Sehr geehrte Eheleute Timmann

Buch: Kapitel 02

Um uns vom Alltag ein wenig abzulenken, engagieren wir uns weiter im Freundeskreis Rieck Haus (Jahre später sollte durch einen Wechsel in der Bergedorfer Museumsleitung der Freundeskreis aufgelöst werden müssen – aber das ist eine andere Geschichte) und laufen sogar beim Erntedankumzug in Vierländer Trachten, die uns die Vierländer Speeldeel zur Verfügung stellt, mit. Heinz-Werner macht uns immer mehr mit der besonderen Kultur der Vier- und Marschlande vertraut, und wir lernen auch neue Freunde kennen. Ich erfahre, dass ganz viele alltägliche Redewendungen von der alten Bauernkultur kommen. Im Rieck Haus, so wie in allen Bauernhäusern auch, hingen früher Schinken und Würste von der Decke. Durch den Rauch des offenen Feuers wurden diese geräuchert, und das dadurch austretende Fett wurde in kleinen Gefäßen auf dem Boden aufgefangen. Auch heute noch können wir also ins Fettnäpfchen treten. Einen Zahn zulegen. Kommt von den alten Feuerstellen, als der Kochtopf noch an einem Kesselhaken hing, der über die Zähne in der Höhe verstellbar war.
Es macht uns glücklich. Denn vor allem ich habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Tati ist aus Bad Essen, einem kleinen Fachwerkörtchen in der Nähe von Osnabrück, und kennt dieses Gefühl. Ich jedoch, obwohl gebürtiger Hamburger, habe mich nie besonders verwurzelt gefühlt, geschweige denn eine Art Heimat. Doch hier in den Vier- und Marschlanden gibt es so viel, das mir Wert erscheint – diese weite Natur, die vielen Bräuche und Sagen, diese ganzen schönen Bauernhöfe und Gärtnereien, Vereine und Traditionen und die Menschen, die ihre Hände benutzen. Handarbeit hat hier keinen merkwürdigen Beigeschmack wie in der City. Wie Gärtner? Tischler, was willst du denn damit? Hier ist das normal. Und so normal sind vielleicht auch die Menschen. Ich stehe auf, wenn die Sonne scheint und ich gehe zu Bett, wenn sie wieder untergeht. So war das jahrhundertelang, überall. Hier ist es zumindest an einigen Stellen noch so. Im Sommer, wenn die Sonne lange scheint, reift das Getreide, und im Herbst wird die Ernte eingeholt. Da gibt es dann keine Freizeit, für Wochen. Kann sich kein Mensch vorstellen. Über Jahrhunderte entwickelte sich durch die eingedeichte Elbe dieses ursprünglich moorige Gebiet, das man auch Dreistromland nennt. Es wird von der Dove-, der Gose- und der Hauptelbe durchzogen und entwickelte sich zu einem der wohlhabendsten ländlichen Regionen in ganz Norddeutschland. Der Absatzmarkt für die Ernte in Hamburg war groß und über den Wasserweg gut zu erreichen; früher gab es auf den Deichen schließlich noch keine befestigten Straßen. Hier stehen noch die meisten und best erhaltenen Bauernhäuser auf kleinem Raum in ganz Deutschland.
Ich ertappe mich immer öfters bei dem Gedanken, ob wir nicht lieber eins der alten Häuser hätten kaufen sollen statt neu zu bauen. Aber das kommt jetzt etwas spät. Ich fahre viel Rennrad, jeden Tag zwölf Kilometer zur Arbeit in die Schanze und zwölf Kilometer zurück. Mal am Deich lang, mal durch das Land und mal über den Marschbahndamm – eine alte Bahnlinie, die früher die Vier- und Marschlande mit Bergedorf und Geesthacht verbunden hat. Ich sehe so viele Häuser, die verfallen und vor sich hinvereinsamen. Es ist eine Trauer und eine Schande. Lost Places ist gerade im Kommen, hier gibt es viel zu sehen.

Eine Vierländer Weihnachtsgeschichte*:

„Die Wege sind weit in den Vierlanden!“, sagte der Weihnachtsmann grummelig zu seinem Rentier, griff nach einem Zündholz und entflammte den Kamin.
Es hat schon seit Wochen geschneit – vom Reet auf dem Dach des alten Hufnerhauses beim Zollenspieker Fährhaus war nichts mehr zu sehen. Der Elbstrom peitschte noch gegen die Hausfesten, bis er eines Nachts Ruhe gab und zufror. Die Eisschollen knirschten aneinander und der Raureif an den Weiden des kleinen Strandwäldchens klirrte bei jedem Windhauch auf’s neue.
„Ich bin alt geworden“, fuhr der Weihnachtsmann fort und erklärte weiter mit tiefer, ruhiger Stimme: „Rentier, mein Liebes, der Winter ist hart und der Schlitten ist alt – genauso alt wie ich. Wie sollen wir noch die ganzen Geschenke in den Vierlanden und in den Marschlanden verteilen?“
Das Rentier guckte traurig in die Flammen und sagte: „Aber was passiert dann mit den vielen Kindern hier im Land?“
„Was soll schon passieren? Es glaubt doch eh keiner mehr an den Weihnachtsmann.“
„Glaubst du?“, das Rentier zögerte ein klein wenig, bis es abrupt fortfuhr: „NEIN! Das stimmt doch nicht. Denk’ nicht so!“
Der Weihnachtsmann murmelte irgendetwas in seinen Rauschebart und erhob sich aus seinem alten Sessel.
Da saß es nun, das kleine Rentier, vorm knisternden Feuer und fragte sich, ob Weihnachten dieses Jahr ausfallen muss.
„Heute ist doch Nikolaus! Weihnachtsmann…“, rief das Rentier dem Weihnachtsmann hinterher.
Doch der Weihnachtsmann reagierte nicht und legte sich lieber in sein weiches Bett – denn es war schon zu später Stunde.
Das Rentier tat es ihm gleich. Bei sich dachte es noch: Vielleicht könnte ich ja den starken Blumenmann fragen. Der kann uns doch bestimmt beim Verteilen der Geschenke helfen.
Am nächsten Tag schienen warme Lichtstrahlen durch die Fenster des alten Hauses, und der Himmel war blau und die Luft klar wie nie. Da klopfte es an der Tür und riss die beiden aus ihren Winterträumen.
Der starke Blumenmann stand vor der Tür, hatte zwei Holzkästen mit Heidekräutern im Arm und stammelte mit gebrochener Stimme: „Stelle dir die Erica vor’s Haus, im Winter, dann beschützen die kleinen Feen aus der Ohe dein Heim.“
Der Weihnachtsmann schaute skeptisch die Heidekräuter und danach den starken Blumenmann in seiner Vierländer Kluft an und dachte sich: Der ist lustig, ich glaube doch nicht Feen!
„Und wie kann ich Ihnen helfen, starker Blumenmann?“, fragte der Weihnachtsmann dann, grummelig wie immer.
Der starke Blumenmann erwiderte und lachte vorsichtig: „Oh, ich kann gut anpacken. Wann soll es denn losgehen? Am 24. wohl?“
„Danke, nein. Sie können nach Hause gehen“, sagte der Weihnachtsmann.
Der starke Blumenmann neigte seinen Kopf und das Rentier stand still.
„Die Heidekräuter nehme ich gerne. Auf wiedersehen.“ Der starke Blumenmann drehte sich um und ging von dannen.
Der Weihnachtsmann schlug die Tür zu und sagte freundlich zum Rentier: „Danke Rentier, das ist lieb gemeint von dir. Aber ich kann nicht mehr.“
Das Rentier war traurig und sprach den Tag nicht mehr mit dem Weihnachtsmann.
Die Tage gingen dahin – bis Weihnachten war es nicht mehr weit. Der Himmel war blau, das Feuer war warm und doch war es nicht wie immer. Und die Tage wurden noch kürzer als sonst.
Eines Tages ging der Weihnachtsmann vor die Tür, um einen Spaziergang zu tun, da lag ein großes Weihnachtsgeschenk vor seiner Tür! Er hob es verwundert auf und fragte sich sogleich, woher der Weihnachtsmann ein Weihnachtsgeschenk bekommen sollte! Er ging sofort mit dem Geschenk wieder ins Haus und rüttelte voll Spannung daran. Es war leicht, aber doch so groß. Wie kann das sein? Irgendetwas raschelte leise.
„Rentier, Rentier, ich habe ein Geschenk bekommen! Das muss ich sofort auspacken!“, sagte der Weihnachtsmann mit leuchtenden Augen zum Rentier.
Das Rentier schaute verwundert den Weihnachtsmann an und sagte: „Das geht aber nicht!“
„Was wieso? Ich bin doch der Weihnachtsmann. Natürlich darf ich das Geschenk aufmachen!“
„Darfst du niiihiiicht! Darfst du nicht!“
„Hmm. Das muss ich mir noch überlegen.“
Der Weihnachtsmann beschloss, erstmal einen Spaziergang zu machen, um darüber nachzudenken. Er schlenderte durch die schneeweißen Weiten der Kirchwerder Wiesen, durch den Wald der Reit und bis zur gefrorenen Dove-Elbe. Er stellte sich auf das Eis, atmete tief ein und beschloss, das Geschenk sofort aufzumachen, wenn er wieder zu Hause ist. Auf dem Rückweg machte er einen Schlenker über den alten Hof Eggers in der Ohe, um den alten, weisen Bauern doch nach seinem Rat zu fragen. Dort flogen ihm zwei Feen um den Kopf und sagten, der weise Herr sei nicht im Hause. Verwundert kehrte der Weihnachtsmann ab und ging nach Hause.
Dort angekommen sagte er sofort: „Ich mach das Geschenk jetzt auf. Wo ist es?“ Das Rentier sagte nur: „Hab’ ich versteeheeeckt! Das bekommst du erst an Weihnachten wieder!“
„Och nööööö“, sagte er und konnte die Spannung und die Freude fast nicht mehr ertragen.
Am 24. dann legte das Rentier das Geschenk auf den großen Tisch im Esszimmer. Der Weihnachtsmann riss es auf vor Freude – doch es war leer! Nur eine kleine Karte war darin. Auf der stand nur geschrieben: „Und DU hast dich so gefreut. Dein Rentier“
Da verstand der Weihnachtsmann und zog los – am gleichen Tag noch, denn es war ja Weihnachten –, den Kindern in den Vierlanden und in den Marschlanden doch ihre Geschenke zu bringen.

* Diese kleine Geschichte hat sich mir in den Kopf gesetzt, als mich dieses Land verzauberte.

Ein Riss in der Matrix

2013. Und so gehen die Jahre ins Land. Viele Schöne Sachen. Auch nicht so schöne. Aber meistens irgendwie Schöne. Die Kinder, das ist ja ganz fantastisch, die lernen ja auch Sachen dazu und so weiter. Und der Job, ist ja auch nicht nur stressig. Macht ja auch Spaß. Der Haushalt, auch. Klar. Aber irgendwann kam dieses eine Gefühl wieder hoch, das wir schon einmal hatten. Dieses gewisse etwas, ein dumpfes Raunen, dass da etwas nicht stimmt. Ein Riss in der Matrix. Wollten Tati und ich nicht einmal was zusammen aufbauen? Was eigenes. Dieses kleine Café, oder so. Jahrelang lebt man vor sich hin. Jahre lang ist ja auch alles gut irgendwie. Doch an einem Tag ist etwas anders.
“Ich glaube, ich guck jetzt einfach mal, was so Häuser kosten.”, murmel ich an einem schönen Samstagmorgen beim Frühstückstisch.
“…”, Tati sagt nichts. Die Kinder interessiert das auch nicht.
“Na ja, wir haben kein Geld, aber ist mir egal. Ich will nur mal gucken. Oder vielleicht quatsche ich auch mal ein paar Freunde an. Ich hab hier so viele verfallene Häuser gesehen, wenn ich zur Arbeit fahre. Da muss man doch was machen. Die sind so cool!”
“Ja, mach doch.”
“Ich meine, es interessiert mich auch, wie es soweit kommen konnte, dass da keiner was gegen macht. Also auch die Besitzer nicht. Ich meine, wie kann es sein, dass die so schöne Häuser einfach verrotten lassen? Was ist die Geschichte dieser Häuser? Und überhaupt das alles hier in den Vier- und Marschlanden. Das ist doch alles so einmalig hier, diese Kultur muss man doch irgendwie erhalten. Und wie, wenn nicht über diese Häuser?”
“Aber was bringt dir das?”
“Ich weiß es nicht. Nichts, wahrscheinlich. Aber irgendwas muss ich mal probieren.”
“Okay.”
Nach einigem Schweigen platzt es aus mir heraus: “Ich weiß was, ich schreib da einen Blog drüber.”
“Was?”
“Einen Blog! Ich meine, ich hab da jetzt schon so viel gesehen. Da kommen bestimmt ein paar geile Sachen oder Geschichten bei raus. Also … und dann schreib ich auch über die Häuser, die wir schon vorher mal gesehen hatten. Weißt du noch, die Mühle und sowas. Das schreib ich da alles rein! Außerdem kann ich über den Blog doch auch dazu aufrufen, dass wir ein Haus suchen.”
“…”, zwei weit aufgerissen Augen starren mich an.
“Warte mal…”
“Nenene! Wie kommst du denn jetzt darauf? Jetzt suchen wir auch schon ein Haus? Hör mal auf! Das ist doch lächerlich!”
“Nein, ich weiß. Ich weiß, das bringt nichts. Aber wenn was kommen sollte … na ja, das müssen wir dann ja auch nicht nehmen. Ach, ich weiß auch nicht. Was soll denn passieren?”
“Ha!”, Tati wird jetzt etwas ungehalten. “Wie auch? Nehmen, das ist gut. Schatz, bitte, wir haben gerade neu gebaut!”
“Jaha, aber wie gesagt, es ist nur so.”
“Ja. Jaja.”
“Erdbeere, komm! Nur so!”
“Jaja. Mach!”

Haus-Blog 01: Da steht ja Timmann drauf

07.03.2010, rückdatiert

Wir stehen am Deich in Altengamme und betrachten eine alte Mühle. Es regnet und ich merke, dass das etwas mit mir macht, diese Mühle, dieses alte Gebäude, ich frage mich, wie es hier mal ausgesehen hat, ich frage mich, wer hier gelebt und gearbeitet hat, und ich frage mich, warum dieser Ort jetzt so verlassen und tot vor mir liegt. Er schweigt, er erzählt mir nichts mehr, und ich frage mich, ob das so sein muss.
“Die verfällt.”, wundere ich mich.
“Was?”, fragt Tati.
“Die Mühle!”
“Was ist damit?”
“Guck doch mal, wie schön die ist.”
“Ja.”
Wir haben gerade erst gebaut. In Fünfhausen in Kirchwerder.
“Da steht ja Timmann drauf!”, flöte ich plötzlich! “Da oben an den Flügeln! Beke & Peter Timmann, 1876.”
Irgendwie freuen wir uns, und ich frage mich, ob man die Mühle nicht kaufen könnte. Und dann frage ich mich, ob ich normal bin – Geld, Zeit, Ahnung? Nein. Da kann ich aber gar nichts gegen tun. Dieser Gedanke ist so dermaßen abwegig, aber sofort überlege ich weiter, wie man vielleicht doch etwas machen könnte.
“Bär komm, lass uns gehen. Es regnet.”, reißt Tati mich aus meinen Träumen.
Es regnet, ja. Dann fahren wir wieder. Zu Hause setze ich mich auf mein Sofa und betrachte Tati. Schön ist das. David liegt noch ruhig in ihrem Bauch, es ist verdammt still. Ihr Bauch ist so dick, dass ich mich frage, ob er mittlerweile eine eigene Schwerkraft ausübt. Ich setze mich neben sie. Und tatsächlich, ich fühle mich angezogen. Meine Hand wandert über ihren Bauch und ich beuge mich über diese gigantische Kugel.
“Blubberwusel, hörst du mich? Wir kaufen vielleicht bald eine Mühle!”, flüstere ich.
“Papa!”, ruft Tati entsetzt.
“Scherz!”
Aber das Thema lässt mich nicht los, und die Fragen werden nicht weniger.

– Viele Jahre später sollte ich erfahren, dass die Mühle ein großer Teil des Lebens unseres zukünftigen Bauernhauses gewesen ist. Dort wurde gebacken, und zwei Mühlsteine vor unserem Haus zeugen von der langen Zusammenarbeit.

Haus-Blog 02: Das Haus unter dem Starkstrommasten

21.02.2012, rückdatiert

Die Zeit vergeht und die Mühle verschwindet in meinen Gedanken wie die Landschaft im Nebel durch den ich fahre. Irgendwo in Reitbrook, irgendwo am Deich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Betreten der Baustelle verboten!, steht da, Eltern haften für ihre Kinder, und so weiter und sofort. Aber da können die Häuser ja auch nichts dafür. Die Schilder auch nicht. Alte große Bauernhäuser oder Villen, die mehr und mehr verfallen. Tiefe Risse brechen sich in das Mauerwerk, Klinkersteine fallen herab und Dächer wie Löcher geben einen kleinen Einblick in die einst wohl prächtigen Bauten. Und so stehen sie da, verloren am Deich, mitten zwischen weiten Feldern und unendlichem Himmel.


Es regnet. Der Herbst, der Winter, manchmal denke ich, ich bräuchte meine Regenkluft überhaupt nicht mehr auszuziehen. Irgendwann fällt mir am Straßenrand ein kleines altes Häuschen auf. Leer, zerfallen, winzig. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen oder zerbrochen und das Mauerwerk könnte einen dieser modernen “Urban-Nature-Awards” für innerstädtische Hauswandbegrünung gewinnen. Stichwort Feuchtigkeit, Wildwuchs, Moos. Wenn Birken auf Häusern wachsen, ist das kein gutes Zeichen. Ich blicke an einem fünftausend Meter hohen Strommasten empor in den grauen Regenhimmel als mir plötzlich ein Regentropfen direkt ins Auge schmettert. Autsch. O Gott, hat das jetzt jemand gesehen? Lächerlich, hier lebt ja kein Mensch. Reitbrook ist der dünnst besiedelte Stadtteil in ganz Hamburg. Ich wische mir den grauen Regen aus dem Auge und höre das leise Surren der Starkstromkabel. Abends mal auf dem Rückweg von der Arbeit werde ich dort hinten bei dem anderen nicht ganz so verfallenen Haus klingeln und fragen, ob jemand den Besitzer dieses Hauses wüsste. Ist ja nicht so meine leichteste Übung, aber ich muss mich eben überwinden.
Ein paar Tage später auf dem Fahrrad nach der Arbeit wieder in Reitbrook ist es dann soweit – alles Schwarz! Die Dunkelheit wiegt schwerer als der Mond, der nicht mal scheint. Und jetzt will ich hier irgendwen nach einem Haus fragen. Aber wann soll ich das sonst machen? Morgens? Geht nicht. Zu früh und Arbeit. Am Wochenende? Geht nicht. Kinder, Garten, Haus, was weiß ich. Also jetzt. Abends, nicht zu spät, aber dunkel. Egal. Schwarz. Egal, wird schon. Ich gehe also zu dem mir schon bekannten nicht ganz so verfallenen Haus. Mir wird etwas mulmig. Da ist Licht in den Fenstern und ich gehe davon aus, dass da jemand ist. Langsam gehe ich den Deich runter und falle voll zu Boden. Regen. Matsch. Deich. Rutschig. Scheiße. Egal, steh auf und mach weiter.
Es ist so dunkel, dass ich nicht einmal die Haustür finde. Ich frage mich, ob ich mit einem Einbrecher verwechselt werden könnte, und ob mich in wenigen Sekunden ein so ein Rottweiler oder wie diese Kampfhunde heißen zerfleischen wird. Doch ich muss da jetzt durch und bewege mich auf eines der erleuchteten Fenster zu. Sofas, ein Tisch, ein paar Bilder mit komischen Pflanzen an der Wand, aber Menschen sehe ich nicht. Krimi. Tatort. Eine zerstückelte Leiche müsste ich ja mindestens finden. Ich klopfe an die Scheibe. Nichts passiert. Ich klopfe wieder. Keine Reaktion. Ich warte und warte. Ich habe Angst. Vielleicht holen sie mich gleich und ich lande in der Klapse.
Kurz bevor ich gehen will, öffnet sich eine Tür und kein Hund kommt mir entgegen. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Es ist ein Mann meines Alters und seine Katze. Sie schnurrt. Der Mann schweigt.
“Öhm…”, mir fällt nichts ein. Das muss ich noch üben.
“Ja?”
“Entschuldigung, ich weiß, es ist schon spät, und dunkel, und, also, naja. Äm, ich meine … Okay. Ich komme zur Sache. Wissen sie vielleicht, wem dieses kleine Haus unter dem Starkstrommasten gehört?”
Nein. Ja. Schwierig. Er redet, nennt Adressen, nennt einen, der einen kennt, aber der ist ein bisschen komisch, außerdem kann er ja jetzt auch nicht und überhaupt und sonstwas. Ich verstehe nur Bahnhof, bedanke mich, gehe wieder und freue mich, dass ich noch am Leben bin.

Haus-Blog 03: Haus Nummer 1

07.08.2012, rückdatiert

“Ein Bauernhaus?”, ruft Thomas entsetzt, nachdem ich ihm unseren Plan erzählt habe.
“Na ja …”, sage ich, was soll ich sagen?, “Ja.”
“Ja nu.”
“Daaaaaaaa!”, schreit David, der irgendetwas entdeckt hat, das kein Bauernhaus ist.
“Was sagst du denn?”, fragt Tati.
“Bäääääääääääh”, plärrt Johanna. Ach ja, die ist mittlerweile auch schon geschlüpft.
“Was sagst du?”, fragt Thomas.
“Was du sagst?
“Bäääääääähähähähähä!”
“Was?”
“Daaaaaa, Papa, daaaa! Guck!”
“Was?”
“Ein Bauernhaus! Was sagst du dazu?”
“Tja.”
“Tja?”
Wir sind in der Bahnhofsgaststätte Fünfhausen und der Besitzer Thomas, der uns ein echter Vertrauter geworden ist, gibt folgendes zu bedenken: Schulden, Privatinsolvenz, körperlicher Verfall, Scheidung, Psychiatrie, nie wieder Urlaub, nie wieder Zeit, nie wieder Leben und so weiter und sofort. Okay. Ich denke, er meint es gut mit uns.
Am nächsten Tag bringe ich David und Johanna in den Kindergarten, als mir auf dem Rückweg ein altes Bauernhaus hinter zwei riesigen Kastanien mit kleiner Scheune auffällt. Sofort halte ich an und stelle mit Schrecken fest, dass das komplette Reetdach auf der einen Seite eingefallen ist. Ich stelle das Auto am Straßenrand ab und gehe auf das mutmaßlich menschenleere Haus zu. Ich streune ein wenig auf dem Grundstück herum und denke, ich komme einfach später noch einmal wieder. Vielleicht sehe ich dann mal einen Menschen.
Die nächsten Wochen fahre ich nach dem Kindergarten immer und immer wieder an diesem Haus vorbei. Doch nie sehe ich da irgendwen. Jedes mal wirkt das Haus ein Stückchen trauriger. Ich stelle mir den Regen vor, der immer regnet, im Herbst und im Winter, im Frühling – und im Sommer. Ich stelle mir vor, wie die Balken immer nasser werden, langsam vergammeln, und irgendwann dem eigenen Druck und den des verbliebenen Reets nicht mehr standhalten und zusammenbrechen. Da liegt es dann, zerfallen, nass und tot. Ich frage mich, wie das sein, und ob da keiner etwas machen kann.


Einige Wochen später sehe ich da endlich wen. Sofort stelle ich mein Auto ab und gehe mit leicht erhöhter Geschwindigkeit zu dem Haus; zu schnell ist verdächtig, zu langsam auch. Doch der Mensch ist wie vom Erdboden verschluckt. Harry? Harry Potter? Vielleicht mit seinem unsichtbar machenden Tarnumhang. Heiligtümer des Todes. Ja, das passt hier ganz gut. Alles tot. Menschen, Häuser, Träume.
Ich gehe weiter, suche hinter der Scheune und gucke durch die eingefallene Mauer in das Haupthaus. Keiner da, und ich erahne ganz plötzlich das frühere Leben in diesem Haus und denke, wie anders das doch alles geworden ist. Menschen und Tiere unter einem Dach, die Bauern mit den Karren, Kinder, die auf Bäume klettern, Katzen, die Mäuse jagen, und im Winter alle Beisammensein, im Kerzenschein, Spinnen, Flechten und singen – alles an einem Ort mit einem Haus an diesem Deich. Ich sehe mich schon in voller Montur mit Hammer und Meißel (oder sonstwas) das Haus sanieren. Alle helfen mit. Meine Freunde, meine Eltern, Tati und die Kinder, genau. Nach kürzester Zeit würde es wie in alten Zeiten erstrahlen und endlich könnte ich einen Blog schreiben, wie toll es ist, ein altes Haus zu haben. Es ist, als ob die Zeit stillsteht. Eine Zwischenwelt, gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart; ohne Zukunft.

– Heute, viele Jahre später, weiß ich, genau dieses Haus ist auf dem ersten Bild zu sehen, das ich jemals auf unserer Facebook Vier- und Marschlande Seite gepostet habe. Damals sah das Dach noch gut aus. Heute liegt die Abrissgenehmigung vor.
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Ich merke, dass mir das Blog-Schreiben gut tut. Es ist ein bisschen, als ob man unserem diffusen Traum nun einen Namen gibt. Am Anfang war das Wort und so weiter. Worte haben Macht und vielleicht reicht das ja, um irgendwie weiterzukommen. Unser Haus-Traum. Total abgedroschen. Jeder träumt doch irgendwie von einem Haus. Job, Kinder, Haus, Baum pflanzen – haben wir ja auch schon irgendwie. Aber darum geht es nicht. Es geht um diese ganz besonderen Häuser. Die, die man nicht mit Geld bemessen kann. Und ob den Blog jemand liest, ist mir eigentlich egal, keine Analyse-Tools installiert. Ich muss mich einfach freischreiben. Denn die ganze Sache zehrt auch an unseren Kräften, und so habe ich ein bisschen den Eindruck, dass, auch wenn wir niemals weiterkommen werden, die ganze Sache nicht komplett umsonst war.
“Mach mal die Glotze aus.”, rufe ich eines Abends unverhofft aus dem Bad.
“Was?”, Tati liest etwas.
“Die Glotze, mach die mal aus!”, ich stürme aus dem Bad.
“Ich guck doch gar nichts, du guckst! Ich les endlich mal wieder was.”
“Ja! Jaja.”
“Was ist denn?”
“Sag mal, ich meine, ehrlich jetzt, geht dir das nicht auch so?”
“Was denn?”
“Ja, ich meine, das nervt doch alles.”
“Was?”
“Ja alles.”
“Hm?”
Ich muss wieder an die Macht der Worte denken. Vielleicht müssen wir einen Schritt weitergehen.
“Ich hab mal so nachgedacht. Vielleicht müssen wir einen Schritt weitergehen. Wir müssen es konkreter machen, diese ganze Hausnummer. Wir eiern doch die ganze Zeit nur rum! Wir wollten doch mal richtig was zusammen aufbauen. Wollen wir nicht mal beim Freundeskreis Rieck Haus fragen, ob wir da ein Café aufbauen können?”
“…”
“Ich meine, das ist doch scheiße, dass es da nichts gibt. Und mittlerweile sind wir da doch ganz gut drin und vielleicht können sie es sich ja vorstellen.”
“Ich denke, du guckst nur so rum mit den Häusern. Wir wollten da doch nie wirklich was mit machen.”
“Ja, nein, keine Ahnung. Aber deswegen fragen wir ja auch im Rieck Haus. Da brauchen wir dann ja auch kein neues altes Haus kaufen!”
“Okay? Also, so voll? Also Vollzeit? Deinen Job aufgeben und so? Aber was ist mit unserem jetzigen Haus? Da müssen wir dann ja richtig einen Businessplan schreiben und so. Also, das können wir ja nicht mal eben so nebenbei machen.”, einen Moment Stille. “Aber eigentlich finde ich die Idee super. Wir können ja mal drüber nachdenken.”
Ein paar Tage später. Alles ist klamm und kalt. Diffuse Lichtstrahlen scheinen durch die feinen Gardinen der kleinen Fenster. Wir sitzen auf der Hühnerbank in der Groot Döns im Rieck Haus. Das ist die gute Stube mit alten Intarsienmöbeln, Truhen, Alkoven und Delfter Fliesen. Wir gehen hier mittlerweile in diesem Museum ein und aus, als ob wir schon immer da gewesen wären. Doch es bleibt diese Ehrfurcht und auch ein bisschen dieser Stolz, dass wir ein Teil von diesem Zauber sein dürfen. Es gibt Kaffee schwarz und ein paar Butterkekse. Reicht. Die betagten Herrschaften, die auch noch im Raum sind, unterhalten sich angeregt und oft auf Platt. Da sind Tati und ich ein bisschen nervös, weil wir das leider immer noch nicht so richtig können. Es ist Vorstandssitzung des Freundeskreis’ Rieck Haus, und wir wollen unseren Plan tatsächlich durchziehen und fragen, ob wir nicht mal ein Café im Rieck Haus aufmachen könnten. Fragen kostet ja schließlich nichts. Und nein sagen, falls sie ja sagen, können wir ja auch immer noch.
Ich beginne: “Öhm, wir hätten da auch noch was.”
“…”, Stille. Alle gucken uns an, als ob wir Außerirdische wären. Oder Städter.
“Also, Folgendes. Es ist ja nun so, dass es ja doch teilweise und gerade im Sommer irgendwie doch oft auch etwas ruhig ist hier. Also ich meine, wenn nicht gerade Erdbeerfest ist oder so was.”
“…”, keine Regung.
“Also, was ich eigentlich sagen will … was sagt ihr dazu, wenn wir hier versuchen würden, ein kleines Café aufzubauen?”
“…”, Stille. Wieder. Die ist so schwer, dass sie uns schier erdrückt. Atmen, immer wieder atmen.
“Also, wir verstehen auch, wenn…”
Auf einmal unterbricht Norbert: “Och, wenn das so ist, dann kannst du ja gleich mein Haus kaufen.”
“…”, Stille. Jetzt auch bei uns.
“Wir ziehen weg. An die Küste. Wir können das hier nicht mehr.”, führt Norbert fort. “Ein entfernt Verwandter hat sich bei uns gemeldet und meint, er hätte noch irgendwelche Ansprüche. Will ein Hotel aufmachen oder sowas. Das ist nichts für mich. Das wird uns alles zu viel. Deswegen wollen wir verkaufen.”
Tati und ich sind komplett weggebeamt, unsere Gehirne funktionieren nicht mehr und unsere Stimmbänder auch nicht. “Ööö.”, ist das einzige, das uns einfällt.
“Also, das kommt jetzt vielleicht ein bisschen schnell, aber ich habe mir das wirklich lange auch mit Kathi überlegt. Die Kinder freuen sich schon auf die Küste.”
“…”, wir sprechen immer noch nicht. Das wäre das erste Haus, das wir wirklich, rein theoretisch, kaufen könnten, was wir ja eigentlich doch gar nicht wirklich wollten, aber jetzt doch so vor uns liegt. Das wunderschöne Fachwerkhaus und ehemals Scheune direkt neben dem Rieck Haus. Wir würden dort ein Café machen, wir würden dann Führungen geben, und wir würden dort sogar wohnen. Wir wären Museumswart und Bauernhausbesitzer. Wir wären – am Ziel. Die Bilder in unseren Köpfen überschlagen sich, doch wir haben ja gar keine Ahnung. Vor allem haben wir bis jetzt noch nie so richtig konkret darüber nachgedacht. Bis jetzt haben wir immer nur rumgesponnen, rumgeguckt oder ein bisschen mit irgendwelchen Leuten geredet. Aber so richtig? Auch mit Finanzen und so? Doch jetzt würde sich eine ganz konkrete Gelegenheit bieten.
“Ihr könnt ja mal drüber nachdenken.”, durchschneidet Norbert unsere Gedanken. “Aber lasst euch nicht zu viel Zeit. Wir wollten das ganze in den nächsten paar Monaten abwickeln.”
Wieder Stille. Dann kommt Heinz-Werner: “Ja, das hört sich doch gut an. Was sagt ihr? Wäre das nicht was für euch?”
“Also…”, was soll ich sagen?, “Ich … wir sind total geplättet. Aber, also, wir wollen…”
“Ich würde sagen, darauf trinken wir erstmal einen.”, unterbricht er. Und so nimmt dieser Tag seinen Lauf, und alle sind gespannt, was darauf vielleicht noch folgen könnte.
Am nächsten Tag – wir haben uns noch nicht einmal wegen gestern ausgetauscht, aber uns ist wohl beiden klar, dass wir das jetzt ausprobieren müssen – machen wir uns ans Werk. Als erstes informieren wir uns, wie das alles überhaupt gehen soll. Wir wälzen Bücher, lesen uns durchs Netz und sprechen mit jedem, der auch nur im entferntesten Sinne etwas mit Gastro, Denkmalschutz, Finanzen und so weiter zu tun hat. Nicht jeder ist ein Fachmann, aber nicht nicht jeder ist noch viel weniger. Denn wir sind gleich null. Und so arbeiten wir uns in den nächsten Wochen und Monaten durch Gutachten, Anträge und Pläne, erstellen erste Konzepte, sprechen mit der Bergedorfer Behörde, die dafür zuständig wäre, und landen schließlich nach vielen Wochen Arbeit bei der Bank. Wir sind so aufgeregt, dass wir uns Klopapier unter die Arme stecken müssten, um nicht so zu schwitzen. Schließlich haben wir viele Wochen Arbeit in den Businessplan gesteckt und viele Jahre diesem diffusen Ziel hinterhergejagt. Dann geht es los und wir werden ins Besprechungszimmer geführt: So und so, wenn so und so, und ah ja, aber wenn das und das, dann dies und jenes und hier und da. Zahlen, Fakten. Tabellen und Texte. Absätze, Konzepte, Unterlagen, Pläne und Träume. Hört sich alles nicht so aufregend an, aber an diesem Gespräch hängt jetzt unser Leben.
“So Herr und Frau Timmann. Da kommen dann ja spannende Zeiten auf sie zu.”, folgert der Herr im grauen Anzug.
“Ja, das ist wohl so. Aber, so ist das dann.”, stammle ich schüchtern, während Tati mich leicht ungläubig aus dem Augenwinkel anguckt. Ich kann das alles gar nicht glauben. Was machen wir hier? Ich bin doch nur ein kleiner Grafiker. Der muss mich nur einmal doof angucken, der Herr im grauen Anzug, und ich sacke in mir zusammen wie ein nasser Sack. Geplatzter Luftballon. Traum. Mein Gott, konzentriere dich!
“Ja, das sieht doch alles soweit ganz vernünftig aus.”, offenbart der andere Herr im grauen Anzug und guckt den Herrn im grauen Anzug an.
Ich denke, sie kommunizieren über ihre Augen. Die machen irgendwas. Man sieht das nicht. Aber die übertragen irgendwelche Gedanken oder so. Oder Morselaserstrahlen. Vielleicht ist auch etwas in ihre grauen Smartanzüge genäht. Ich möchte es zu gerne wissen.
“Wann wollen Sie denn starten?”, wieder der graue Anzug.
“So schnell wie möglich.”, antwortet Tati. “Natürlich wird sich das noch etwas ziehen. Aber wir werden das ganze jetzt mit Nachdruck vorantreiben.”
Uuu, mit Nachdruck vorantreiben. Wo hat sie denn das Beamtendeutsch hier?
Herr im grauen Anzug: “Gut. Sie klären das jetzt mit dem Haus und dann melden sie sich wieder bei uns.”
Ich: “Also, sie können sich das also ganz gut mit uns vorstellen?”
Anderer Herr im grauen Anzug: “Ja. Und wir würden uns sogar darüber freuen.”
Tati: “Ui, wir auch.”
Herr im grauen Anzug: “Ui.”
Anderer Herr im grauen Anzug: “Ui?”
Herr im grauen Anzug: “Ui.”
Ist das schön. Sie befürworten unser Konzept und würden uns gerne finanzieren. Wir schweben, und schweben aus der Bank und zurück nach Hause. Tagelang schweben wir durch unser Leben und unsere Träume. Doch es sollte nichts werden mit unserem Traum.
David und Johanna tollen im Wohnzimmer und veranstalten eine gehörige Kissenschlacht. Lachen, Schreien, Klatschen, die Kissen fliegen gegen Wände und Köpfe. Da klingelt das Telefon und alles, was der Verkäufer des Hauses mir sagt, landet in einer anderen Welt. Da, wo ich nicht bin. In einer anderen Realität. Klopf, Klopf. Ich schrecke auf, Tati klopft mir auf den Kopf und ahnt wohl schon, was los ist.
“Wer war das? Die Bank? Geht es doch nicht?”, fragt sie zögerlich.
“…”, ich starre in Leere.
“Aber die waren doch ganz glücklich damit. Die haben uns doch sogar ermutigt, nicht locker zu lassen!”
“…”
“Schatz!”
“Nein!”
“Was?”
“Das war nicht die Bank…”
“Ja was kann denn da so schlimm sein?”
“…”
“O.”
“Es war Norbert. Er hat irgendwas erzählt, ich weiß nicht mehr genau was, irgendwas mit das geht nicht mehr und so, ja, und das wusste er auch nicht, und von wegen, dass das alles so kompliziert wäre, ich bin ein einfacher Gärtner und hast du nicht gesehen, blabla, keine Ahnung.”
“…”
“Es ist vorbei.”
“…”
“…”, ich wäre gerne wieder ein Kind. Dann hätte ich keine Entscheidungen zu treffen, und das Leben läge vor mir und alle Träume würden wahr. Das würde ich glauben. Ich würde alles glauben und nichts. Ich habe ja noch gar keine Träume. Ich lebe einfach in den Tag. Und das hätte ich jetzt auch gerne wieder. Kinderaugen sehen die Welt mit anderen Augen. Aber das stimmt nicht. Ich sehe die Welt immer noch genau so. Groß. Unendlich. Schön. Wild. Verzaubert. Nur einmal. Und jeden Tag.
Hinfallen, aufstehen, weitermachen. Amen.

Haus-Blog 04: Ein Café im Museumsdorf, und wie das nichts wurde

02.05.2013

Ich dachte schon, es war einmal,
Ein Märchen schön, das würde wahr.
Doch ward es nicht, das Märchen schön,
Ich hab ihm doch schon zugesehn.

Haus-Blog 05: Der blaue Makler

13.09.2013

Ich fahre gedankenverloren den Deich entlang, da springt mir im Augenwinkel ein blaues Etwas entgegen. Ich trete auf die Bremse und komme vor einem alten, verwinkelten Haus und seiner kleinen Scheune zum Stehen. Der Wind pfeift durch die alten Pappeln, die Äste krächzen und knarzen. Zwischen den wuchtigen, tiefnarbigen Baumstämmen raschelt das Reet. Zu verkaufen steht da auf dem Schild, und ich mache sofort ein Bild. Ich gehe ein paar Schritte durch den Wald, da entdecke ich durch die Fenster in einem Teil des Hauses ein Sammelsurium an Skurrilitäten. Türme von Kerzenständern, alten Kisten, Schreibmaschinen, historischen Geräten, Merkwürdiges aus fernen Ländern und weiß der Kuckuck was stapeln sich bis unter die Decke und lassen in mir ein mulmiges Gefühl aufkommen. Ich denke, ich fahre lieber erstmal nach Hause und schaue mir das Angebot des blauen Maklers in Ruhe an.
Im Internet springen mir dutzende Links entgegen, die alle etwas mit dem Haus am Deich zu tun haben wollen. Schnell merke ich, dass das Haus eine lange, traurige Geschichte hinter sich hat. Oft wurde es zwangsversteigert, Schicksale vieler Menschen wurden in dem Haus besiegelt und keinem ist es gelungen, länger als ein paar Jahre in dem Haus zu leben. Ich beschließe trotzdem, den Makler zu kontaktieren.
“Jajaja, das ist noch zu haben. Jaja.”, brummelt er am Telefon.
“Das ist ja schön.”
“Jajaja.”
Vor Ort geht das so weiter – jajaja. Ein älterer bierbäuchiger Mann mit Vollbart. Wir betreten das Haus und ich falle aus allen Wolken.
“Stefan, hast du immer noch nicht genug?” Mein Vater ist dabei.
Tati und die Kinder klettern sofort die lange Treppe bis in den dritten Stock empor. Vor uns türmt sich ein wunderschöner Kachelofen auf, überall Delfter Fliesen, alte, stämmige Holzbalken brechen sich durch die Wände und Intarsienverzierungen verzaubern, wohin man blickt. Das Haus erzählt eine Geschichte. Es ist ein Drama. Deutlich zu erkennen sind die vielen Anläufe der verschiedenen Menschen, die hier ihr Glück versucht haben, doch immer wieder gescheitert sind. Hier ein Raum, der schon verputzt ist. Dort ein Türrahmen, der schon einen ersten Anschein von Wohnlichkeit erweckt und weiter hinten der erste Versuch, das löchrige Reetdach zu stopfen. Das Haus ist derart groß und verwinkelt, dass ich schon nach kürzester Zeit den Weg nach draußen nicht mehr finde. Auf dem Dachboden könnte man einen A380 verstauen und die Kaminzüge sind so groß, dass man glauben könnte, hier befände sich ein Hochofen gleich mit Metallhütte unter der Erde.
“Stefan, das kann doch nicht dein ernst sein!”, stöhnt mein Vater wieder. Doch dann: “Stefan! Hier, guck dir mal die Tür an! Da steht Timmann drauf!”
Ja, das steht da auf einer alten Tür. Ich freue mich, und mein Vater möchte die Tür gerne mitnehmen, aber ich glaube, das geht nicht. Und das Haus, geht auch nicht. Er sieht sofort die ganzen Kosten, die es bräuchte, um hier alles wieder instand zu setzen. Ich sehe nur das Haus, wenn es mal fertig ist. Doch es sollte niemals fertig werden.
Jetzt, acht Jahre später, wurde das Haus abgerissen und drei neue unförmige Einfamilienhäuser mit häßlichen Garagen davor hingebaut. Der Makler tauchte sogar noch einmal in der Zeitung auf – er war ein krimineller Betrüger.

Da steht am Deich ein altes Haus.
Das sieht mir reichlich traurig aus.
Das steht da so und fragt sich schon,
Wann fliegt mir wohl das Dach davon.


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2014. Das geht über Wochen, Monate – Jahre. Dranbleiben. Nachfragen. Mal wieder vorbeischauen. Ja genau, ja, schönes Wetter, ach die Kleinen, die wären so glücklich hier, jajaja. Neuengamme, Altengamme, Kirchwerder, Curslack, hier was gehört, da was gesehen. Alles nicht so einfach. Doch die Suche lässt mich nicht los. Denn mir begegnen immer wieder Häuser, die verfallen, unbelebt sind oder einfach nur schön. Ich fahre mit meinem Fahrrad, zur Arbeit oder sonstwohin, und auf so mancher Tour, schauen sie mich an, und hoffen, dass etwas passiert. Doch es passiert nichts. Mehrmals waren wir sogar noch wegen Finanzierungen einzelner Häuser bei der Bank. Doch jedes mal ist etwas dazwischengekommen. Familienmitglieder, doch mehr Geld, lieber ein Einheimischer, besser nicht die jungen Leute. Ich werde alt.
“Ihr spinnt doch!”, hören wir immer noch aus allen Ecken und Enden. “Ihr habt ja auch zu hohe Ansprüche, das findet ihr nie! Ihr habt doch ein Haus, was wollt ihr denn?”
Doch es geht uns nicht darum, dass wir uns über etwas beschweren. Wir haben ein schönes Haus mit einem kleinen Garten – das ist mehr, als man sich wünschen kann. Es geht uns um etwas anderes. Es geht uns um dieses Gefühl, das ich aus meiner Kindheit kenne, und das mich nie losgelassen hat. Ich habe es nur eine Zeit lang nicht mehr gespürt. Dieses Gefühl von alten Mauern, die etwas erzählen, von Menschen, die zusammen etwas erleben und durchleben, von Natur und Tieren, von Sonnenstrahlen und Regentropfen.
Die Sonne strahlt durch die dünnen Fensterscheiben, ich wache auf. Das Zimmer, goldgelb und wohlig warm von Lichtstrahlen geflutet, flüstert mir zu, dass ich noch ein wenig länger im Bett bleiben sollte. Diese unfassbar dicke und kuschelige Decke, die mich vor der Kälte schützt. Aber ich will nicht mehr, und so springe ich auf und poltere die enge Holztreppe hinunter ins Wohnzimmer und überfalle meine Eltern, die gerade den Kamin mit altem Buchenholz anheizen, mit einem Plan: “Ich ziehe mich jetzt an und dann esse ich schnell was und dann wasche ich mich, ja genau, und dann gehe ich aber auch gleich runter zu Nico, ja?, und dann gehen wir raus in den Garten voll Schnee und spielen die Grashüpfer, ja?, auf der Schaukel, du weißt schon, da gehen wir dann hin, Nico und ich, und da gehen wir doch immer hin, und dann kommt Eva und Michael und Nadja und dann spielen wir Grashüpfer, ja?”
Diesen Moment in diesem alten Bauernhaus meiner Oma in der Rhön in diesem kleinen Zimmer unter dieser dicken Bettdecke werde ich nie vergessen. Es ist dieser Ort meiner Kindheit, den ich in Gedanken immer und immer wieder in meinem Leben besuche, und den ich auch hier und jetzt schaffen möchte. Ich denke, ich schaffe diesen Ort in Hamburg, für uns und meine Oma, dass sie wieder da ist und meine Kinder vielleicht auch ein bisschen diesen Zauber eines besonderen Ortes spüren. Und wir möchten diesen Zauber teilen. Wir möchten das, was wir haben, was wir hier aufbauen wollen, in die Welt tragen, dass jeder kommt, wir wollen mit allen zusammen diesen Ort zum Leben erwecken, und dass jeder wieder ein bisschen träumt und zaubert. Dies ist kein Traum, das wird die Wahrheit. Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Arzt oder Apotheker.

2014. Was in diesem Frühjahr passierte, sprengte unsere Vorstellungskraft.

Haus-Blog 06: Von Piraten und anderen Geschehnissen

03.03.2014

Johannas Fuß versinkt im Elbsand und die Sonne funkelt auf dem Wasser und den zigtausend Sandkörnchen des nassen Strandes. Die ersten Lichtstrahlen kämpfen sich durch die leichtschweren Winterwolken. Das Wasser ist kalt, doch Johanna wollte schon mit den Füßen rein. Kurz. Wir stehen am Elbstrand und können den Sommer schon spüren; der Winter riecht einfach anders als der Sommer. Der Winter schläft. Klar, aber auch in sich gekehrt. Der Sommer lebt, er lebt sich anders, und riecht sich anders, alles wird neu geboren, und die Leichtigkeit kommt zurück.
Johanna will jetzt weiter und wir müssen aufpassen, dass sie sich nicht verkühlt. David rennt schon den Deich rauf. Wir folgen und sehen langsam ein altes, reetgedecktes Hufnerhaus emporragen. Roter Klinker und eine alte Holzbohlenscheune dahinter. Ganz still und ruhig am Deich, der sonst schon so manchen Sturm überstehen musste. Alte Linden zieren den Weg am Haus vorbei bis zum Hinterland. Alles sieht aus, als ob hier gestern noch jemand gearbeitet hätte. Aber da ist keiner. Keine Menschenseele. Der Begriff bekommt hier eine ganz neue Bedeutung. Denn auch die Seele des Hauses scheint verschwunden.
“Papa, was machen wir hier?”, fragt David.
Das frage ich mich auch: “Du willst doch mal ein paar Schafe haben, oder?”
“Jaaaa, o ja! Papa, und dann noch eins und noch eins, und dann will ich noch ganz viele andere Tiere haben, eine Maus und noch eine Maus, und dann will ich auch noch eine Katze haben, und die suchen sich dann, und dann will ich noch ganz viele Tiere mehr haben, Papa, Papapapapa!, und dann will ich mit dir toben, und dann will ich in den Kindergarten, und wann darf ich mich verkleiden?, als Pirat, Papa, ich bin ein Pirat, wann gehen wir jetzt in den Kindergarten?”
Ich weiß nicht, wie ich ihm sagen soll, dass wir unser neu gebautes Haus loswerden wollen, um ein altes Bauernhaus zu kaufen. Ich weiß nicht, ob er es verstehen würde, und ich weiß nicht, ob er das dann immer noch so toll fände. Andererseits fragt ein Pirat ja auch nicht erst nach, ob er vielleicht ein anderes Schiff entern dürfe.
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Da stehen wir nun also: auf der Titelseite der Bergedorfer Zeitung. Mit Bild. Tati und ich und die zwei Kinder auf dem Arm, im Hintergrund irgendein unscharfes Bauernhaus, damit man gleich sieht, was gemeint ist. Wir haben uns nicht weiter zu helfen gewusst und an die Zeitung gewendet. Da steht nicht viel, da steht nur, was wir jedem seit Jahren sagen, was auch überall im Internet und vor allem in unseren Köpfen steht – wir suchen ein altes Bauernhaus, das wir retten und in dem wir vielleicht einen besonderen Ort schaffen können, mit einem Café, mit kleinen Apartments oder so, und mit einer Wohnung für uns und unsere Eltern. Wir möchten ein Mehrgenerationenhaus aufbauen. So, wie es früher immer war in diesen Häusern in dieser Gegend.
Tatsächlich meldet sich nach einigen Tagen ein Makler bei uns. Er hätte da was. Und so sind wir ganz begeistert und betreten kurz darauf das erste Mal das Haus. Das Haus, dass wir erst vor kurzem mit den Kindern am Deich entdeckt hatten. Groß und schön ist es, mit Scheune und ein bisschen Land dabei, wie ein richtiger Bauernhof. Sofort sind da wieder die Bilder in unserem Kopf. Sie tauchen auf, sie blitzen, sie funken und funkeln, Ideen und Ansätze, wie alles in die Realität umgesetzt werden könnte. Wer wohin zieht. Wie der Garten angelegt wird. Welche Ferienwohnung wann wohin kann. Was man alles in der Scheune machen könnte. Hier eine Bühne, dort eine Bar, und da vielleicht der Hofladen.
Ein halbes Jahr und hunderte Stunden Arbeit später haben wir alles, was wir brauchen: einen Käufer für unser jetziges Haus, ein Konzept, Dutzende Bestätigungen und Formulare vom Denkmalschutzamt und zig anderen Ämtern, Angebote von Handwerkern und sonstigen Fachmännern, die Finanzierungsbestätigung von der Bank und vor allem das schöne Gefühl, bald mit unserem Lebenstraum so richtig loslegen zu können. “Wiebke” soll ein Ferienzimmer heißen, das wir machen wollen. Denn die Redakteurin Frau Wiebke Schwirten war es, die uns in die Zeitung gebracht hatte. 2014, du liegst hoffnungsvoll vor uns.

2014, du machst alles kaputt. Ich sitze in der Agentur vor meinem Rechner, da klingelt das Handy. Ich geh ran.
Stille. Frozen. Nichts geht mehr. Alles tot. Ich starre. Ich zittere. Dann will ich schreien, ich will schlagen, ich will morden. Mir wird schwindelig, und ich sacke langsam zusammen. Alles, an was ich jemals geglaubt habe, zerfällt in diesem Moment in seine Einzelteile, Atome, Neuronen. Scheiße.

Gerade hat Tati angerufen und gesagt, dass uns der Besitzer des Hauses eine E-Mail geschickt hat:
“Sehr geehrte Eheleute Timmann, hiermit beende ich unsere Zusammenarbeit und wünsche Ihnen viel Glück auf der Suche nach einem anderen Bauernhaus.”, 28. August 2014

Das Haus, für das wir über ein halbes Jahr alles gegeben hatten, ist nicht mehr unser Haus. Mal wieder. Nicht mehr unser Traum. Es ist unser Albtraum. Gespalten und wieder zwei Millimeter versetzt zusammengeflickt, zerbrochen, die Scherben passen nicht mehr ineinander. Das ist jetzt das dritte Haus in Folge, das wieder nichts geworden ist. Als alles klar war, wurde es uns alles wieder genommen. Wenn man hart arbeitet und Mut hat, an sich glaubt und vielleicht nicht ganz hohl ist in der Birne, kann man alles erreichen. Mit einem Traum oder einer starken Vision ist alles möglich. Vielleicht haben wie dieses eine Mal ja auch etwas Glück. Rosamunde Pilcher. Vorher immer Pech und so, doch dann in der Zeitung, die ganze Family, und am Ende wird doch alles gut. So Groschenroman oder Traumschiff. Das war alles falsch. Ich habe geglaubt, wenn ich nur fest genug daran glaube, kann ich alles erreichen. Das war alles falsch. Ich habe geglaubt, dass sich harte Arbeit rechnet. Die ganzen Stunden, Monate, Jahre, die ich immer dran geblieben war und immer neue Dinge ausprobiert hatte. Das war alles falsch. Am Ende zählt einfach nur Geld. Hier und überall und für alle Zeit der Welt. “Aber ihr müsst doch irgendwann mal umdenken.” Wenn ich tot bin. 2014 liegt hinter uns. Wir haben alles gehabt und wir haben alles verloren.
Ich versuche die nächsten Tage immer wieder den Besitzer zu erreichen. Unmöglich. Morgens, mittags, abends. Jeder geht ran. Nur er nicht. Arbeitet in einer Firma. Ich rufe die Firma an. Keiner geht ran. Ich mähe Rasen. Ich rede mir noch ein, dass das alles ein Witz ist. Ich mähe Rasen. Tati kommt nach Hause, wir fallen uns in die Arme und weinen. Die Sonne scheint, ich mähe Rasen. Dann geht der Besitzer irgendwann ran – die Zeit steht still. Mir wird kalt. So und so, das bringt doch alles nichts, ein Mann in meiner Position hat Informationen, da liegen zwei Millionen in dem Haus, ich solle doch erstmal mein kleines Haus in Fünfhausen abbezahlen, so kann man doch nicht arbeiten. Dann legt er auf. Ich mähe Rasen. Ich mähe Rasen. Ich mähe Rasen.
Wochen später erst merke ich, dass da irgendwas nicht gestimmt haben kann. Über mehrere Ecken, Bekannte und Freundschaften, den Klüngel sozusagen, wie du mir, so ich dir und wo weiter, dürften wohl irgendwie unsere finanziellen Umstände zu Tage gekommen sein. Und das hat dann wohl nicht gereicht. Ich weiß es nicht. Egal. Amen. Es ist vorbei.
Unser Kreditberater, der uns schon lange auf dieser Reise begleitet, konnte es nicht glauben, als wir ihm sagten, dass wir das Geld nicht mehr bräuchten. Er sagte, er habe noch nie jemanden gesehen, der so viel Pech hat. Und das freut mich fast schon. Denn Tati und ich fragen uns schon seit Langem, was wir falsch machen. Denn das war ja nicht das erste Haus, das nicht funktioniert hat. Es war mittlerweile das dritte oder so. Irgendwann werde ich ein Bild ausdrucken mit allen Seiten, die ich jemals für irgendwelche Häuser über die ganzen Jahre geschrieben habe. Mit allen Anrufen, die ich getätigt habe. Mit Gesprächen. Mit Konzepten oder Skizzen. Mit Ideen und Notizen. In Schriftgröße 0,001 und das Bild würde trotzdem in kein Zimmer der Welt reinpassen, so groß müsste es sein. Tausende und Abertausende Seiten würden zusammenkommen und es wird immer schwerer, die verlorene Zeit zu ignorieren, die wir in diese Odyssee, ein Haus zu finden, gesteckt haben. Viele Jahre. Bis jetzt.
Das ist wie Weihnachten. Ich bin ein kleines Kind und freue mich schon das halbe Jahr auf mein Geschenk. Und Kinderjahre sind sehr lang. Dann ist es da, die Bescherung, der Weihnachtsbaum, alles leuchtet, und das Geschenk. Ich will es auspacken, da wird es mir genommen. Ich weine ein halbes Jahrhundert lang. Jahrhundertlang.

Wir sitzen am Tisch in der Küche und starren ins Leere. Alles tot. Der Himmel ist grau, die Bäume sind grau, das Licht ist grau. In der Trauer ist alles ganz leise, und man hat nur noch einen Wunsch – dass es aufhört. Doch es hört nicht auf. Wir sitzen da, Minuten, Stunden, können es nicht fassen und wollen es nicht glauben. Das ist nicht übertrieben. Denn man kann es gar nicht übertreiben. Ein Traum ist niemals übertrieben. Alle sagen, wir sind nicht ganz dicht, alle sagen, dass wir nie etwas finden werden, alle sagen, wir haben zu hohe Ansprüche, alle sagen, tun, wollen. Wir sollen uns nicht ins Unglück stürzen, aber ist es denn Glück, ein Leben lang einem Traum hinterherzuträumen? Alle gucken Filme, wollen Regisseur werden oder sonstwas, Schauspieler, Topmodel, vielleicht noch Autor, aber nur, wenn das mal ein Film wird. Das ist alles toll, aber das ist alles nicht echt. Filme sind ganz toll, und Filme können auch etwas bewegen, ganz bestimmt auch mehr, als ein Haus, aber ich wollte niemals einen Traum sehen, ich wollte einen Traum leben. Ich wollte meinen Traum in meinem Leben, und das will ich immer noch, und das werde ich immer wollen.
Alle sagen, wir finden schon etwas anderes, und ja, wir finden auch etwas anderes, aber nein!, diese eine Chance kommt nie wieder, und dieser einen Chance werden wir sehr lange hinterherweinen. Und nein, das ist nicht übertrieben, denn wir haben daran geglaubt, und das ist mehr als ein Haus, das ist ein Traum, das ist sich sicher fühlen, dass man etwas hat, zum Aufbauen, zum dran glauben, zum Etwas-ganz-Großes-machen, das ist richtig, und jetzt ist es weg. Entschuldigung, wenn ich mich wiederhole.

Unser letzter Blog-Artikel:

Haus-Blog 07*: There’s no magic in this world

17.10.2018, vordatiert, mit diesem Artikel habe ich mich erst Jahre später von diesem Haus verabschiedet, aber das gehört genau hier hin.

Hello, darkness, my old friend
I’ve come to talk with you again
Because a vision softly creeping
Left its seeds while I was sleeping
And the vision that was planted in my brain
Still remains
Within the sound of silence
– Simon and Garfunkel

Dieses traurigste aller traurigen Lieder läuft in dieser einen Szene auf Youtube von dieser einen Serie One Tree Hill. There’s no magic in this world. Immer wieder sehe ich mir diese Szene an. Ich weiß überhaupt nicht, um was es da geht. Englisch. Ist mir aber auch egal. Da sitzt ein Mädchen, das weint, hat wohl irgendwie Liebeskummer oder so, aber dann sagt sie There’s no magic in this world und ich weiß ganz genau, was sie meint. Someone once said that death is not the greatest loss in life. The greatest loss is what dies inside of us while we live. I could tell you who said it, but who the hell really cares. Das steht da noch in den Kommentaren. Ich weiß nicht, wie ich an diese Szene gekommen bin, aber ich gucke sie mir immer und immer wieder an. Und in diesem Moment bin ich der traurigste Mensch dieser Welt. Ich bin nicht krank. Meine Kinder sind nicht krank. Meine Eltern auch nicht. Aber dieser Moment hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.

Das ist meine Geschichte. Und das war mein Haus. Zumindest habe ich das für fast ein Jahr geglaubt. Und das jetzt ist mein Schlusspunkt. Das hier muss ich jetzt tun. Das habe ich mir geschworen. Es ist die Geschichte des Traumes von einem Haus, von einem besonderen Ort in den Vier- und Marschlanden. Und wie das nichts geworden ist. Das ist meine Therapie; wie wenn jemand ein Bild malt, ein Lied schreibt, oder sonstwas macht, um etwas zu verarbeiten.
Die schönste Zeit meines Lebens. Dieses Haus scheint uns sicher. Die Sonne lacht, Musik auf den Straßen und ich habe Urlaub auf Rügen. In Stralsund treffen wir Jimmy Kelly auf der Straße, er spielt Gitarre, und an einer Fischbude höre ich das erste Mal Felix Meyer – Die Corrida. Ich liebe ihn. Die Kinder lachen, Oma und Opa sind da und ich träume und staune, was ich alles mit diesem tollen Haus anfangen könnte. Ich weine vor Freude. Hoffentlich sieht das niemand. Endlich ergibt alles einen Sinn. Die Ideen hören nicht auf, aber ein Bild hatte ich sofort im Kopf: Mein altes Klavier steht in der großen Diele und ich spiele dieses Lied. To Build A Home.
Ich bin zusammengebrochen, ich habe geflucht, ich habe geheult, ich habe geschwiegen und ich habe geweint. Ich muss dieses Haus hinter mir lassen, an das ich seit über fünf Jahren jeden Tag denke. Man munkelt, dass jetzt etwas mit diesem Haus passiert. Das freut mich für das Haus. Aber nicht für mich. Das, was ich jetzt mache in unserem Haus, liebe ich über alles. Aber ich hatte noch so viele Ideen, die nun mal leider auch Platz brauchen. Und den habe ich nun nicht. Aber so ist das Leben eben. Orte sind meine besten Freunde.
Mit einer E‑Mail vom Besitzer, die ich 3 Tage vor dem Hauskauf erhalten habe, bin ich zu einem anderen Menschen geworden. Ein Anruf, und du weißt, wer der Kuchen ist, und wer der Krümel. (Ich möchte hier niemanden kritisieren, das hier tue ich nur für mich; und wer hier was vermutet, hat nichts mit mir zu tun.)
“Sehr geehrte Eheleute Timmann, leider muss ich Ihnen heute mitteilen, dass ich einen Verkauf zum jetzigen Zeitpunkt aus verschiedenen Gründen nicht realisieren kann. … Zahlen sie mal ihr kleines Haus ab … “, was da – warum genau – entschieden wurde, will ich gar nicht wissen. Ich kann es mir denken.
Ich habe geträumt von dieser E‑Mail. Von diesem Haus. Immer wieder. Jahre lang. Es hört nicht auf. Ich habe meinen Glauben verloren. An alles. Alle sagen immer, glaube an dich, dann schaffst du das schon. Aber “There’s no magic in this world” ging mir lange an dunklen Tagen und in noch viel dunkleren Nächten und Wochen und Monaten durch den Kopf. Dies ist das größte Trauma meines Lebens. “Once in a lifetime”. Diese Chance kommt nie wieder. Das ist, was ich denke. Das war mein Lebenstraum.
Ich habe ein dreiviertel Jahr alles für das Haus getan. Anträge, Baupläne, Konzepte, Ideen, Gespräche, Telefonate und so weiter und sofort. Die schriftliche Finanzierungsbestätigung der Bank, alles war da. Jede freie Sekunde habe ich so so lange investiert. Und ich bin ja nicht blöde. Ich wollte mich schriftlich absichern, aber es hieß nur, das ginge nicht. Aber ein “hanseatisches Ehrenwort” sollte ja wohl reichen. Pustekuchen. Das Haus war weg. Ich habe danach über Wochen und Monate und Jahre E-Mails geschrieben, Anrufe gemacht, ich habe gebettelt und ich hätte am Liebsten meine Seele verkauft. Aber die Welt ist nicht so. Die Welt ist kein Film. Es gibt kein Happy End. Das Haus ist weg. Und es bleibt weg.
Im Nachhinein habe ich mich an dem Morgen, an dem es passiert ist, wie von außen gesehen. Ich stehe am Deich. Der Wind weht. Es ist kalt. Ich habe gerade meine Kinder in den Kindergarten gebracht. Und da fährt ein großes Auto, das Auto des Besitzers des Hauses, an mir vorbei. Wir grüßen uns. Alles scheint gut. Doch da war schon alles aus.
Der Vorstand einer Bank sagte, er hätte noch nie jemanden gesehen, der so viel Pech hatte. Denn, und das habe ich ganz vergessen, das war nicht das erste Haus, mit dem wir viel Arbeit hatten und dann doch verarscht wurden. Über fünf Jahre lang haben wir alles versucht. Man fängt dann ja auch an, an sich zu zweifeln. Aber einen Traum, den man seit über 10 Jahren hat, kann man nicht einfach aufgeben.
Das ist, was für mich diese alten Häuser ausmachen. Gar nicht nur das Alter, die Baukunst oder die Geschichte. Es ist viel mehr. Es ist dieses etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Dieses etwas, das nur diese alten Häuser mit sich bringen. Für mich hat jedes dieser alten Häuser eine Seele. Es erzählt mir etwas, wenn ich genau hinhöre. Ich spüre etwas von seinen Menschen, wenn ich es betrachte. Und so ist jedes dieser Häuser ganz einzigartig. Und mit jedem dieser Häuser, das verloren geht, stirbt ein Teil dieses Zaubers. Bis am Ende nur noch quadratische Häuser stehen, mit Menschen, die den ganzen Tag nur auf einen Bildschirm starren und das Leben nennen.
Aber es ist nicht alles schlecht. Denn dank einer einzigen E‑Mail habe ich etwas gelernt. Und das ist das Wichtigste im Leben. Ich bin gesund. Und viel wichtiger – meine Frau und meine Kinder sind gesund. Und ich habe Menschen, die für mich da sind. Das Leben ist so wertvoll. Das habe ich vorher immer für selbstverständlich gehalten. Aber das ist es nicht. Und das ist vielleicht die Moral von der Geschicht’.
Meine Träume leben weiter. Ich möchte noch so viel mit besonderen Orten und besonderen Häusern für besondere Menschen tun. An einem anderen Ort vielleicht. Oder in einem anderen Leben. Denn leider habe ich auch nur begrenzte Möglichkeiten. Aber DIESES Haus lasse ich jetzt hinter mir.

There is a house built out of stone
Wooden floors, walls and window sills
Tables and chairs worn by all of the dust
This is a place where I don’t feel alone
This is a place where I feel at home

‘Cause, I built a home
For you
For me

Until it disappeared
From me
From you

And now, it’s time to leave and turn to dust

Out in the garden where we planted the seeds
There is a tree as old as me
Branches were sewn by the color of green
Ground had arose and passed it’s knees

By the cracks of the skin I climbed to the top
I climbed the tree to see the world
When the gusts came around to blow me down
I held on as tightly as you held onto me
I held on as tightly as you held onto me

And, I built a home
For you
For me

Until it disappeared
From me
From you

And now, it’s time to leave and turn to dust
— The Cinematic Orchestra

* Es gab noch viel mehr Blog-Beiträge und Häuser. Aber das soll für hier genügen.
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Einige Wochen später nach dieser folgenschweren Niederlage geht Tati auf Kur. Ich besuche sie dort auf Rügen. Irgendwann stehe ich abends alleine vor einem Schaufenster in Sellin. So alleine war ich noch nie im Leben. Alles ist dunkel. Aber in diesem kleinen Schaufenster an dieser Straße, die zum Meer führt, leuchten zehn Dutzend Sterne. Und die sind so schön.
Ich schließe meine Augen und weine ganz leise.
Wieder zu Hause treffe ich mich mit Joni. Wir haben uns in der neuen Heimat einmal auf einem Dorffest getroffen. Wir kennen uns eigentlich noch gar nicht so gut. Ich dachte immer, er wäre ein so ein typischer Norddeutscher. Klar, ruhig, wenig Worte. Aber an diesem Abend hat er mich so aufgefangen, wie kaum ein anderer. Ein barmherziger Samariter. Er sagt nicht viel. Aber er sagt, ich soll meinen Glauben nicht verlieren. Ich hoffe.
Das reicht erstmal. Wir sitzen nur da. Aber er ist da. Wir sehen uns viel zu selten. Danke für diesen Abend.
Oktober. Es wird immer dunkler. Das Leben auf den Straßen, das man sonst immer ganz klar hat sehen können, taucht ab in diese andere Welt, die jetzt immer mehr aus Straßenlichtern, Lichtern an Autos oder Lichtern in Häusern besteht. Aber sie geht einfach weiter. Dieser ganz besondere Moment des Übergangs. Eines Abends fällt mir auf, dass jetzt das Licht bei Dämmerung besonders schön ist. Die Blue Hour. Ich werde dann immer ganz ruhig und merke, dass mir so etwas vorher noch nicht aufgefallen ist. Der Rest bleibt grau.
Alles, an was wir geglaubt haben, ist weg.