Unser Buch: Haus an der Elbe

Ja, es ist, wie es ist. Wir schreiben ein Buch. Uns haben wirklich eine Menge Menschen, die von unserer Geschichte gehört haben, gesagt, wir sollten doch mal unsere Geschichte aufschreiben.

Wer uns auf unserem Weg zur Veröffentlichung unseres Buches unterstützen möchte, meldet sich gerne bei uns. Oder auch wer wüsste, welcher Verlag oder welcher Literaturscout interessiert sein könnte 🙂

Ganz unten unter den Bildern hier auf dieser Seite gibt es ein paar Texte aus dem Buch. Und unter folgendem Link gibt es noch ein paar weitere Videos mit Texten: zu unserem Buch »

Tel.: 0176 / 48 33 29 16
E-Mail: info@haus-anna-elbe.de

So könnte es aussehen 😉

So sieht’s aus

Hier sind noch ein paar Eindrücke, was euch im Buch erwartet. Und glaubt uns, es gibt so viel mehr zu sagen, als 1000 Bilder 😉

Die sollen auch gar nicht alle sitzen

“Kein Haus, kein Geld, keine Ahnung. Aber ein Hotel?”, fragt mich die Stimme.

“Ja, so war es. Das mach ich nur ein Mal im Leben! Ich habe doch nur eins. Deswegen geb ich mir jetzt Mühe.”

“Was meinst du?”

“Alles hängt mit allem zusammen. Ich hätte auch sterben können, die Nummer beim Notfallpsychologen, U-Bahn Eppendorf. Danach bin ich nicht weiter in Behandlung gegangen, weil ich sonst keinen Kredit für unseren Traum bekommen hätte! Und das war noch so viele Jahre vorher, da hab ich schon dafür gekämpft.”

“Was war es genau?”

“Ich meine, ich war nicht in der Lage, ein Brötchen zu essen und habe dann doch einen Millionenkredit bekommen. Ich konnte nicht mit fremden Menschen reden und habe mit Leuten gefeiert, die Kaviar zum Frühstück essen, wenn du weißt, was ich meine.”

“Warum?”

“Ich weiß es nicht. Das ist in mir drin, etwas, an das ich glaube. Etwas, das kann man nicht erklären. Das ist einfach so. Seele, keine Ahnung.”

“Wie habt ihr durchgehalten?”

“Ich denke”, ein kurzes Schweigen. “Now I’m into it, and I can’t get out. Das ist wahr, kein Buch, kein Film. Das ist die Realität. Jeder hat einen Traum, der ihn antreibt. Unser Traum steht für jeden Traum.”

“Dann erzähl mal.”

 

Samstagmorgen, es ist acht Uhr dreißig und ich stehe am Deich bei meinen Kindern, die alle schreien, so wie alles schreit in meinem Kopf. Gastro ist Krieg. Die Sonne scheint. Alles duftet nach Feld und Sommer und Leben und Lachen. Doch mir geht es schlecht. Alles dreht sich. Ich zittere und würde gerne wieder in mein Bett gehen. Herz. Es schlägt irgendwie, wie es nicht schlagen sollte. Unrhythmisch. Rumpelartig. Eine E-Mail, die ich heute morgen um sechs von einem Nachbarn gelesen habe, geistert mir noch durch den Sinn und verdoppelt meine Kopfschmerzen. Diese ganzen Hochzeits-, Familien-, Weihnachts- und sonstwas-Feiern, zu laut, zu lang, zu scheiße. Ich habe Angst. So schlimm war es doch gar nicht. Der Bus, der meine Kinder gleich mit zum Zeltlager nimmt, ist schon da. Alle sind schrecklich aufgeregt. Da fängt neben mir eine Mutter an zu weinen. Schließlich sieht sie ihre Tochter gleich für die nächsten zwei Wochen nicht mehr. Ich denke noch – und ich meine das wirklich nicht böse –, ist doch nicht so schlimm, sie hat doch noch fünf andere Kinder, da fange auch ich an, loszuheulen. Oh nein, oh nein, was denken bloß all die anderen Eltern? Der Typ mit der riesigen Sonnenbrille unter dem schwarzen Hut in zerzausten Jogginghosen fängt jetzt auch noch an zu heulen. Was ist da bloß los bei dem? Cut / schwarz.

“Jo Timmann, du Loser, willst du eine Banane? … Wattwurm! Psycho!”, ruft der eine, der hatte so dunkle Haare.

“Öhm…”

Dann singt der auch noch: “Willst du eine Banane?” Ich weiß noch genau, wie die Melodie geht.

“Öhm…”, was soll ich sagen, was soll ich bloß sagen? Meine Kehle wird ganz trocken und ich immer kleiner. Ich bin wieder in der Schule als ich so ein verdammter kleiner Loser war und von allen immer nur fertig gemacht wurde. Ich habe keine Ahnung, wie die auf die ganzen Namen gekommen sind. Warum die gesungen haben und warum überhaupt, ich habe das nie verstanden. Aber irgendwas stimmt nicht mit mir.

“Weißt du, du siehst echt scheiße aus von der Seite. Also vor allem von der Seite. Weißt du, ich bringe dir morgen eine Waffe mit zur Schule, dann kannst du dich ja direkt damit umbringen.”, Andreas hieß der.

Ich weiß nicht, was mit dem heute ist. Der war ganz dünn und weiß. Es war die Hölle für mich. Ich kann mich nicht gut an meine Kindheit erinnern, aber diese eine Szene werde ich nie vergessen. Bildlich, wie der da stand und mir das einfach so gesagt hat. Nicht lustig. Der hat das nicht lustig gesagt. Der hat nicht gelacht. Der hat mir das todernst gesagt. In your face. Bei den Treppen vor diesem einen Schulgebäude. Da war dieses Vordach und dieser Eisenträger. Alles schrecklich häßlich.

War nicht so meine Zeit. Das hallt nach. Nur ein paar Worte. Und doch beeinflussen sie bis heute mein ganzes Leben. Ich hatte mich jahrelang nicht richtig im Spiegel angeguckt, wollte nicht fotografiert werden und hatte nie gelacht. Kann sich kein Mensch vorstellen.

Cut / wieder am Deich. Die Eltern sind auch noch da. Totale Überforderung. Ich gucke nach unten. Boden. Ja, Boden ist gut. Der ist grau und lacht mich nicht aus. Tati, meine wunderbare Frau, steht nur da, abwesend und reglos. Durchsichtig. Aber ich weine eigentlich gar nicht, weil ich nicht damit klarkomme, dass zwei meiner Kinder gleich wegfahren werden. Auch. Ich weine vor allem, weil ich gleich zusammenbreche.

Die Nacht davor, beziehungsweise die zwei Stunden Schlaf davor, vor der Nacht mit den paar Stunden Schlaf. Dazwischen die Tage, an denen ich über zwanzig Stunden am Stück gearbeitet hatte, ohne eine Sekunde Pause gemacht zu haben. Eine Braut. Ein Brautpaar. Und unser Haus. Unser uraltes und erst vor kurzem von uns gekaufte und komplett sanierte Bauernhaus. Das Haus, bei dem gleich fast 120 Menschen ihren schönsten Tag im Leben verbringen möchten.

“Du, 120 Personen sind etwas viele, die können niemals bei uns alle sitzen.”, gab ich beim Kennenlerntermin des Brautpaars bei uns in der Bauerndiele zu bedenken.

“Die sollen auch gar nicht alle sitzen!”, erwiderte der Bräutigam tiefenentspannt.

Okay. Aber wenn es dann losgeht, die Feier – immer alles auf einmal. Wo ist das, wer macht das, wie machen wir das, warum so und nicht so? Ich möchte mich gerne zehnteilen. Geht nicht. Putzkraft, Hausmeister, Barkeeper, Psychologe, Wedding-Planer, Gärtner, Chauffeur, Tontechniker, Sanitäter, heute sind wir alles. Und die drei Kinder, die sind ja auch noch da. Fehlt was? Ja. Mein Gehirn. Egal.

Morgens wachen wir auf, und ich stelle mir den Spiegel vor, wie er bei unserem Anblick zerbirst. Wie diese Detailaufnahmen in Comic-Serien im TV, wenn irgendwer wirklich richtig fertig ist. Ren and Stimpy oder so. Furchtbar. Close-Up. Furchen im Gesicht, grünblaue Ringe um die Augen, unrasiert, Haare kreuz und quer, sabbernd, röchelnd. O Gott, noch ein Tag. Psychisch und physisch voll am Limit. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Ich gucke Tati in die Augen, und es tut mir von Herzen leid, dass es jetzt so ist. Denn so war das nicht geplant. Gastro ist Krieg. Das glaubst du nicht. Niemals. Menschen.

“Minus und Minus ergibt Plus.”, haucht mir Tati in die Ohren, die jetzt oft an ihre Kindheit denken muss, als ihr Vater so früh gestorben ist, und sie ähnlich verzweifelt war, und dass sie jetzt schon älter ist, als er jemals geworden ist, und dass sie das jetzt alles gar nicht mehr richtig verarbeiten kann. Und dass sie sich fragt, ob er stolz auf sie gewesen wäre, und auch darauf, dass sie nach ihrem Burnout beim Studium in Australien wieder aufgerappelt hat. Und ob sie einfach seine aller aller beste Tochter gewesen wäre. Es ist alles so viel.

Streit, Mahnungen, die drei Kinder, die einfach immer was wollen, kein eigenes Schlafzimmer. Unser Wohnzimmer direkt neben dem Saal für die Feiern ist zusätzlich Schlafzimmer, Lagerraum, Büro und Küche für uns und teilweise auch für unsere Feriengäste (dazu später mehr). Unsere Matratzen liegen auf einer Hochebene mit 1,20 Meter Deckenhöhe über dem Esstisch. Meterhohe Türme mit Aufbewahrungskästen neben dem Sofa. Jeder Mitarbeiter muss immer durch unser Wohnzimmer. Nachbarn, Gäste, Schule und Elternabende, Stressstressstress und kein bisschen Privatsphäre mehr, auch nicht im Haus. Ein, wie soll man das sagen?, normaler Tag im Sommer sieht so aus: Wir frühstücken schnell, machen die Kinder fertig und bringen sie zum Kindergarten und in die Schule. Danach putzen wir einige Stunden ein paar Wohnungen, Hütten und Baumzelte. Meist kommen schon die ersten Gäste, die die Diele für eine Hochzeit dekorieren wollen, und es geht ab. Wo sind Steckdosen, habt ihr ein Verlängerungskabel, wie machen wir das mit den kleinen Kindern, können wir den Sektempfang vorziehen und dafür die Mitternachtswurst ausfallen lassen? Ach ja, der DJ kommt gleich, wo kann der teure Whisky hin? Parallel reisen neue Gäste verfrüht an, die sich zwar entschuldigen aber natürlich trotzdem schon in die Wohnungen wollen. Stressstressstress, wir müssen die Kinder wieder abholen. Ich flitze los, komme zurück und treffe Tati, die mir sofort in den Arm fällt und fragt, ob ich sie kurz gegen eine Wand klatschen könnte. Der Raum zieht sich zusammen, Scheuklappen, alles wird eng, kurzatmig, die Gedanken irrlichtern durch die Gegend, sie finden kein Ziel. Doch da kommen schon die weiteren Gäste und kurz danach das Brautpaar. Unsere Serviceleute sind eingewiesen, jetzt müssen wir uns noch schnell umziehen. Einen Tag vorher sind zwei andere Serviceleute ausgefallen und wir müssen selbst an der Bar stehen. Kein Problem, macht ja auch Spaß und so. Aber nachts gegen drei Uhr verlässt einen schon mal die Motivation, Müdigkeit und Schwindel sind deutlich spürbar und man merkt, oh, ich hab seit vier Stunden nichts getrunken (von essen ganz zu schweigen). Also schnell ein paar Gläser Wasser runterkippen und weitermachen. Natürlich werden die Gäste mit steigendem Alkoholkonsum nicht unbedingt ruhiger. Wo war nochmal der Beamer, können wir draußen eigentlich ein Feuer machen, warte mal, ihr wolltet doch auch Sambuca ausschenken. Die Fragen und Wünsche bleiben. Dienstleistung at it’s best. Gegen halb fünf geht Tati rüber und versucht zu schlafen, bumm, bumm, bumm, nur eine dünne Trockenbauwand trennt sie von der Feier. Ich folge um sechs. Sie steht wieder auf und putzt drüben für die nächste Hochzeit, zwei Stunden später kümmere ich mich um die Kinder und steige wenig später ins Putzen mit ein. Der Spiegel ist schon zwanzig Mal zerborsten.

Da ist er nun. Und wir sind mittendrin. Unser Lebenstraum. Wir, Tati und Stefan, zwei Exwerber und ein 300 Jahre altes Bauernhaus in den Vierlanden in Hamburg am Elbdeich. Ein paar Waldhütten mit Baumzelten und jede Menge Arbeit. Eventlocation, Ferienwohnungen, Café, Hofladen und in allem auch noch unser eigenes Zuhause mit unseren drei Kindern.

Manchmal, wenn wir so gar nicht mehr können, packen wir uns, schauen uns tief in die Augen und machen uns bewusst, was wir geschafft haben: 15 Jahre an einen Traum geglaubt. Ein halbes Jahrzehnt das richtige Bauernhaus gesucht. Dabei dutzende Male verarscht worden und menschliche Abgründe erlebt, aus denen man wunderbar den ein oder anderen Psychothriller hätte schreiben können. Zwischendurch unsere drei bezaubernden Kinder bekommen. Dann unser recht neu gebautes Haus verkauft und aus einem verfallenen Schrotthaus und ein bisschen verwüstetem Brachland in weiteren fünf Jahren unsere eigene Wohnung, vier Ferienwohnungen, vier Waldhütten, zwei Baumzelte, eine Eventlocation und ein Hofcafé gemacht. Jahre, in denen ich jeden einzelnen Knochen meines Körpers persönlich sehr gut kennenlernen durfte. Schmerzen, Blut und Wunden. Jahrelang Tonnen an – wie soll man das nennen? – Zeugs, alten Sachen, Krempel, Schrott, Müll und so weiter von einer Ecke in die andere getragen und wieder zurück, weil irgendwie auch in einem Bauernhaus nicht so viel Platz ist, wie man ihn eigentlich bräuchte. Anträge, Handwerker, Denkmalschutz, und der Millionenkredit – eine Summe von der wir nie zu träumen gewagt hätten. Da sitzt man dann vor diesen grauen Herren in der Bank und hofft und hofft und hofft. Und fünf Jahre, in denen wir ein Geschäft aufbauen mussten ohne jegliche Vorahnung. Kein Elternhaus auf dem wir aufbauen konnten, kein Haus geerbt. Wir haben keinerlei Backgroundwissen gehabt. Keiner war in der Gastro oder Hotellerie, kein BWL, VWL oder sonstwas. Schule? Ja, Opfer, Loser, schüchterne Freaks. Furchtbar. Tati hat ihren Vater früh verloren. Keine Eltern, Freunde, Familie, die uns ständig geholfen hätten. Die Kinder schreien. Und, und das kennt natürlich jeder Selbständige, keine Zeit mehr für Freunde, Feste, Wochenenden und so weiter. Für die Gäste nur das Beste. Wir haben das alles ganz alleine aufgebaut. Und dabei sind wir eine Familie geblieben. Ein Wunder. Tati, David, Johanna, unser Schlüsselkind Mathilda und ich.

Manchmal sagen wir uns das, denn manchmal, ist das die einzige Überlebensstrategie. Keiner hat uns geglaubt. Keiner hat an uns geglaubt. Und ich glaube, es hat uns auch keiner zugetraut.

 

Ein Dorf aus Beton

Es war einmal ein kleiner Junge. Der war ganz leise und still. Die Welt war grau, sein Zuhause war eckig und die Straße vor der eisernen Haustür ängstigte ihn. Überall Maschinen. Auf der einen Seite große stinkende, auf der anderen Seite kleine und viel lautere. Maschinen mit Rädern, Motoren und Auspuffen. Gegenüber war eine eckige Schule mit vielen und noch vielen mehr Kindern und Lehrern und Menschen, vor denen er irgendwie immer Angst hatte. Er wünschte, er wäre unsichtbar. Unauffällig, nicht vorhanden. Denn nicht immer, aber so doch manchmal, und zwar viel zu oft, wurde er von den Bösen bedroht, beschimpft und auch geschlagen, als er auf dem Nachhauseweg von der anderen eckigen Schule war, auf die er später einmal gehen sollte. Einmal, da tickte ihn etwas an, er drehte sich um, und dann war es ganz schwarz und bunt und aus. Ein sehr starker Halbstarker hatte mit aller Kraft und seiner ganzen Faust in sein Auge geschlagen. So einfach aus dem Nichts. Ich hab ihm doch gar nichts getan, dachte der kleine Junge noch, jetzt läuft mein Auge aus. Das hat er genau gespürt. Doch irgendwie konnte er sich nach Hause tasten und stellte ein wenig später mit unterschwelliger Freude fest, dass sein Auge noch drin war. Die Schmerzen und der Bluterguss über das halbe Gesicht begleiteten ihn noch viele Wochen.

Nur weiter hinten, hinter all dem, was eckig war, bückten sich etwas abseits hinter Hecken und Büschen Häuser, die ein Dach hatten. Ein spitzes Dach mit Dachziegeln, kleinen Fenstern und manchmal sogar Gauben. Die hatten Schornsteine und manchmal kam da Rauch raus. Mein Gott, war das schön.

Erst viel später sollte der kleine Junge, der da schon gar nicht mehr klein war, feststellen, was Nachbarn aus Menschen sind – nicht Maschinen.

Doch da standen zwei Eichen vor seinem Zimmer. Zwei Bäume direkt vor dem Haus, die er, so oft es ging, beobachtete. Sie waren seine Rettung. Warum wusste er nicht. Er wusste es einfach.

Einmal, da war Winter, der kleine Junge hatte gerade eine fünf in Mathe nach Hause gebracht, und am nächsten Tag musste er eine Französischarbeit schreiben, fing es an zu schneien. Er hat ganz genau geschaut, wie die Schneeflocken auf den Ästen der Eichen landeten. Die waren aber nicht lange da. Die schmolzen ganz schnell wieder. Es war zwei Grad.

Zuhause war ein Gefühl, das er nie ganz zu deuten vermochte. Seine Welt war in seinen Gedanken, aber seine Gedanken waren woanders. Städte in fernen Zeiten, oder Hummeln und Bienen und viele andere klitzekleine Tiere tummelten sich auf vielen Blättern Papier, die in seine Welt abtauchten. Mama hat ihn nach dem Waschen immer mit warmer Luft angepustet. Das war schön, dachte er. Und Papa war manchmal ein bisschen komisch. Verwirrt, orientierungslos. Manchmal war Papa ganz ruhig, aber manchmal hat er so Sachen gesagt und Mama und der kleine Junge wussten gar nicht so richtig, was sie machen sollten. Irgendwann hat das aufgehört und Mama und der kleine Junge waren sehr glücklich darüber.

Als der kleine Junge von der einen eckigen Schule auf die andere eckige kam, wurde er noch stiller. Seine erste Schule fand er noch ganz in Ordnung. Einmal, da ist er beim Spielen mit seinem Fuß umgeknickt und konnte vor Schmerzen nicht mehr gehen. Er hat sich nicht getraut, den Lehrern Bescheid zu geben. Bis heute hat er Probleme mit seinem Fuß. Aber die Kinder mochte er, manchmal hat er sogar andere geärgert. So stark hat er sich da manchmal noch gefühlt. Und das tut ihm auch bis heute Leid, das mit dem Ärgern. Aber die Kinder auf der zweiten Schule mochte er nicht mehr so sehr. Er glaubt, sie mochten ihn nicht. Und er wusste gar nicht warum. Sie ärgerten ihn. Sie riefen Namen nach ihm. Von Tieren oder von Obst. Sie lachten ihn aus. Und sie stießen ihn in einen Dornenbusch. Einmal, da hat ihm einer gesagt, er bringt ihm so eine Schießpistole mit. Er wolle den kleinen Jungen nicht mehr sehen. So hat der das gesagt. Ich habe das nicht verstanden, dachte er. Aber es hat ihn gar nicht traurig gemacht. Ihm war nur kalt. Denn er kannte das irgendwie gar nicht anders, dachte er. Er wusste auch nicht, was er machen sollte. Er hat das Mama und Papa auch nicht erzählt.

Betondorf. Ein Dorf aus Beton. Mit Ginster hat das nichts zu tun. Ein Leben in Beton.

Nur die Ferien waren schön. Denn da war die ganze Familie an einem fernen Ort. Ein Ort, an dem Berge waren, Bäume und Wälder, Bäche, in denen das Wasser rauschte, Häuser mit spitzen Dächern und Dachziegeln. Überhaupt nur spitze Dächer. Und überall Bäume. Hausbäume, nennt man die. Aber das sollte er erst viel später erfahren. Dass die Menschen früher an diesem fernen Ort und auch noch an vielen anderen Orten, auch an Orten, die gar nicht so weit weg waren von seinem eckigen Dorf, einen Baum an ein Haus mit einem spitzen Dach gepflanzt hatten. Einen Hausbaum. Als Schutz, als Schutz vor den Blitzen, oder einfach, weil es schön aussieht. Eine Linde musste es sein, oder eine Eiche – vielleicht so eine wie vor seinem Zimmer, denn da stand ja immerhin eine, und sogar noch eine – ein Birnbaum und manchmal auch andere Bäume. Aber bei Linden und Eichen wachsen die Wurzeln schön nach unten und machen das Haus nicht kaputt. Die Bäume, die Häuser, die Bäche und all das. So schön war das.

 

“Ich mach euch fertig! Ich mach euch jetzt kaputt!”, schreit der DJ gegen vier Uhr den 120 Gästen durch das Mikrophon entgegen. Meine Ohren. Die sind kaputt. Die meiner Kollegen an der Bar auch. Laut ist das.

“Ein Caipi! Zwei Wasser und … ö … zwei Skinny Bitch!”, schwurbelt mich ein Gast an. Ich verstehe ihn kaum. Ich kann mir nichts merken. Aber ich fange schon mal an. Zwei Wasser, geht klar. Helene Fischer läuft. Warte mal, eben lief doch noch Dune von Oblast. Eher was für den Wagenbau statt für diese Hochzeit. Aber der DJ rockt, das muss man ihm lassen. Jetzt der Klassiker vom Albers Eck auf dem Kiez: Summer of 69. Ich weiß nicht, wie der das macht, aber der Whisky für 240 Euro, den der DJ unbedingt haben wollte, erscheint mir jetzt in einem anderen Licht. Er ist jeden Cent wert. Denn völlig egal was der DJ spielt, die Gesellschaft tanzt auf den Tischen und scheint vergessen zu haben, dass das hier eine Hochzeit ist.

“Läuft…”, sage ich zu Tati und bin verdammt froh, dass sie da ist.

Plötzlich betritt ein Gast, der vorher im Garten war, die Diele und mischt sich unter die Menge.

Ich kann meinen Augen nicht trauen: “Hier, Alter, hast du den gesehen?”

Tati blickt ratlos in der Gegend umher.

“Da hinten!”

“Wo?”

“Da!”

“Der mit dem bunten Hemd?”

“Ja!”

“Wer ist das?”

“Oooooh, dein Ernst?”

Da steht tatsächlich der Frontmann einer in Deutschland sehr bekannten Band. Tati kennt sich nicht so aus mit Musik. Außer die Kelly Family, besonders hervorzuheben sind hierbei Angelo und Michael Patrick Kelly, obwohl sie gar nicht mehr zusammen Musik machen. Ich kenne mich ein bisschen besser aus mit Musik. Man soll ja nun jeden Gast gleich behandeln, aber dieser Gast / Frontmann übersteigt nun doch unseren Horizont, und wir werden nur noch unruhiger.

Ich kippe gegen den Kühlschrank. Mein Gott, ist mir schwindelig. Vier Uhr fünfundvierzig. Ich muss was trinken und kippe mir ein paar Gläser Wasser rein. Warum guckt der Typ an der Bar mich so schräg an? Besoffen. Ist der. Scheiße, seine Skinny Bitch und was weiß ich, was der noch wollte.

“Was war das nochmal?”, frage ich ihn.

“Ssswei Caipi, n Skinny Bitch … ööö und …”, er kann nicht mehr, dreht sich weg und geht. Gut.

Dann kommt die Braut: “Ffffkrra diiiiieecc ssscccchmaucccch …”

“Hi, na, wie geht’s dir? Alles gut bei euch? Kann ich noch was Gutes für euch tun?”, erwidere ich.

“Ffffkrra diiiiieecc ssscccchmaucccch …”

“…”, ich verstehe kein Wort.

“Ffkra diiiecc sschmauccch …”

“Sorry, ich verstehe dich leider nicht!”

Dann kommt Sie hinter die Bar, quetscht die anderen beiseite und nimmt mich in den Arm. Ich glaube, sie ist glücklich.

Dass unser Traum so groß wird, wie er jetzt ist, hatten wir eigentlich gar nicht geplant. Aber jetzt ist er da. Und wir wissen, dass es etwas ganz Besonderes ist, dieses Haus, dieser Ort, und dass wir für Menschen nicht einfach irgendeine Eventlocation oder ein Hotel sind, sondern ein Ort, der diesen Menschen, unseren Gästen, die vielleicht schönste Zeit ihres Lebens bereitet – eine Liebe, die ewig hält, eine einfache Tasse Kaffee oder eine schöne Zeit mit Freunden oder der Familie. Das ist nicht unser Job. Das ist Magic.

 

Rügen, ein paar Wochen später. Urlaub. Ein paar Tage raus. Anruf auf Tatis Mailbox. Sie ruft es nicht ab.

“Neeee, das war Mark von der Hochzeit mit den 120 Gästen! Der hat uns auf die Mailbox gequatscht! O ne, ich will das nicht hören!”, ruft Tati, als wir gerade so richtig schön am Strand in unser Lieblingscafé einkehren wollen. “Ne, ne, ne! Nachher versaut der uns noch den ganzen Urlaub. Vielleicht will der nicht zahlen, weil er alles so scheiße fand. Oder, – oderoder, der will nur die Hälfte zahlen. Oder noch schlimmer!”

“Hm”, ich versuche erstmal ruhig zu bleiben. “Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.”

“Doch bestimmt!”

“Nein.”

“Ich hör das nicht ab!”

“Komm!”

“Ne.”

“Das versaut uns doch jetzt den ganzen Urlaub!”

“Ne.”

“…”