes eine schlechte Bewertung im Netz hinterlassen, können wir einpacken, bevor wir überhaupt richtig angefangen haben.
“Die fanden das voll lustig, da oben.”, sagt Tati, als wir uns wieder in unserem Bett einfinden.
“Lustig?”
“Ja.”
“O mein Gott, wenn die uns ne schlechte Bewertung hinterlassen.”
“Ach was. Die wollen auch bei uns duschen. Ist denen zu kalt drüben im Gemeinschaftsbad.”
“…”, meine Fantasie geht mit mir durch. “Ich glaube, ich mag meinen Job.”
“Hä?”
“Och.”
“Wie – ne, wie meinst du das?”
“Ach, morgen unter der Dusche, das stell ich mir ganz schön vor!”
“Ey! Jetzt hab ich das erst verstanden!”
Wir lachen. Und irgendwann schlafen wir ein.
Am nächsten Tag sitzen wir tatsächlich gemeinsam am Frühstückstisch bei uns im Flett und unterhalten uns über Gott und die Welt. Sie erzählen, dass sie in Berlin studieren und hier gerade jemanden besuchen, und dass sie irgendwann vielleicht aber wieder nach Spanien zurück wollen und so weiter und sofort. Herrje, ist das schön. Ein bisschen wie in einer Jugendherberge. Nur schöner.
“Schöne Location, wunderschöner Ort und supernette Gastgeber. Sehr zu empfehlen”, stand da irgendwann auf Englisch bei Airbnb. Wir sind sehr happy. Unsere ersten Gäste, und sie waren gleich zufrieden.
Dann geht das weiter, das Wetter wird immer wärmer und das Haus verliert mehr und mehr seinen Baustellencharakter. Weitere Gäste folgen. Die drei Finnen, das werden wir auch nie vergessen.
Eines Nachts, es war schon lange dunkel, tönt ein merkwürdiges Etwas den Deich entlang. Es hallt bis in unser Wohnzimmer. Und so gehen wir an den Deich und sehen noch, wie dort ein schwarzer alter Volvo zum Stehen kommt. Oldtimer, ganz klar. Wir kennen uns nicht aus, sieht aber ein bisschen aus, wie so ein Auto, mit dem diese ganzen Staatsmänner beim zweiten Weltkrieg umhergefahren sind. Kann man das so sagen? Marilyn Manson hat auch mal ein Video mit so einem Auto gedreht.
Einer steigt aus und spricht Englisch: “Hi, ist das richtig hier, Haus Anna Elbe?”
“Ja, stimmt.”, antwortet Tati.
Weitere Personen steigen aus. Gott, wie sehen die aus?, mitten in der Nacht. Der eine ist ein Berserker, alles schwarz, schwarze Kleidung, langes zoddeliges Zeug, schwarze lange Haare und einen schwarzen langen Bart. Der andere ist Trainer. Jogginganzug. Oder der Frontmann von Mando Diao, der, der jetzt nicht mehr dabei ist. Und sie. Sie ist eine Fee. Schwebt dahin, langes blondes Haar, Kleid, zerbrechliche Stimme. Aus Finnland kommen die, wollen in Deutschland ihren alten Volvo verkaufen. Hier bekäme man bessere Preise. Sind auch nur eine Nacht da, danach wollen sie auf den Kiez. Sind ja auch noch ganz junge Leute.
Nachdem wir sie zu ihren Hütten begleitet haben, verschwinden wir wieder im Haus und leben weiter.
Am nächsten Tag verschwinden sie, wie sie gekommen sind. Am Horizont. Die Sonne scheint. Wir wünschen ihnen Glück, dass sie ihren Volvo gut verkauft bekommen.
Abends klingelt das Telefon. Die drei Finnen. Sie kommen zurück. Die Hütten sind anfangs ja auch noch nicht alle ausgebucht.
Am vierten Abend zünde ich ein Feuer hinten im Wald in der Feuerschale an. Die Kinder sind da, Tati und irgendwann setzen sich die Finnen dazu. Die reden wie aus einer anderen Welt. Hab ich noch nie gehört, die Sprache. Wenn die miteinander reden, wenn der Beserker was zu der Fee sagt, das ist so witzig, dass wir das gar nicht glauben können. Die erzählen uns dann, dass sie lieber hier sind als auf dem Kiez, weil es hier viel schöner ist. Das ist natürlich ein ziemlich geiles Kompliment. Am Anfang weiß man ja gar nicht, wie das alles hier ankommt, ob die Gäste diese besondere Atmosphäre hier auch so sehen. Man hat ständig Zweifel.
Am letzten Tag. Der Volvo ist immer noch da. Ich glaube, der geht nicht mehr weg. Wäre auch zu schade. Der passt einfach viel zu gut zu denen.
Nach ein paar Tagen schreiben die eine Bewertung. Ich habe fast geweint, die war so toll und so exakt das, was ich mir wünsche, was die Gäste hier empfinden sollen, das hätte ich nie gedacht.
Und so kommen immer mehr Gäste. Mehr Gäste und mehr Arbeit. Wir freuen uns, aber die Details killen uns. Jeder Gast hat eine andere Perspektive, und so gibt uns jeder Gast ein anderes Feedback. Ich mutiere zum Hausmeister. Hier noch ein Brett, da noch ein Haken, hier noch ein Geländer, dort noch ein paar Regale. Mehr Ablagefläche, ganz wichtig. Wo sollen die Handtücher alle hin? Oh ja, einen Föhn brauchen wir auch noch. Die Tür kratzt am Boden, das Fenster geht nicht richtig zu. Da zieht es noch ein bisschen durch die Balken, dort muss der Abfluss nochmal gereinigt werden. Mach mal den Abfluss von den Duschen sauber. Das willst du nicht wissen. Das ist so unfassbar abartig. Lebenstraum Kloake. Haare verfangen sich in allen Ritzen des Abflusses, alles, was aus einem Körper kommen kann, verfängt sich in den Haaren, Endboss, du musst alles rausholen.
“Schatz!”, ich winsel. “Schatz! Schatzschatzschatz, ich habe Angst!”
Ich glaube, das ist meine erste Panikattacke. Mein Finger steckt in einer kleinen Ritze des Abflusses fest. Ich weiß genau, das ergibt keinen Sinn. Wenn mein Finger da reinkommt, kommt er auch wieder raus. Aber es geht nicht. Ich ziehe und ziehe, es tut immer mehr weh.
“Schatz! Ich habe Angst!”, schreie ich jetzt. Schatz ist nicht da. Vor mir sehe ich mein eigenes Skelett, dass vor der Dusche liegt.
Mein Gehirn sagt mir genau das Richtige. Ruhig bleiben. Aber mein Körper macht das nicht. Er zieht schon wieder.
“Aaargh!”
Es geht nicht, ich komme da einfach nicht raus!
Wieder und wieder und wieder sage ich mir, ruhig bleiben. Erst nach einigen Minuten gelingt es meinem Gehirn, die Ruhe an meine Arme und meinen Finger weiterzugeben.
Dann endlich. Ganz langsam kann ich meinen Finger wieder ein Stückchen herunterdrücken und schließlich herausziehen.
Das sind eine Millionen Kleinigkeiten. Unsere Gäste verzeihen uns eine Millionen mal. Wir sind dafür sehr dankbar. Wir lernen dazu, und so werden nach und nach auch die Kleinigkeiten endlich abgearbeitet.
Irgendwann ist alles für das Erste halbwegs fertig eingerichtet. Ein ganz merkwürdiger Zustand. Aber er beschreibt einen Teil unseres Lebens eben doch ganz gut. Wann ist so ein Projekt, vor allem, so ein altes Haus schon jemals fertig?
Ein Kaninchenbau ist das. Unser Kaninchenbau. Alice in Charlies Schokoladenfabrik im Haus mit einem unaufspürbaren Ausdehnungszauber. Okay.
“Da kann man sich ja richtig verlaufen. Das sieht von außen gar nicht so aus.”, freuen sich viele unserer Gäste.
Ja, unser Haus duckt, ja, es versteckt sich vielleicht auch ein bisschen hinter dem Deich neben dem kleinen Wäldchen. Doch wenn man es betritt, erschließt es sich einem erst genau in dem Moment, wenn man merkt, dass man gar nicht so genau weiß, wo jetzt was ist. Wenn man verwundert ist, dann passiert, was für uns das schönste ist. Wenn Menschen ein bisschen verzaubert sind, ein bisschen ihr Leben vergessen.
Die Wohnungen, da sind Nischen, Alkoven, alte Balken, Höhlen, Winkel, Treppen und Leitern zu anderen Nischen, da sind gewundene Wege durch das Wäldchen, kleine Geheimverstecke, im Januar oder Februar begrüßen Schneeglöckchen zusammen mit den Eichhörnchen den Frühling und unsere Gäste, der Holunderbusch erweckt zum Leben.
Dann geht man auf Wanderschaft und entdeckt hohe Elbwiesen, die golden im Wind wiegen, Wälder aus Kiefern und Dünen und alte Bahntrassen die über endlose Felder und Wiesen führen. Der Kuckuck ruft zum Frühling, im Sommer lässt sich neben Bussard und Turmfalke manchmal sogar ein Seeadler blicken. Nutrias und sogar Biber sind unsere Nachbarn. Und das alles, keine halbe Stunde von Hamburg entfernt.
Im Haus sind überall aus der Zeit gefallene Gegenstände. Spinnräder, alte Uhren, eine Schnippelbohnenmaschine, alte Flaschen, kleine, große, riesige, bunte und schlichte, Tampen hängen von der Decke, Sterne leuchten herab, Krüge und alte Bilder, und dann, wenn man zur Ruhe kommt, blickt man aus dem Fenster über die schöne Elbe und die weiten Felder.
Ganz wichtig: Überall kommen Haken aus den Wänden oder der Decke. Dort hängen dann Lampen, Pfannen, Siebe, Sägen, Schraubenzieher, Pinsel, Dosen mit Gegenständen für den Haushalt drin, Windspiele, Gewürze zum Trocknen oder – ja, auch – Fahrräder und eine Badewanne (eine mobile aus Plastik). Du weißt, du bist im Haus Anna Elbe, wenn Badewannen von der Decke hängen. Der Platz wird ausgenutzt. In jeder Ecke, an jeder Wand sind Regale. Kleine, große, schmale und dünne, oder auch breite. Darauf stehen Krüge, Flaschen, Gewürzdöschen, Lampen, Lautsprecher, Hüte. Ganz viele Hüte. Eins paar Pflanzen, Räuchermännchen, Bücher, Bücher, Bücher. Und ein Segelschiff. Ganz wichtig. Und ganz merkwürdig. Das kleine Segelschiff aus dem kleinen Zimmer meiner Mutter aus dem Bauernhaus meiner Oma in der Rhön. Ein Segelschiff in den Bergen. Ein schönes Bild, für etwas, das es eigentlich nicht gibt. Unser Haus. Das gibt es auch eigentlich so nicht. Dass hier so viel reinpasst. So viel passiert. Aber so ist es nun mal.
An Charlies Schokoladenfabrik denken wir noch oft. Es war der erste Film, den Tati und ich zusammen im Kino geguckt haben. Ein Zeichen?
Ganz im Gegensatz dazu ist unsere eigene Wohnung unten im Haus eher eine Art dunkles Labyrinth, ein vollgestellter Raum der Wünsche, die Kammer des Schreckens. Wir betreten unser Wohnzimmer und stehen vor einer Wand Kisten, die bis unter die Decke reicht. Eine nach der anderen, meterhohe Türme. Darin verborgen – Kissen, Bettwäsche, Winterbezüge, noch mehr Kissen und noch mehr Decken. Direkt daneben: Zwei Fahrräder, die draußen nirgends mehr stehen können. Wäre auch zu schade. Hat man sich da durchgekämpft, landen wir in der Küche, wo sich dutzende 1/1-GN-Konvektomatenbleche stapeln. Die müssen erstmal beiseite, wenn man etwas essen will. Ist nur gar nicht so einfach, denn ein Stapel dieser Bleche wiegt gerne schnell über 20 Kilogramm. Geschirr, Besteck, Schalen, Schüssel, Bretter türmen sich auf der Ablage. Leitern, Leisten und sonstiges Arbeitsgerät liegt mehr schlecht als recht in einer Art System zurechtgelegt auf dem Boden und Toaster, Wasserkocher und sonstiges liegt in der anderen Ecke. Und dann sind da noch zwei gigantische Schränke voll mit Putzmitteln, Handtüchern, Geschirrtüchern, Schlafsäcken und so weiter.
Wir haben kein Lager. Alles liegt bei uns im Wohnzimmer. Und alles Personal, das uns ab und zu beim Putzen hilft, ist mittendrin statt nur dabei. Wenn wir morgens mit den Kindern am Frühstückstisch sitzen, bedient sich zwei Meter weiter unser Personal an Schränken oder Kisten. Wir lieben jeden, der mit uns arbeitet, es bleibt troztdem – keine Privatsphäre mehr. Weder für uns, noch für das Personal.

Die kleine Anna und das kleine Haus*:

Die kleine Anna war sechs Jahre alt, als sie das kleine Haus am Elbdeich entdeckte. Schon immer war sie diesen Weg entlang gegangen, aber an jenem Tag lag der Schnee besonders schön und der kleine unscheinbare Wald beim Haus glänzte besonders hell im Schneelicht der Sonne. Die kleine Anna sah wohl dieses Mal mit anderen Augen.
Vorsichtig ging sie die Stufen des Deichs hinunter zur kleinen Haustür des kleinen Hauses und klopfte daran. Sie musste sich bücken, um unter der Traufe des Daches hindurch zu kommen. Komisch, fragte sie sich, das ist ein wirklich sonderbares Haus, ich bin doch schon so klein und die Tür ist noch viel kleiner.
Als nach einiger Zeit keiner öffnete, drehte sie sich um und wollte wieder gehen. Doch da bemerkte sie ein kleines Licht im kleinen Wäldchen, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Vorsichtig ging sie am Haus entlang und sah weiter hinten im Wald eine kleine Hütte stehen.
Sie traute ihren Augen nicht, als sie sich der Hütte näherte. Denn vor der Hütten standen zwei flauschige Biber, die einen großen schweren Sack in die Hütte trugen. Ganz leise schlich sich die kleine Anna immer näher an die Hütte heran, bis einer der Biber sie entdeckte.
“Hey du, was machst du da?”, rief er und Anna konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Ein Biber, der spricht? Doch ehe sie darüber nachdenken konnte, rannte sie fort.
“Bleib doch!”, rief der Bieber, aber sie rannte und rannte und rannte – bis sie den Deich erreichte und hinaufklettern wollte. Da verlor sie ihr Gleichgewicht und – holterdiepolter – rutschte herunter direkt in die Arme des flauschigen Bibers.
“Keine Angst, meine Kleine, keine Angst. Wir tun dir nichts.”, brummte der Biber.
“…”, Anna bekam kein Wort heraus.
“Wie heißt du?”
“…”
“Lass mich raten. Du heißt Anna!”
“… …”, jetzt bekam sie es erst recht mit der Angst zu tun.
“Komm, ich zeig dir etwas!”
Anna zitterte, doch der Biber nahm sie fest in den Arm, lächelte freundlich und ging mit ihr in den Wald. Hinter der großen, sehr großen Tanne entdeckte sie plötzlich die Hütte, die sie eben gesehen hatte. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine! Der kleine Wald schien auf einmal gar nicht mehr so klein und sie wunderte sich wieder, warum sie das Haus und die kleinen Hütten noch nie gesehen hatte. Überall leuchteten Kerzen in den Bäumen und der Schnee funkelte tausendfach. Aus den Hütten stieg ein duftender Rauch empor.
“Komm herein!”, sagte eine klitzekleine alte Frau, die dick mit mehreren Schichten Wolldecken eingepackt war. “Hier, setz dich und trink einen Tee. Und nimm ein paar Kekse.”
“…”, wieder konnte die kleine Anna keinen Ton von sich geben.
Die kleine hölzerne Hütte stand von oben bis unten voll mit Kiste, Dosen und Gläsern. Überall Regale die merkwürdig schräg an den Wänden befestigt waren. Mitten im Raum stand ein kleiner Tisch, an dem die alte Dame einen Teig nach dem anderen rollte und immer neue Plätzchen ausstach.
Auf jeder der Kisten und Dosen und Gläser stand ein Name geschrieben. Clara, Emily, Jonas, Ben, Henri und noch viele viele mehr.
“Was machen sie denn hier?”, fragte Anna plötzlich und war ganz überrascht, dass ihre Angst ein wenig verflogen schien.
“Tannenzimtkekse, Vierländer Erdbeerpralinen, Winterglöckchensterne, Rosenkugelkuchen …”, die Dame zählte noch lange immer mehr Kekse auf, da entdeckte Anna auch ihren Namen an einer Dose.
“Da steht mein Name!”, rief Anna, sprang auf und rannte zur Dose. Doch bevor sie die Dose greifen konnte, stand auf einmal der flauschige Biber vor ihr. Wie ist er dort so schnell hingekommen?
“Neinneinnein nein! Bitte, das geht nicht. Das kannst du nicht. Das geht so einfach nicht.”
“Was denn? Was geht denn nicht? Ich möchte doch nur meine Dose anschauen!”
Vorsichtig nahm die alte Dame die Hand der kleinen Anna: “Komm, ich möchte dir etwas zeigen!”
Gemeinsam verließen sie die kleine Hütte, gingen durch den kleinen verschneiten Wald zum Haus zurück und den langen Deich hinauf. In der Elbe schwommen dicke Eisplatten den Strom entlang und knirschten fröstelnd über das kalte Wasser. Die Luft war klar und der Horizont war weit.
Am Haus angekommen führte die alte Dame die kleine Anna zu einer Brücke, die über den Deich direkt ins Haus führte. Komisch, das war ihr eben auch nicht aufgefallen.
Sie gingen über die Brücke durch die kleine Tür und durch viele viele kleine dunkle Zimmer im Haus. Nur ein paar kleine flackernde Lichter leuchteten den Weg – es sah fast so aus, als ob Glühwürmchen in kleinen Glaskugeln das Licht spendeten, aber das kann doch nicht sein, oder? – und Anna schmiegte sich eng an die alte Dame. Ein wohliges Gefühl stieg in ihr hoch und sie fühlte sich ganz heimelig.
Sie gingen eine knarzende Treppe herab und standen plötzlich in einem riesigen Raum voller Kerzen und einem großen Feuer in der Mitte. Es knisterte und ihr wurde ganz warm ums Herz. Weiter hinten sah sie eine bunt verzierte Tür und zwei kleine Fenster zwischen den alten dicken Fachwerkbalken, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.
“An Weihnachten kommen die Kinder zu mir und ein jedes bekommt ein paar Plätzchen, je nachdem, wie bedürftig es ist”, erzählte die alte Dame und ging langsam durch die Tür von der Anna so verzaubert war.
Neugierig schweiften ihre Blicke von einer Ecke des Raumes in die andere. Der Raum war so groß, dass sie kaum seine vier Wände sehen konnte. Vor lauter Aufregung vergaß sie ganz die alte Dame und ging zu einer großen schweren Tür. Vorsichtig öffnete sie die Tür und blickte in einen noch größeren, viel viel größeren Raum.
Sie traute ihren Augen nicht. Überall standen Pferde mit großen Wagen – und die Biber wieder, die die Wagen mit großen Säcken beluden. Alles war geschmückt, die Wagen, die Pferde, selbst die Biber – mit Tannenzweigen, Äpfeln, getrockneten Blumen und vielen vielen großen und kleinen Plätzchen. Kerzen leuchteten überall und alles duftete so schön nach Weihnachten.
Heute, dachte sie, ist der Weihnachtsmann die Weihnachtsfrau.
“Deine Zeit kommt erst noch, kleine Anna.” Erschrocken dreht sich Anna um und entdeckte die alte Dame, die auf sie zukam. “Geduld, Geduld. Alles hat seine Zeit.”
“Was, wie, was … was meinst du?”, erwiderte Anna. “Und warum hab ich dich hier noch nie gesehen?”
“Die kleine Anna. Du warst schon immer sehr ungeduldig! Du wolltest immer alles gleich sofort. Die kleine Anna. Wie schön das ist.”
“Und warum weißt du auch, wie ich heiße? Warum wisst ihr alle, wie ich heiße und warum sprechen die Biber überhaupt mit mir?”
“Komm, komm setz dich.”, sagte die alte Dame und ließ sich mit der kleinen Anna an einem Tisch beim offenen Feuer nieder. “Schau, probier den mal!” Sie hielt ihr einen kleinen, hellbraunen Keks mit drei gestanzten Tulpen darauf hin.
“Jajaja, aber warum weißt du denn jetzt, wie ich heiße?”, fragte die kleine Anna immer ungeduldiger und verspeiste ganz hastig den kleinen Keks.
“Und?”, wollte die alte Dame wissen.
“Und was?”
“Der Keks.”
“…”, ?
“Wie schmeckt dir der Keks?
“A. Ach der, lecker. Der ist lecker!”, flüsterte sie und wurde dabei immer müder – und müder und müder.
“Weißt du,” fuhr die alte Dame fort, “das Weihnachtswunder, das Christkind, die bunten Lichter, die leckeren Kekse und deine geliebten Geschwister, deine Mama und dein Papa, das alles ist nur für dich gemacht. All das Gute und all der Segen. Vergiss das nie, mein Kind, sei dankbar im Herzen und du wirst ein glückliches Leben führen. Das wollte ich dir noch sagen, kleine …”, … … …
Blitzartig zuckte die kleine Anna zusammen, öffnete ihre Augen und richtete sich auf. Was war passiert? Wo ist sie hier? Wo sind all die Biber und die alte Dame? Und was ist mit dem Haus, und …
Doch auf einmal wurde sie ganz ruhig und merkte, dass das alles wohl nur ein Traum gewesen war. Ein bisschen traurig zog sie sich an und ging zu ihren Geschwistern und Mama und Papa in die Küche.
Noch ganz müde, taumelte Sie in die Arme ihrer Mama und nuschelte etwas, das niemand verstand.
“Kleine, was sagst du da? Ich verstehe dich nicht.”, fragte die Mama.
“…”, aber die kleine Anna wollte es nicht mehr wiederholen.
“Komm, setz dich. Iss erstmal was.”
Doch die kleine Anna setzte sich nicht. Stattdessen rannte sie plötzlich weg, zog sich schnell Schuhe und Jacke an und verschwand im Schneegestöber. Die Mama rief ihr noch etwas hinterher, aber sie war schneller.
Sie rannte zum Deich, da, wo das Haus stand. Doch da war es nicht mehr. Und der Wald lag da, wie immer, aber von dem Haus mit der alten Dame, den Hütten oder den Bibern gab es keine Spur mehr.
Zurück zu Hause war die Mama ganz außer sich: “Anna, Anna, was ist denn los mit dir? Erzähl mir doch, was du hast!” Aber Anna wollte immer noch nichts erzählen.
Wieder am Küchentisch, aß die kleine Anna widerwillig ihr Müsli. Immer wieder musste sie an das Haus denken, als ihr auf einmal der Atem stockte. Ganz oben auf dem alten Küchenregal sah sie eine alte Dose mit drei Tulpen darauf stehen. Hastig kletterte sie das Regal empor und griff sich diese Dose: “Ha! Da steht ja mein Name drauf!”
Sie öffnete die Dose und wollte wissen, was darin war.
Doch die Dose war leer. Nur ein weißes Blatt Papier war darin. “Pah! Was soll denn das? Wieso ist da nichts drin?”, fragte Anna trotzig.
Da nahm die Mama die Dose und zeigte ihr das leere Blatt Papier. Auf der anderen Seite war ein altes Bild. Und auf dem alten Bild eine alte Dame.
“Das ist deine Oma, kleine Anna.”, flüsterte die Mama. “Und deine Oma, die hieß Anna. Und deine Oma Anna ist der Grund, warum du auch Anna heißt. Du hast sie leider niemals kennenlernen dürfen. Sie ist kurz vor deiner Geburt gestorben. Aber ich habe ihr gesagt, dass sie gut auf uns aufpassen soll. Und sie hat gesagt, dass wir uns alle wiedersehen.”
“…”, da musste Anna ein bisschen weinen.
“Deine Oma wohnte in einem kleinen Haus am Deich. Sie hat dort einen kleinen Krämerladen geführt. Und an Weihnachten hat sie den Kindern selbstgebackene Kekse geschenkt. Doch als sie verstarb, hatten wir niemanden mehr, der sich um das Haus kümmern konnte. Und so wurde es verkauft. Es wurde abgerissen und es wurde ein neues gebaut.”
Und so war die kleine Anna ein ganz klein wenig traurig. Aber auch ein ganz klein wenig glücklich. Denn heute war Weihnachten, und dieses Weihnachtsgeschenk wird sie nie wieder vergessen.

Erinnerungen sind keine fernen oder längst vergangenen Erlebnisse, sie sind Teil von uns, ein Teil von dem, wer wir sind. Wir tragen einander weiter. Und immer weiter, bis ans Ende der Zeit. Und das ist doch das schönste Geschenk.

Fröhliche Weihnachten.
* Eine Geschichte an Weihnachten, ich habe sie aufgeschrieben, weil sie in dem Haus lag, und zu Weihnachten unseren Followern auf Facebook und Instagram erzählt.
Sie haben sich gefreut.

Die Sonne lacht uns aus dem Arsch und ins Gesicht. Das ist so schön, wir sind in Italien – nein, in Altengamme. Der Winter in Norddeutschland, sehr hart. Herbst, Frühling, sehr hart bis hart. Regen, Sturm, Niesel, Wind, Hagel, Nebel, Grau, Regen, Grau, Niesel, Nebel, Grau. Aber der Sommer: La Dolce Vita, Savoir Vivre, Lebenslust pur, gibt es das auf Deutsch? In Norddeutschland nennt man es eben einfach Sonne.
Und die scheint jetzt so schön, als ob man neu geboren wäre. Als ob man das erste mal erkennen würde, wie schön die Bäume mit ihren vielen tollen grünen Blättern in der Sonne erst aussehen. Wie wunderschön die Kontraste der hoch stehenden Sonne an unserer Fachwerkwand herauskommen. Wie die Schmetterlinge sich am Sommerflieder verlustieren und wie man sich an Tagen wie diesen doch jetzt nur zu gut vorstellen könnte, wie es bei Gatsby im Garten wäre. Auf einer dieser großen Feste. Alle schön hergerichtet, nicht so wie heute, alle im Hoodie und Jogginghose da, nein, Gehröcke, Zylinder, Kleider, ausladende Hüte, Flaneure in feinen maßgeschneiderten Anzügen, Goldschmuck und Roben, Smokings, manche mehr an, manche weniger, man trinkt Champagner oder geschüttelt, nicht gerührt, Chin Chin, ach Herrje, was nicht ein bisschen Sonne in einem sonst so unterkühlten Norddeutschen hervorrufen kann. Phantastisch mit P H.
Also sitzen wir so da in unserem Bauerngarten, am Tischchen, vor uns mehrere Flaschen Wein, Rot, Rose, Weiß, alles gemischt, wir trinken alles durch.
Winetasting.
Das muss doch alles hier zusammenpassen. Haus, Wein, Hauswein, wenn die Feiern losgehen, wollen wir uns ja nicht nachsagen lassen, dass alles toll war, nur der Wein ja, nein.
Und so sitzen wir da, an diesem schönen Samstag, und probieren einen Wein nach dem anderen. Herrlich ist das, wir machen uns Kreuzchen und Notizen auf Zetteln, Säure, super, fruchtig, Nachgeschmack nicht optimal, Orangen mit bei, o lala, sparkling, uuuu, schöne Farbe, aaaaah, wie das riecht, der hat Wumms, Charakter, den trinkt nicht jeder, und so weiter und sofort. In Bergedorf gibt es Hamburgs älteste Weinkellerei & Spirituosenmanufaktur Von Have. Guter Laden, bei denen haben wir mal ein bisschen was besorgt und sind angenehm angerauscht.
Das wiederholen wir noch ein paar Mal, bis wir uns für unsere Favoriten entschieden haben. Die probieren wir natürlich noch mit ein paar Freunden aus, und nach ein paar weiteren Wochen haben wir uns für die Weine entschieden.
Bis heute hat sich keine Gesellschaft brüskiert. Die meisten waren glücklich bis sehr glücklich, nur ein Winzerpaar von irgendwo aus dem Süden wollten lieber ihren eigenen Wein trinken. Gott vergelt’s.

“Ah ja, so machen wir das also!”, freut sich Tati.
“Ja, ich denke, das ist besser und auch einfacher. Wenn wir das vorher abführen, bekommen wir nachher keine Probleme.”, die Steuerberaterin sitzt unten mit Tati am Küchentisch und versucht unsere Firmenstrukturen zu vereinfachen. Wir können nicht in die Diele. Oben, vorne, hinten, rechts, links, überall sind unsere Gäste.
Ich – krank oben auf der Hochebene. 1,20 Meter Deckenhöhe. Unser Schlafzimmer. Nein, kein Zimmer. Wir haben kein eigenes Zimmer. Wir haben eine Hochebene. Ist schön und lustig und was besonderes, ja. Aber jetzt bin ich da, krank, und unten ist ein Geschäftsmeeting und niemand soll merken, dass ich da bin.
“Und das können wir jetzt auch mit unserem Programm klären, oder?”, möchte Tati weiter wissen.
“Ja, ja das geht auf jeden Fall. Wir sollten…”
“Ähöö!”, …
“…”
Stille.
“Entschuldigung, ja, wir sollten das von vorne herein gleich mit anlegen. Dann passt die Schnittstelle auch. Jedes Konto bekommt dann eine eigene Nummer…”
“Ähööö.”, wieder. Ich schaffe es einfach nicht, immer meinen Husten lautlos zu unterdrücken.
“Ja … gut, ja, das hört sich doch gut an.”, macht Tati weiter.
“Die Kinder zu Hause?”, möchte die Steuerberaterin wissen.
“Ja, also, das mit den Konten. Das kläre ich dann mit der Bank ab. Das wird auf jeden Fall funktionieren.”
“Ähöö.”
Wie im Film. Ein so eine Komödie, so eine Deutsche Komödie mit Matthias Schweighöfer oder so. Seichtes, lustiges Kino. Da ist die Affäre im Kleiderschrank, wenn der Mann unverhofft früher nach Hause kommt. Haha.
Aber das ist das echte Leben und das zeigt nach ein paar Monaten im neuen Haus auch seine unschöneren Seiten. Kein eigenes Zimmer zu haben, hat doch so manche Gefühle zu Tage geführt, von denen man dachte, sie wäre nicht existent. Kein Rückzugsort. Kein Telefonat in Ruhe. Keine Zweisamkeit. Kein.
Manchmal ziehe ich mich zurück. Dann spiele ich Gitarre oder Klavier. Ich flüchte. Musik ist eine andere Welt. Dann klingelt das Telefon. Oder die Kinder schreiben. Eine Welt mit dünnen Wänden.
Bis heute fragen wir uns, wie wir ein Paar und eine Familie geblieben sind.