Endlich ein Lebenszeichen

Lange waren wir weg. Jetzt sind wir wieder da und werden immer mal ein bisschen was über unser Buch erzählen. Hier sind wir in Vierländer Tracht. Wir suchen für unser Buch noch einen Verlag oder einen Agenten 🙂

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Unser erstes Erdbeerfest

Rückblende: “Hier muss es sein!”, rufe ich.

“Wo?”, fragt Tati.

“Ja hier irgendwo, das stimmt doch, Curslacker Deich 228, das kommt da doch gleich!”

“Ja!”

“Siehst du!”

“Ist dein Vater noch hinter uns?”

“Was?”

“Dein Vater, ist der noch hinter uns?”

“Ja!”

“Park doch jetzt einfach hier! Den Rest gehen wir dann. Nachher kriegen wir da keinen Parkplatz mehr oder so.”

“Ach.”

“Doch!”

“Ja.”

Erdbeerfest im Rieck Haus 2000irgendwas, damals hatten wir noch keine Ahnung von diesem Bauernhaus, geschweige denn von dieser Region. Wir begannen gerade erst mit den Planungen für unser eigenes Haus in Fünfhausen.

Die Autokarawane vor uns kommt zum Stehen, und ich frage mich, wie binnen weniger Sekunden die Dorfidylle in innerstädtische Staustopfhektik umschwenken kann. Schnell fahre ich an den Deichrand – dabei stürze ich mein Auto fast denselbigen hinunter – und betrachte das rege Treiben.

“Hier soll das Erdbeerfest sein?”, frage ich.

“Ja hier wohl nicht. Das Rieck Haus kommt aber gleich.”

“Ja!”

“Wo sind deine Eltern?”

Ich weiß es nicht. Und ich kann nicht glauben, was hier los ist. Unser erstes Erdbeerfest. Unser erstes Mal Rieck Haus.

Als sich wenig später vor mir dieses ehrfurchtsvolle, alte Bauernhaus auftut, bin ich fassungslos. Sofort bin ich in einer anderen Welt und von der Idylle des Freilichtmuseums geplättet. Die alte Bockmühle im Zentrum, die Scheune, der bunte Bauerngarten und der Heubarg verzaubern mich augenblicklich. Und die Stockrosen. Diese wunderschönen Stockrosen, die mir auf ganz besondere Weise zeigen, dass hier ein ganz besonderer Ort ist. Ein Stückchen schöne heile Welt. Überall alte Gewerke mit Schmieden, Tischlern, Reetdeckern, Korbbindern, Stände mit Erdbeerkuchen, Erdbeerbowle oder Erdbeerirgendwas.

Ich schaue Tati an, ihre Augen strahlen auch. Doch sie guckt nicht die Häuser, die Stände oder die weiten Felder an, ihr Blick klebt an einer buntroten wunderschönen Dame – der Erdbeerkönigin. Alice im Wunderland. Das Rieck Haus, der Kaninchenbau. Wahnsinn.

“Purzel!, das will ich auch mal sein!”, platzt aus ihr heraus. Purzel, mein alter Spitzname.

“Klar!”, was soll ich sagen?

Meine Eltern sind schließlich angekommen und können sich dem Zauber auch nur schwer entziehen. Eben noch habe ich mich gewundert, wie in dieser Dorfidylle eine derartige Hektik ausbrechen kann, jetzt kann ich nicht glauben, dass ich im 21. Jahrhundert lebe. Überall werkeln, schnitzen oder spinnen Menschen in Kluften, Kostümen und Trachten herum, Musik erklingt aus alten Instrumenten und Trachtengruppen schwingen auf der Bühne das Tanzbein.

Der erste Auftritt von Ernst, den wir hier das erste Mal gesehen hatten: “Dat is mi nu jüst infullen un ik will jü dat mol eben vertellen. Manch een kennt dat villich ook noch vun freuher ut de Veerlanner Garnereen.”

Ernst schnackt Platt. Wir verstehen kein Wort (das hat sich im Laufe der Jahre zum Glück etwas geändert). Irgendwann redet er hochdeutsch und wir verstehen ein bisschen. Schön ist das. Er stellt die einzelnen Trachtengruppen, Gewerke und das Rieck Haus vor und hat immer einen lustigen Spruch auf den Lippen.

Natürlich probieren wir irgendwann auch Erdbeerkuchen‑, bowle oder andere Gerichte mit der Sammelnussfrucht (das ist die Erdbeere nämlich, hab ich mittlerweile auch gelernt), aber dieses majestätische Rieck Haus an sich bleibt mir seit dem Erdbeerfest am meisten im Kopf. Die Grot Döns mit hunderten Delfter Fliesen, die Lütt Döns, der lange Stall mit den ganzen Gerätschaften und all die anderen Räumlichkeiten des Rieck Hauses lassen mich tief in eine Zeit eintauchen, die der heutigen so fremd scheint und doch so fasziniert. Von 1533 ist der erste Eichenbalken des Rieck Hauses, das kann man sich ja kaum vorstellen. An diesen zwei Tagen haben wir die Welt wieder aus den Augen von Kindern gesehen.

Jedes Jahr wieder sind wir da, und Tati ist tatsächlich irgendwann Erdbeerkönigin geworden.

 

Weltniveau aus Vierlanden mit Bindehautentzündung

2012, Johanna, unser zweites Kind wird geboren. Sie ist ganz anders als David. Selbstsicher, laut, wild. Einmal waren wir auf Rügen am Strand. Sie war zwei oder so, und ist einfach abgehauen. Wir haben sie dann im Foyer eines Luxushotels wieder eingesammelt. Ob uns das etwas sagen sollte? Wir lieben sie und sind unendlich dankbar.

Mittlerweile habe ich die Agentur gewechselt und arbeite deutlich mehr. Der Chef meiner vorherigen Agentur hat sich von einem Tag auf den anderen entschieden, einfach nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Und so brachen nach und nach die Kunden weg und irgendwann auch ich. Die neue Agentur, höher, schneller, weiter. Schon ein bisschen mehr so Weltniveau. Nicht Jung von Matt, gut, aber Kampagnen für Banken, große Bäckereiketten oder Autos im Luxussegment waren schon drin. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für ein Privatleben. Und das Leben von Tati war auch nur noch Haushalt und Kinder und Haushalt und Kinder. Und Werbung. Denn halbtags ist sie ja auch noch in ihrer Agentur tätig.

“Ja, ich weiß auch nicht. Der Pitch zieht sich echt! Ist aber auch alles nicht so einfach gerade!”, höre ich mich oft stöhnen. Zehn Uhr nachts.

“Was ist denn das Problem genau?”, will Tati wissen.

“Die Stage! Die kommt einfach noch nicht so!”

“Was meinst du?”

“Die sieht einfach scheiße aus! Da fällt mir auch nichts ein. Und da arbeiten wir jetzt mit vier Grafikern dran. Voll Battle und so.”

“Okay.”

“Wie war dein Tag?”

“Haha.”

“Haha. Jaja. Aber sag mal.”

“Mamamamama, Hunga, Mamamama, wo Papapapa. Kochen, Kacken, krank. Sorry. Ich musste mit Johanna zum Arzt, weil sie irgendwelchen Schleim im Auge hat und danach kam gleich der Typ für die Lüftungsanlage. Heute gibt es Nudeln mit Ketchup.”

“…”

“Ja geht nicht anders. Habe das Einkaufen nicht mehr geschafft!”

“Jaja, kein Problem.”

Das ging ständig so. Kinder, Arbeit, Kinder, Arbeit.

Nächster Morgen: “Schatz! Ich muss los!”, schreie ich aus dem Kinderzimmer.

“Ja, denn geh!”, schreit Tati aus der Küche.

“Aber David!”

“Was denn?”

“Der hat doch Bindehautentzündung!”

“Scheiße!”

“Der will das Zeug nicht in die Augen!”

“Jaaaa!”

“Ich muss zur Arbeit!”

“Whuaaaaaa haaaa hahahahaaa!”, David meldet sich auch zu Wort und schreit.

“Schatz, komm hoch!”, rufe ich wieder.

“Ich kann nicht!”

“Warum?”

“Whuaaha haha haaaa. Whuaaa!”

“Johanna hat gerade den ganzen Brei im Haus verteilt!”

“Ist doch egal! Komm hoch!”

“Nein!”

“Whuaaaaaa haaaa hahahahaaa!”

Ich nehme Davids Arme, halte sie mit einer Hand fest, lege ihn in sein Bett und versuche mit der anderen seine Augen mit den Tropfen zu treffen, whuaaa, whuaaa, haaaaahaa, unmöglich, er zappelt, presst die Augen zu, dann wieder auf, ich mache den nächsten Versuch, whuaaa, whuahaha, wieder daneben, zu, auf, Tropfen, zu, auf, Tropfen, whuuuaaaahahah, zuauftropfenunmöglich! Ich sehe schon meinen Chef, der mich anmacht, weil ihn meine Probleme nicht interessieren und ich gefälligst pünktlich zu kommen habe. Scheißegalwasmitdeinenkindernist! Ich schwitze. O Gott, o Gott, das kann doch alles nicht wahr sein.