Lebenstraum: Multifunktionstool

Buch: Kapitel 07

Rügen, Urlaub, Tati will immer noch nicht die Mailbox mit der Nachricht unserer letzten Hochzeitsfeier abhören. Die sollen auch gar nicht alle sitzen, hallt mir noch durch den Kopf.
Aber ich lasse nicht locker: “Komm, wir müssen es irgendwann machen. Und den ganzen Urlaub abwarten, ist doch auch Scheiße. Nachher ist da doch was wichtiges drauf oder eine Nachfrage oder so.”
“Ich weiß, ich weiß, ich will aber nicht!”, murmelt Tati vor sich hin. “Ich will nicht.”
“Gib her!”, ich versuche das Telefon zu greifen.
Sie zieht es wieder weg: “Du weißt doch nicht mal, wie man die Mailbox abhört!”
“Ey!”
“Ach komm! Ich mach’s ja!”
Minuten lang, gefühlt Stunden, presst sich ihr Telefon ans Ohr und macht keinen Mux. Ab und zu verdreht sie die Augen, manchmal schmunzelt sie oder reißt die Augen auf. Ich kann es nicht deuten. Weltuntergang oder alles super?
“Schatz, Schatz, was ist denn jetzt?”, versuch ich herauszufinden.
“…”, aber sie sagt nichts.
“Alter!”
Irgendwann nimmt sie dann doch das Telefon vom Ohr und verkündet mit heller Stimme: “Alles super!”
“Was? Und was hat da so lange gedauert? Also warum hat der da so lange raufgequatscht?”
“Der war total happy. Alle waren happy! Er hat nur nochmal gesagt, dass er gerade im Ausland ist und das Geld erst übermorgen überweist.”
“Und das hat zehn Stunden gedauert?”
“Nein, nein. Hat noch vom DJ erzählt, dass der seinen Whisky ja zuerst nicht gefunden hat und wohl von angepisst war, und das alle nur meinten, dass er sich nicht so anstellen soll und so. Ach und von allem möglichen. Lass uns jetzt die Sonne genießen.”
Zufrieden schließe ich meine Augen und lasse mich auf meine Decke fallen. Das Meer rauscht so schön, es rauscht durch meine Gedanken und durchströmt meinen Bauch. Ich grinse vor mich hin und bin einfach nur glücklich.
“Komm, wir holen uns ein Eierliköreis!”, sagt Tati schließlich.
“Au ja!”, antworte ich leise und schlafe ein.

Die erste Hochzeit

There’s no magic in this world.
Doch.

2018. Die strahlt. Eine mit einem weißen Kleid umhüllte feenhafte Gestalt schwebt an einem schönen Sommertag den Elbdeich entlang, direkt auf Tati und mich zu. Sie hat einen von und mit Blumen umzauberten Blumenstrauß in der rechten Hand, einen Schleier hinter ihren lockigen blonden Haaren und ein Lachen von unsagbarer Intensität.
“Alle lieben es!”, haucht sie uns entgegen.
Wie von außen, wie erst gestern, sehen wir diesen Moment mit der weißen Fee am Elbdeich, ein Augenblick im Leben, in dem alles stimmt, ein Moment, der für immer bleiben wird. Dieser Moment, in dem die gesamten Strapazen, die ganze Last von 13 Jahren – a series of unfortunate events – Hoffen, Glauben, Machen, Kämpfen und niemals aufgeben, von einem abfällt. Der größte Stein, der jemals von jemandem abfallen kann, zerschmettert in tausend Teile, in tausend Gedanken und Glücksmomente, in ein Gefühl, das ewig bleibt.
Die erste Hochzeit im Haus Anna Elbe. Die erste Hochzeit, und alle Gäste lieben es. Die Braut strahlt, die Gäste sind happy, wir auch.
Einen Tag vorher. Wassergläser, Rotweingläser, Weißweingläser, große Teller, kleine Teller, Tassen, Untertassen, Messer, Gabeln, große Löffel, kleine Löffel, Servietten, das hört nicht auf. Über 800 Teile reinigen, polieren, positionieren, zurechtrücken, kontorllieren und immer wieder kontrollieren. Ist alles da? Hat jeder Tisch alles, was gebraucht wird? Die erste Hochzeit, da ist natürlich noch nicht alles perfekt eingespielt. Wir sind gespannt wie ein Flitzebogen.
“Poliert ihr die noch?”, eine Stimme aus dem Off.
Cut / Stille.
Eine Stille, die tiefer geht als das Nichts in den unendlichen weiten des Weltraums. Zerschlagen nur von unserem Herzschlag. Bubum. Bubum.
“Guck mal hier, da sind ja doch noch ein paar Flecken dran.”, die Stimme wieder. Die Braut. Will mal nach dem rechten sehen.
“O, zeig mal.”, Tati ganz kleinlaut.
“Hier, siehst du.”
“O ja, gut, Danke, was ist denn da mit der Spülmaschine los?”
“Ist jetzt ja nicht ganz doll. Aber vielleicht guckt ihr da noch einmal.”
“Ja klar!”
“Aber ansonsten sieht das doch schon voll toll aus!”
“Danke.”
Dann geht sie wieder. Tati und ich gucken uns an, als ob wir gerade einen Mord begangen hätten, und stürmen zu den Gläsern auf den Tischen. Stichprobenartig checken wir die Gläser, und tatsächlich, da sind immer mal ein paar Kalkflecken drauf.
Bis in die Nacht haben wir die über 800 Teile erneut gecheckt, gewaschen, poliert und sonst wie gesäubert bis alles makellos war. Kann sich kein Mensch vorstellen, wie schon nach ein, zwei Stunden die Arme wehtun, obwohl man ja eigentlich keine schwere Arbeit leistet. Nur viel und immer wieder die gleichen Bewegungen, ein richtiger Fummelkram ist das. Und wie viele Gläser beim Polieren auch erstmal kaputt gegangen sind, weil man beim Abtrocknen zu ungeschickt war und es hat fallen lassen oder zu rabiat, und es kaputt gedrückt hat. Wahnsinn. Wahnsinn auch, dass wir feststellen mussten, das bei derlei Veranstaltungen unsere extra für die Gastro angeschaffte Gastro-Spülmaschine, die sehr teuer war, eben doch nicht alles kann. Nach ein paar Feiern habe ich sogar eine Sehnenscheidenentzündung bekommen, mit der ich über ein halbes Jahr zu kämpfen hatte.
Vier Stunden vorher.
“Scheiße, Schatz, hier bei den Toiletten, wir haben die Milchglasfolie noch nicht angeklebt!”, ruft Tati verzweifelt.
“Fuck, ja!”, schreie ich aus dem Off, lasse den Hammer fallen und renne zu Tati.
“Wo ist die nochmal?”
“Ha, weiß ich doch nicht!”
“Scheiße, warte!”, sie stürmt aus dem Damenklo und kommt vom Herrenklo wieder. “Hier!”
“Ja, super!”
“Halt mal”
Klopf, Klopf.
“?”
“Was?”
Klopf, Klopf.
“Ich guck mal.”, Tati wird etwas nervös.
“Hallloooo! Wir sind schon mal da und bringen ein paar Sachen.”, ein Gast der Hochzeitsgesellschaft ist etwas früher gekommen. Drei Stunden.
“…”
“Wo können wir die Torten denn hinstellen?”
“Ähm, ja, warte.”, Tatis Fragezeichen über ihrem Kopf ist fast bildlich zu sehen. “Einen Moment.”
Wieder bei mir: “Schatz, was sollen wir denn machen, wo sollen die ganzen Torten hin?”
“Torten?”, mein Fragezeichen wird auch immer größer.
“Ja, die haben da drei Torten dabei.”
“Kühlschrank?”
“Im Container?”
“Ja bei uns?”
“O Scheiße!”
Unser Container – ein halber Überseecontainer, 20 Zoll, unser Multifunktionsraum. Lager, Getränkelager, Kühlschrank, Gefrierschrank, sonstige Gastro-Sachen. Alles soweit im Rahmen, aber alles doch etwas Chaos. Sehr. Viel Chaos. Okay.
“Ich laber noch ein bisschen mit den Gästen, ich lenk die ab, und du räumst noch schnell ein bisschen auf da drüben!”
“Okay. Okayokay, ich … ja, mach ich!”
Ich stürze in den Container und räume so gut es geht die ganzen Sachen, die kreuz und quer im Raum verteilt sind, an die Seite – oder unter den Tisch mit der Tischdecke.
“Ja, hier, hier könnt ihr die Torten hintun.”, Tati kommt. “Schatz, hallo, hier die Torten.”
“A, ja. Hallo.”
“Herr Timmann, ja, schön, wir sind schon etwas früher da.”
“Ja, kein Problem.”
Nach wenigen Augenblicken sind die Torten verstaut. Die Irritation der Gäste bezüglich des Containers hält sich in Grenzen. Oder sie können ihr Erstaunen gut verdecken.
“Komm, weiter, die Milchglasfolie!”, raunt Tati mir entgegen als die Tortenleute wieder weg sind.
Im Damen-WC starten wir – wenn bei den Männern die Folie fehlt, ist das nicht ganz so schlimm, falls wir nicht alles schaffen, denken wir. Und so setzen wir Scheren, Cutter und sonstiges an und versuchen die Folie an die Scheiben zu bekommen. Gar nicht so einfach. Ich halte die Klebeseite oben gegen die Scheibe und Tati streicht sie mit einer EC-Karte vorsichtig nach unten. Blasen, Knitter, Falten.
“Nochmal.”, sagt Tati.
“Ne, kann man so wegmachen.”, ich.
“Nie im Leben!”
“Doch, warte.”
Nach einigem Gefriemel sieht es tatsächlich ganz passabel aus.
“Und was ist das?”, Tati zeigt auf die obere rechte Ecke des Fensterrahmens.”
“Oh.”
Ein Blitzer, eine Stelle der Scheibe, die nicht mit der Folie bedeckt ist. Vom vielen Ziehen und Streichen hat sie sich dort oben wohl etwas verzogen. Ich stelle mir das so vor:
“Isabelle”, ich nenne sie einfach mal Isabelle. Ist ja auch egal, wie die heißt. “Isabelle, ich möchte gar nicht weiter stören. Aber deine Mutter ist dort unten gerade in der Toilette.”
“Dad? Was?”
“Deine Mutter da unten.”
Die Hochzeitsgesellschaft mit Isabelle, der Braut, und Julian, dem Bräutigam, steht am Deich und stellt sich gerade für ein Gruppenfoto auf.
“Warum ist sie nicht hier?”, fragt Isabelle ungläubig.
“Isabelle…”
“Dad, hol sie doch kurz.”
Dad guckt da ganz genau hin. Dieser eine Blitzer in der Scheibe beim Damen-WC hat die Macht, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Denn was Dad dort sieht, hat Zündstoff.
“Isa… belle…, i i ich…”, Dad gerät ins Stottern.
“Dad. Komm schon, das Foto!”
Jetzt kommt Julian: “Werner, ich hole sie mal schnell. So lang kann das ja nicht dauern.”
“Julian, Julian.”, Dad wieder.
Julian: “Isabelle, warte mal, ich hole sie.”
Isabelle: “Nein, Julian, das kann Dad doch machen.”
Dad: “Isabelle…”
I: “Dad! Jetzt komm schon, was ist denn los mit dir?”
D: “Ja, jaja, ich hole sie… gleich…”
J: “Werner, komm, ich komm da schnell mit. Wir kriegen sie da schon raus. Die Sonne scheint für das Foto doch gerade so schön.”
D: “Julian, ja.”
J: “Werner, komm, wir schaffen das. Ist doch schön, die Hochzeit.”
D: “Ja.”
I: “Jetzt los, ihr beiden, die Sonne scheint gerade so schön.”
J: “Ja, ja, ich weiß. Wir machen schon.”
D: “Vielleicht lassen wir sie doch lieber auf dem Klo…”
I: “Dad?! Was ist los mit dir?”
J: “Werner, komm jetzt!”
D: “Nein.”
Da dreht sich Dad um und geht ein Stück den Deich entlang, biegt links ab, geht über die Straße den Deich runter und verschwindet in der Elbe als ob nichts gewesen wäre. Er taucht unter und nie wieder auf.
Musik von Tocotronic feat. Soap&Skin:
Ich tauch aus dem Wasser auf,
Wie aus einem tiefen Schlund.
Wohl auch deshalb ist mein Mund,
Fest zugepresst.
Jetzt starren alle auf den Blitzer. Zu sehen dort auf der Toilette ist Mum. Sie ist allerdings nicht alleine. Ein junges Bürschchen verlustiert sich leicht gebückt unter ihr. Es scheint den beiden viel Spaß zu bringen. Dad allerdings weilt nicht mehr unter uns.
Der Blitzer. Eine Hochzeit. Keine Hochzeit. Dad ist tod, Mum hat einen Toyboy und Isabelle und Julian haben keine Lust mehr.
Das wollen wir doch wohl nicht und so ziehen Tati und ich die Milchglasfolie wieder ab und probieren es erneut – mit Erfolg. Dann geht es zu den anderen Fenstern.
“Schaaaahaatz, komm schon!”, irgendwas halt durch die Bäder. “Schahaatz!”
Tati und ich gucken uns schockiert an.
“Ist das schon die Gesellschaft?”, fragt sie verzweifelt.
“O Scheiße, keine Ahnung.”
Vorsichtig luschern wir durch ein Fenster, das noch nicht mit Folie beklebt ist. Und tatsächlich. Die Gesellschaft, ein Gast nach dem anderen, läuft den Deich entlang Richtung Diele.
“O mein Gott, haben wir so lange gebraucht?”, flüstert Tati.
“Keine Ahnung.”, ich so zurück. “Was machen wir denn jetzt?”
“Wir müssen jetzt erstmal schnell die letzte Folie raufkriegen! Dann gehen wir rüber und begrüßen die erstmal. Es ist ja soweit alles vorbereitet.”
“Okay.”
“Hallo?”, eine weitere fremde Stimme.
“Hallo?”, Tati.
“Sind hier die Toiletten?”
“Ne, nä?”, ich so.
“Ja, ja hier. Einen Moment.”, Tati.
“O, komme ich ungelegen?”, fragt die fremde Stimme, die sich als Brautvater entpuppt.
“Nein, nein.”, beschwichtigt Tati. “Wir sind jetzt fertig. Die Toilette ist frei.”
“Gut.”
Wir verlassen das leider nicht allzu stille Örtchen und schauen uns erleichtert in die Augen. Dann geht die Feier auch schon los und wir streunen am Deich hin und her, wir wollen schauen, ob alles soweit in Ordnung ist, wie viel man am Deich von der Feier noch hört – schließlich sollen die Nachbarn ja nicht unbedingt gezwungenermaßen Teil der Feier werden – und ob die Situation mit den parkenden Autos in Ordnung ist. Passt alles.
Plötzlich stürmt uns jemand vom Service-Personal entgegen: “Wir haben zu wenig Selters!”
“Was?”, ruft Tati.
“Ja, ich hab alles gecheckt, keine mehr da.”
“Warte, ich guck noch mal!”, Tati stürmt davon, bis sie nach einer Minute wieder da ist: “Scheiße, stimmt. Ich verstehe das nicht!”
“Das ist heißt, die trinken wie blöd!”
“Und jetzt?”
“Ja, keine Ahnung.”
“Wir müssen was holen!”, töne ich aus dem Off.
“Ja.”, Tati zögert kurz. “Ja, ja was sonst?”
Und so fahren wir schnell zum Supermarkt und besorgen noch ein paar Kisten Selters.
“Da ist zu wenig Cola!”
“Der Gin ist alle.”
“Habt ihr noch Eiswürfel?”, die Eiswürfel sind das beste. Man stürmt in den ersten Supermarkt. Hat keine. Dann der nächste. Hat welche, aber ganz dahinten. Ein Laden wie eine Savanne, unendliche Weiten. Dann schnappt man sich schnell welche, hat natürlich keine Kühlbox dabei, und begibt sich möglichst schnell zur Kasse. Auf dem Weg dorthin sind einem schon die Hände abgefroren und die ersten Eiswürfel angetaut. Welche Schlange an welcher Kasse? Murphys Law, egal, es ist immer die längste. Dann kann man endlich zahlen, da sind schon die Hälfte der Eiswürfel angetaut. Zu Hause sind immerhin noch ein paar übrig.
“Klopapier! Wo ist das Klopapier?”
“Zucker, Zucker für den Kaffee. Ach ja, und neuen Kaffee brauchen wir auch gleich!”
Das geht den ganzen Tag so. Mit den Mengen-Schlüsseln müssen wir noch etwas üben – wie viel für wie viele, und warum Haben besser als Brauchen ist.
Wieder am Deich, am frühen Abend. Die Braut, die sich freut, geht wieder zurück, im Wechsel kommt ein entspannt drein blickender Jungerwachsener im vielleicht etwas zu sehr nach Versicherung aussehendem Anzug. Er fragt, ob er uns ein Glas Wein holen soll. Wir verneinen, setzen uns aber zu ihm auf einen alten Balken aus dem Haus, den wir da als Sitzmöglichkeit aufgebaut haben. Er bestätigt uns, dass alle happy sind und fragt uns zum Haus und unserer Geschichte aus. Schön ist das. Wir sitzen nur da, die Sonne scheint, die Hochzeit läuft, das Leben plätschert dahin, ein Moment, der bleibt. Für immer. 15 Jahre. Ein Traum. Ein Kampf. Ein Haus. Eine Hochzeit. Alles geht. Jetzt kann ich sterben.

2019. Zweitausendneunzehn, du krasses Jahr, liegst vor uns, und wir werden uns noch wundern. Der ersten Gäste und die ersten Feiern liegen hinter uns. 2018 hat uns positiv gestimmt. 2019 ist richtig was los. Der Winter, die Nebensaison zwischen diesen Jahren, tut gut. Wir können uns erholen und Kraft tanken für das neue Jahr.
Mitte März geht es wieder los. Die Ferienwohnungen und auch die Hütten füllen sich langsam wieder.
Mitte April: Mein Monat, mein Tag, der Tag.

Es war einmal ein graues Haus, das lag vor den Toren des schönen Städtchens Bergedorf. Das graue Haus lag in einem grauen Ödland umrahmt von anderen grauen Häusern, die sich eins nach dem anderen an Häßlichkeit zu überbieten suchten. Graues Wellblech, zerfaserte Eternitplatten, verblasstes Mauerwerk, abbröckelnder Putz.
Und in diesem grauen Haus saß ein unscheinbarer Mann, der Tag ein, Tag aus, und viele Jahre, immer nur auf eine leuchtende Scheibe gleichförmigen Strichen und Formen und Buchstaben schaute. Er tippte Tag ein, Tag aus, auf eine Tastatur und klickte Tag ein, Tag aus, auf eine Maus. Jahre lang. Und dabei guckte er eigentlich immer nur aus dem Fenster. Und dabei guckte er eigentlich immer nur woanders hin. In eine Welt, in der Bäume stehen, in der die Sonne scheint, in der es warm ist, in der es Farben gibt, in der der Wind weht und in der er sich bewegen könnte. Denn, was er eigentlich aus dem Fenster sah, war ja nur ein anderes graues Haus in einem grauen Ödland vor den Toren der Stadt Bergedorf. Nur manchmal, wenn die Zeiten und Gestirne positiv gestimmt waren, verirrte sich ein Sonnenstrahl an sein Fenster. Dann öffnete der Unscheinbare heimlich das Fenster und steckte vorsichtig, und das niemand es sehen konnte, seinen Kopf heraus, schloss die Augen, denn er wollte ja nicht das Grau sehen, und genoss die Wärme des Lichts. Vor seinem inneren Auge meinte er, in der Ferne ein paar Bäume sehen zu können. Doch so schnell der Sonnenstrahl auftauchte, so schnell verschwand er auch wieder. Und mit ihm die Freude und das Leben.
Eines Tages jedoch, sollte es anders kommen. Denn an diesem einen Tag, und dieser Tag war heute, betrat der Unscheinbare das graue Haus zum letzten Mal. Ein letztes Mal ging er den grauen Vorhof des grauen Hauses entlang, wuchtete die schwere Tür auf und stieg die grauen Treppen empor. Ein letztes Mal machte die Tür vor seinem Arbeitsplatz dies komische Geräusch beim Öffnen und ein letztes Mal schlich er durch die weite Leere der Räume. Ein letztes Mal setzte er sich in seinem nichtssagenden Kämmerchen hin, drückte ein letztes Mal die Taste seiner leuchtenden Scheibe und tippte und klickte ziellos auf seiner Tastatur und Maus herum – ein letztes Mal. Die sinnlose Zeit rann sinnlos dahin. Schließlich ging er ein letztes Mal zu seinen Wegbegleitern, die ihn schon lange nicht mehr begleiteten, und verabschiedete sich.
Nun war es soweit. Ein letzter Klick und die Scheibe erlosch für ihn für immer. Er ging den ganzen Weg durch das Ödland zu Fuß. Er überquerte erst kleine Seitenstraßen, dann mehrspurige, laute, und von Autos verstopfte Straßen, vorbei an unförmigen Hochhäusern, Hotels oder Parkplätzen, die wieder voller Autos waren, bis er schließlich einen kleinen sandigen Weg abbog. Vorbei an kleinen Fachwerkhäusern, und durch prächtige Gärten erreichte er schließlich den Schlossgraben des Schlosses zu Bergedorf.
Es war kalt, noch keine Blume streckte ihre Blüten in den Himmel. Vielleicht ein erster kleiner Krokus, aber das wusste er nicht mehr so genau. Er freute sich schon den ganzen Weg über darauf – denn jetzt zog er sich die Schuhe aus und auch die Socken, und ging Barfuß über die Wiese direkt auf den Schlossgraben zu. Dort angekommen steckte er erst den ersten Fuß und dann den zweiten Fuß am Ufer ins Wasser und spürte, und das, obwohl das Wasser so kalt war wie der erste Frost im Winter, zum ersten Mal seit langer Zeit etwas, dass er seit vielen Jahre nicht mehr gespürt hat. Wärme und Hoffnung und Leben. Ein neues Leben lag vor ihm. Und das wusste er.

Cut / und täglich Grüßt Das Murmeltier. Das ist jeden Tag das gleich, ich kann das gar nicht glauben. Seit ich 2019 voll eingestiegen bin, wie hat Tati das vorher alleine gemacht? I break together. Krabbeln, kriechen, ducken, knien, aufstehen, wischen, rubbeln, trocknen, wegräumen, klettern, heben, stämmen, fummeln, fönen, alles wieder von vorne, den ganzen Tag, vier Wohnungen, vier Hütten, zwei Baumzelte, die Diele und die ganzen Bäder da, jeden Tag, Lebentraum: Putzen. Jaaaaaa, ich putz, putz, putz,
Ja ich putze soho gern, gern, gern
Und mach das den ganzen Tag, Tag, Tag,
Ja, ich putze soho gern, und ich putz,
Alles wieder vohon vorn!
Schalalala! Heut ist so ein schöner Tag!
im Stiel von “So ein schöner Tag (Fliegerlied)” von Tim Toupet
Ich sing das jeden Tag. Und Täglich Grüßt Das Murmeltier. Ehrlich, ich kann das nicht glauben. Jeden Tag stehe ich auf und putze den ganzen Tag, das war irgendwie nicht mein Lebenstraum.
Heute die Kapitänskoje, das Schlummernest und die Strandbude, dann noch drei Waldhütten. Wir fangen an. Kapitänskoje: Ich stelle erstmal alle Stühle hoch und sauge das Wohnzimmer. Ich sauge das Bad, ich sauge die Schlafkammer. Tati wischt die Bäder, die Küche und den Boden. Alles noch in Ordnung. Aber die Betten in der Schlafkammer – da kannst du nicht einfach drunter saugen. Da musst du die Matratzen wegnehmen und jedes Lattenrost einzeln hochheben, damit du dann da drunter saugen kannst. Schulterübungen im Fitnessstudio brauch ich schon mal nicht mehr. Und die Hochebene: super gemütlich. Aber saug da mal, da musst du diese steile Spezialtreppe erstmal mit deinem Sauger hochkommen und dann da oben noch die Lattenroste hochheben, um da drunter saugen zu können. Spätestens dann bin ich schon so durchgeschwitzt, dass auch ein Marathon nicht anstrengender sein könnte. Wenn dann noch Hundehaare dazu kommen, ist das Ganze perfekt: Das Sofa musst du quasi auseinanderbauen. Alle Kissen weg, und das sind viele, aufmachen das Ding (Schlafsofa) und dann je nach Bedarf mit Bürste, Haarroller oder Sauger versuchen die mindestens eine Millionen Haare wegzubekommen. Eine Scheiße, das kann sich kein Mensch vorstellen. Und was da manchmal drunter ist, das glaubt dir kein Mensch. Einmal habe ich einen abgetrennten Menschenfinger gefunden. Ich habe mich so erschrocken, dass ich mindestens drei Jahre früher sterbe. Und Albträume. Ein Trauerspiel. Am Ende war es natürlich kein Menschenfinger – ich sage mir das zumindest – sondern vielleicht irgendein Fleischteil von einem frittierten Hähnchenflügel oder sowas. Jedenfalls, wenn man dann fertig ist mit der Wohnung, und das dauert gerne mal eineinhalb Stunden, dann geht das ja noch mit den restlichen fünf Einheiten weiter.
Wenn du was vergisst, dass ist das Beste, da rennst du dann erstmal für ein einziges Teil, ob Mülltüten, ein Bettlaken, ein Kissen, Abflussreiniger oder sonstwas, wieder den Hof zurück. Und das machst du dann noch fünf mal, an Tagen, wo du es so richtig wissen willst, und hast schon bald die Welt umrundet, so viel latscht du dann hin und her.
“Schatz, ich glaube, die haben hier die Wand angekackt!”, kreischt Tati aus dem Bad.
Ich kann es nicht glauben und eile zu ihr: “Ein Witz. Das ist Scheiße, Alter!”
“Jaaaaa!”
Cut. “Haben die hier einen Hund gerupft?”, Hundehaare, Kiloweise.
“Das ist ein Fisch in der Sauna!”, Tati schreit wieder.
“Was?”
“Alter, die haben hier einen Fisch auf den Saunasteinen liegengelassen!”
“Waaas?”
“Hier, guck! Das soll ja wohl ein Witz sein!”
2019, ich hab mir dich ganz anders vorgestellt. Wir erschaffen neue Welten, wir sitzen mit den Gästen zusammen und unterhalten uns bei Wein über Gott und die Welt. Savoir vivre und so. Wir grillen im Garten, wir schmieden die atemberaubendsten Pläne für neue Veranstaltungen, Märkte, Herbstmärkte, einen Weihnachtsmarkt, ein Mittelaltermarkt vielleicht sogar, Konzerte, Lesungen, unser Café, das wir noch aufbauen wollen, das wird wie so ein Wiener Kaffeehaus, alt und jung und schlau und doof und schön und häßlich. Alle sitzen zusammen, reden und lachen und lernen sich neu kennen und denken die Welt neu – und das bei uns und einer Tasse Kaffee mit einem Stück leckeren Kuchen. Da läuft die ganze Zeit Mumford and Sons, Bon Iver und so. Folkmusik, oder French Coffeehouse, eine schöne Playlist oder so, auch toll. Der Wahnsinn denke ich mir, wie in diesen Dokus auf ServusTV oder bei der Nordtour, wenn da irgendwelchen tollen Café oder kleinen Gasthäuser vorgestellt werden, aber ich putze den ganzen Tag.
Den ganzen Tag, von morgens bis abends bin ich nur am Putzen! Saugen, wischen, Müll, Betten, Handtücher, waschen, Saugen, wischen, Müll, Betten, Handtücher, waschen, saugenwischenmüllbettenhandtücherwaschen-Scheiße!
Das war nicht geplant.
Irgendwann haben wir uns entschlossen, doch mal jemanden einzustellen.
“Wir freuen uns voll, wenn du uns unterstützen möchtest, aber wir sagen das lieber gleich am Anfang, das ist echt krass hier.”, Tati beim Vorstellungsgespräch.
“Okay.”, piepst Shiane.
“Also, das ist halt echt krass, weil das hier alles so verwinkelt ist, da muss man echt kriechen teilweise, wenn man unter die Betten will mit Saugen, oder Klettern, weil wir ja Hochebenen haben. Auch bei den Waldhütten, wir stoßen uns da auch regelmäßig den Kopf.”
“Okay.”
Ich betrachte das ganze mit gewissem Abstand und frage mich, ob das schlau ist, als Arbeitgeber schon vorher den Job schlecht zu machen.
Dann kommt Tati mit der Rettung: “Aber man muss das auch mal anders sehen. Ich meine, das ist ein Ganzkörpertraining, da muss man nicht mehr ins Fitnessstudio. Das ist echt krass, und wenn man das so sieht, ist das schon wieder auch okay. Und, das hilft auch manchmal, wenn man das ganze so sieht, dass man den Gästen eine schöne Unterkunft für eine schöne Zeit übergibt. So good-vibes-mäßig.”
Sehr gut, sehr gut, jetzt kann Shiane nicht mehr absagen.
“Okay.”
Es sollte anders kommen. Shiane hat zugesagt. Aber gekommen ist sie nie. Alles nicht so einfach.

Ein kleines Café

“Wann machen eigentlich wir das Café?”, fragt Tati, als sie morgens beim Frühstück den Kaffee auf den Tisch stellt. “Nächstes Jahr geht das los.”
“Ja”, antworte ich schlaftrunken.
“Da müssen wir uns jetzt mal ein bisschen Gedanken drüber machen.”
“Ja”, erstmal müssen die Kinder weggebracht werden, ich muss zur Arbeit, und dann gucken wir mal.
“Wo fangen wir an?”
“Erstmal müssen die Kinder weggebracht werden, ich muss zur Arbeit, und dann gucken wir mal.”
“Schatz, weißt du noch. Das war unser Traum. Wir wollten dieses kleine Café in der Schanze. Das hatten wir uns nicht getraut. Aber jetzt trauen wir uns!”
“…”, stimmt. Flashback. Das war unser Traum. Ein kleines Café. Unser kleiner Traum als wir uns kennengelernt hatten. Das ist jetzt über zehn Jahre her. Dieses Gefühl, einen schönen kleinen Ort zu schaffen, an dem man einfach ein gutes Stückchen Kuchen und einen leckeren Kaffee bekommt, wenn das Wetter draußen zum Kotzen ist.
Der Butterkuchen. Ankes Butterkuchen, der beste. Immer wenn wir uns mit dem Freundeskreis im Rieck Haus für Besprechungen – Erdbeerfest, Korn dreschen wie vor hundert Jahren, die neue Ausstellung in der Scheune und so weiter und sofort – getroffen haben, gab es diesen legendären Kuchen. Damit hat alles angefangen. Schon bevor wir den Plan mit einem alten Haus in den Vier- und Marschlanden hatten, haben wir uns immer gesagt, wenn wir noch mal ein Café irgendwo aufbauen, dann muss es diesen Kuchen geben. Anke ist die Frau von Heinz-Werner, dem Vorstand vom Freundeskreis Rieck Haus. Ein einfacher, aber unfassbar guter Butterkuchen. Mandelsplitter oben drauf. Wie kann etwas so einfaches nur so gut sein? Immer das gleiche. Wie Folk-Musik. Zwei, drei Akkorde, die Lieder wird man in tausend Jahren immer noch singen. Den Kuchen wird man in tausend Jahren immer noch essen. Hör mir auf mit Kuchen wie Schlösser. Kuchen und Torten in komischen Farben und Formen. Wenn ich das schon sehe, Fondant in allen Farben, Regenbogen, Figuren.
Erst wenn die Flüsse aufwärts fließen,
und die Torten nach Autos aussehen,
und die Mäuse Katzen fressen,
dann erst will ich dich vergessen.
Das Ende naht. Torten wie Eichhörnchen. Torten wie Raketen. Torten wie Pimmel, Torten wie Titten. Gibt es alles. Torten, die aussehen wie das Gesicht eines Babys, klein, fett, schwabbelig. Torten, die aussehen wie ein Junggesellenabschied. Nein, oh, nein. Wir werden einen ganz einfachen Butterkuchen anbieten.
“Filterkaffee und Butterkuchen.”, sagt Tati irgendwann.
“Ja”, sage ich wieder und verlasse mit den Kindern das Haus.

“Halt!”, schreit Andi von unten vorm Haus.
Mit einem Kamel durch ein Nadelöhr – es wäre so viel einfacher. Ich versuche rückwärts mit dem Anhänger den Stegel (die kleine Abfahrt) am Deich vor unserem Hof runterzufahren.
“Scheiße!”, ich schreie und fluche.
“Ein Stück rechts! Da musst du nach links nudeln!”
“Ja, ich weiß!”
“Rechts!”, schreit jetzt auch Tati.
David, Johanna und Mathilda betreten die Szene.
“Weg!”, Tati rennt zu den Kindern und hält sie zurück. “Papa hat Probleme.”
“Ich habe keine Probleme. Jetzt lass mich mal!”
“Reeeeechts!”
“Aaaaah!”, ich steige aus dem Auto aus, scanne zum hundertsten Mal die Begebenheiten und fahre wieder hoch. “Ein letztes Mal!”
“Jetzt lass mich mal! Hast du noch nie ein Auto gefahren?”, ruft Andi wieder.
“Du bist nicht versichert mit dem Auto. Wenn was passiert, haben wir ein Problem!”
Nach einer Stunde ist der Anhänger fast unten. Weiter geht nicht. Ich bin klatschnass geschwitzt.
“Mann! Jetzt schnall das Ding ab und komm!”, Andi bleibt unruhig. Andi, den wir als Caterer für unsere Feiern und Hochzeiten haben gewinnen können, hat uns einen Konvektomaten, einen großen Backofen, besorgt. Den können wir zum Kuchenbacken benutzen, oder auch wenn zum Beispiel mal Essen warm gehalten werden soll.
Wir koppeln den Anhänger vom Auto ab und rollen mit ihm kurz vor die Tür.
“Hoch!”, ruft Andi wieder.
Wir versuchen den einige hundert Kilo schweren Konvektomaten das kleine Stück vom Anhänger bis zum Boden zu tragen, ohne dass er direkt zu Boden knallt und kaputt geht.
“Hoch jetzt!”, ruft er wieder.
“Ja!”
Das Ding ist so schwer, ich habe Angst. Mein Rücken. Andi, Kaliber Schlachter, aus Bayern, wie im Bilderbuch, ich, ein wenig weniger. Eigentlich sollten sein Vater und mein Vater noch mit anfassen. Aber beide hatten – Rücken.
“Das ist mir jetzt zu blöd!”, murmelt Andi weiter und macht einen Ruck, so dass der Konvektomat vom Anhänger rutscht und ich ihn irgendwie halten muss.
“Fuuuck!”, ich kann ihn kurz halten, aber dann rutscht er mir aus der Hand und knallt ein Stück zu Boden.
“Mann! Was ist los, kann doch nicht wahr sein!”
“Ey, jetzt scheiß meinen Mann nicht immer so an!”, mischt Tati sich jetzt ein, und in wenigen Sekunden habe ich den ganzen Stress vergessen. Ich bin gerührt. Wie süß, dass Tati mich nach so vielen Jahren Ehe immer noch verteidigt.
“Danke!”, lächel ich sie an und nehme ihre Hand. Sie lächelt zurück.
“Jaja. So, jetzt komm, den Rest rutschen wir mit dem Ding auf dem Boden weiter.”
Irgendwann hat das Ding, beziehungsweise der Konvektomat, seinen Zielort erreicht, und wir sind für heute erledigt.
Die nächsten Wochen und Abende verbringen wir mit Recherche von Kuchenrezepten, Kaffeebohnen, Angeboten und schließlich natürlich mit dem Backen. Backen, backen, backen. Wir backen so viel Kuchen, dass uns der Kuchen aus den Ohren wieder rauskommt. Aber nach einigen Monaten hat Tati die Rezepte so verfeinert, dass wir zufrieden sind. Sie können auf die Menschheit losgelassen werden.
Zuerst wollen wir nur sonntags das Café eröffnen, samstag haben wir meistens Feiern. Wir wissen ja auch noch gar nicht, ob das überhaupt alles angenommen wird. Das gibt krümeligen Apfelkuchen, Hasis Karottenkuchen, fluffigen Schaumkäsekuchen, und natürlich Ankes Butterkuchen mit Mandelsplitt. Fruchtkuchen je nach Saison, alles auf Blech.
Auch wir haben immer diese Schöne-heile-Welt Bilder im Kopf. Ja, ich gebe zu, ich gucke Servus-TV und Bayern-3 und so was. Traditionelle Volksmusik mit Zitter, Hackbrett und der Steirischen läuft im Hintergrund, schöne Landschaftsbilder aus den Bergen oder von schönen Weinhängen erscheinen auf der Bildfläche. Das macht mir immer so schöne Gefühle. Mehr als bei den anderen Sendern sieht man hier diese zufriedenen Menschen, die in schönen alten Küchen in schönen alten Bauernhäusern in irgendwelchen Schalen irgendwelche Teige anrühren. Sie backen dann Kuchen oder Torten nach alter Rezeptur – von Urururoma, ein großes Geheimnis, das alles – und servieren anschließend alles der von überall her angekommenen Familie in der großen Bauerndiele oder den glücklichen Gästen in irgendwelchen Hofläden. Vögel zwitschern, die Blumen blühen, die Sonne scheint. Bergdoktor, der Gruber Martin.
“Ja mei, Resi, des schmeckt aber gut!”
“Berta, is des gut!”
“Franzi, hol mal die Lisi! Die muss doch a noch beikommen!”
Es schmeckt allen. Die Kerzen leuchten, die alten Holzbalken der Tenne verströmen die german Gemütlichkeit, ein ultra niedliches Kalb kommt dazu.
“Resi! Schau, die Luzi!”
Cut. Regen. Norddeutschland. Plattes Land. Wenig Worte. Supermarkt. Zwei volle Einkaufswagen. Zucker, Mehl, Eier, dies das. Alles für die Kuchen. Das wiegt zweihundert Kilo.
Es regnet. Herrje, kann das einmal nicht regnen? Wir schleppen alles ins Auto. Hundert Tüten. Wir fahren nach Hause, hundert Tüten müssen den Deich runtergeschleppt werden. Alles muss irgendwo hin. Kein Platz. Die Diele steht noch mit dutzenden Kisten mit Zeugs für die Ferienwohnungen, oder Zeugs für Zeugs, was noch irgendwo irgendwann wegsortiert werden muss, voll. Die Schränke sind voll. Wir brauchen mehr Regale.
Alles landet erstmal auf dem Küchentisch.

Cut. Morgens halb zehn in Deutschland. Die Kinder sind versorgt, wir haben gefrühstückt. Wir fahren Johanna noch zu einer Freundin, dann geht es los. Backen. Morgen ist noch eine Hochzeit. Wir müssen also schnell fertig werden.
Eier, Mehl, Eier, rühren, kneten, Eier, Zucker, rühren, Mehl, Sahne, Bleche, zack, zack, zack, rollen, kneten, wieder rollen, verteilen.
“Scheiße!”, ruft Tati plötzlich.
“Was?”, frage ich.
“Ich glaube…”
“Falsches Rezept?”
“Nein! Ich glaube, warte…”, sie fummelt auf ihrem Handy herum. “Ja! Wir haben das eine Paar vergessen. Die wollen noch Frühstück.”
Das haben wir irgendwann mit angeboten. Ist ja auch schön, morgens sich keine Sorgen um das Frühstück machen zu müssen.
“Einmal süß. Einmal herzhaft. Beides klein.”
“Scheiße!”, jetzt bin auch ich not amused. Unser Fehler, kann man nichts machen. Aber wenn man mitten in der Arbeit ist, und dann so rausgerissen wird, ist das immer ein großer Stressfaktor.
Eine halbe Stunde später haben wir alles fertig und servieren es in der Diele.
“Können wir noch ein Körnerbötchen haben?”, fragt die junge Frau.
“Ja, einen Moment.”, antwortet Tati und verschwindet kurz.
“Schatz, haben wir noch Körnerbrötchen?”
“Ja.”
“Puh.”
“Warum?”
“Sie möchte lieber ein Körnerbrötchen.”
“Okay.”
Das geht so weiter.
“Habt ihr noch einen anderen Käse?”
“O, der Honig, kann ich dafür Nutella haben?”
“Habt ihr noch ein bisschen was zu trinken?”
So und so und so und so. Auf einmal ist für ein Frühstück fast eine Stunde vergangen. Tati und ich sind beide damit beschäftigt. Zwei Mannstunden, wie man so schön sagt. Wir haben 8,40 Euro verdient. Irgendwas stimmt da nicht.
“Komm, wir müssen weitermachen!”, Tati hat ihre Hände schon wieder im Teig.
Die ersten zwei Bleche haben wir nach eineinhalb Stunden fertig. Jetzt folgen die nächsten vier. Fühlt sich eher nach Akkord-Arbeit als Servus-TV an. Nun gut.
Das Café an sich wird jedenfalls gut angenommen. Nachdem wir ein paar Wochen vorher ordentlich die Werbetrommel gerührt hatten, ist gerade bei schönem Wetter immer was los. Die Kuchen werden gut angenommen, viele sind sogar begeistert. Tati ist happy.
Nach einigen Monaten stellt sich ein wohliges Gefühl ein. Nachdem ein wenig Routine eingekehrt ist, können auch wir uns mal ein bisschen zurücklehnen und mit den Gästen einen Plausch halten. Vielleicht doch ein bisschen Servus-TV.

Lebenstraum: Multifunktionstool.

Das ist jetzt unser Leben. Ferienwohnungen, Waldhütten, Baumzelte und eine Eventlocation. 40 Gäste können hier ihren Urlaub verbringen. Noch mehr können hier feiern. Wir organisieren jetzt unser kleines Bauernhaus-Hotel. Wir allein. Zwei Menschen und ab und zu alle paar Wochen ein paar Freie, die uns bei Feiern unterstützen.
Das ist so geil, aber auch so viel. Wochen lang bin ich, seit ich vollzeit im Haus eingestiegen bin, jeden Tag auf das Neues so überfordert, wie selten in meinem gesamten Berufsleben zuvor. Magenschmerzen, Schweißattacken, Flaschen. Das werde ich nie vergessen.
Vor einer Hochzeit machen wir eine Großbestellung beim Getränkehandel. Der liefert die Getränke. Und wir müssen sie erstmal ein sortieren. Die einen ins Lager, die anderen in die Diele. Die in den Kühlschrank, die ins Eisfach. Die werden gleich auf der Theke für den Sektempfang aufgebaut und die sind falsch geliefert und die und die und die fehlen noch.
“Schatz, komm mal bitte!”, schreie ich kurz vom Nervenzusammenbruch aus unserem Container, in dem im Moment die Getränke lagern.
“Was?”, ruft sie zurück.
“Die Getränke! Schatz, komm mal!”
“Nein!”
“…”, was? Hat sie gerade nein gesagt? “Nein?”
“Nein! Ich muss hier gerade die Gäste in die Wohnungen aufteilen. Die Brauteltern haben irgendwie keine Wohnung bei uns!”
“Was?”
“Die haben sich nicht eingebucht!”
Ich stelle die Bierkiste ab und gehe zu Tati in die Diele: “Die Brauteltern haben keine Wohnung?”
“Wir hätten das nie machen sollen! Habe ich doch gesagt, das muss einer zentral machen, also, wer wo hin kommt!”
“Und jetzt?”
“Ja, keine Ahnung! Die sind voll angepisst!”
“Kann ich verstehen.”
“Ja, aber wir können doch jetzt auch nichts dafür, wenn die sich da nicht einbuchen!”
“Stimmt.”
“Die Kinder!”
“Was?”
“Scheiße, die Kinder…”
“Haben die auch noch ein Problem?”
“Nein, du musst die Kinder holen. Es ist ein Uhr!”
“Scheiße!”
Ich stürme aus dem Haus und fahre zur Schule.
“Hier können sie nicht lang!”, befiehlt ein Mann, der sich mir wie aus dem Nichts in den Weg stellt. Typ Drogenkurier gekreuzt mit Schimanski. Anorak. Schimanski.
“Was?”, ich gucke wie ein Auto.
“Hier sind Dreharbeiten.”
“Ich habe Stress, ich muss die Kinder holen.”
“Bitte.”
“Was?”
“Das dauert nur ein paar Minuten.”
“Meine Kinder, ich muss die holen!”
“Bitte, es dauert nicht lange.”
Ich gehe einen Schritt zurück, greife in die Jackentasche und ziehe meine Schrotflinte hervor. Schimanski springt mit einem Becker-Hecht zur Seite, ich erwische ihn am Bein. Er schreit ein bisschen, egal, ich kann weitergehen. – natürlich nicht!
“Wie lange?”, frage ich.
“Ein paar Minuten.”
Wie so ein Psychopath – machen das Psychopathen so? – gehe ich nervös in kleinen Schritten auf und ab. Mein Blick könnte jetzt Stahl zertrennen. Der hat physikalische Eigenschaften. Die hatten immer Angst vor mir, in meiner Kinheit, meine Freunde. Früher schon. Schüchtern auf der einen, sehr jähzornig auf der anderen Seite. Ich habe niemals jemandem etwas getan, aber jeder wusste, dass ich lieber meine Ruhe brauch, wenn mir alles zu viel wird. Da bin ich nicht stolz drauf, und habe seit vielen Jahren glücklicherweise auch keine Probleme mehr damit, aber tief in mir schlummert eben immer noch manchmal etwas auf, das man die dunkle Seite nennen könnte. Mehr Slytherin als Gryffindor. Ich gucke Schimanski auch nicht an. Ich will ihm nicht wehtun.
Auch andere Eltern stauen sich mittlerweile am Stegel. Sehen alle ganz friedlich aus. Ich speie gleich Feuer.
Nach Minuten / Stunden geht es endlich weiter.
Fünfhundert Lastwagen, Autos und Porsches stehen auf einer trostlosen kleinen Wiese vor einem älteren Haus. Das war mal ein Gasthaus in Altengamme. Lichter, Ständer, Kameras und sonstiges Equipment türmt sich vor der Eingangstür, Menschen wie Ameisen rennen hin und her. Keiner lacht, alles Hipster. Süd bei Südost oder sowas drehen die da, so ein Heimatkrimi. Es tut mit Leid, ich denke an Alec Baldwin, irgendwo hier muss es doch auch echte Pistolen geben. Das Catering sieht ausgezeichnet aus.
“Paaaapaaa!”, Johanna rennt auf mich zu und springt mir in die Arme.
“Kleine, wie schön! Komm, ich muss Mathilda noch holen!”
Ich renne mit Johanna den Kirchenstegel entlang und betrete den Kindergarten.
“Whuaaaaa whuaaaaaa haahahaaaaaa.”, Mathilda ist nicht so begeistert wie Johanna.
“Schnipsel!”, ich laufe auf sie zu, nehme sie hoch in meinen Arm, drücke und drücke und drücke sie, schließe die Augen und lasse mein Leben für einen Moment hinter mir. “Ich hab dich sooooo lieb, meine Kleine!”
“Whuaaaaa whuaaaa, hmfff, hmf hmf hmf, whaaa hahaha!”
“Meeeli, komm schon!”, ruft Johanna und klebt sich an uns.
“Schnipsel.”
Wir stehen da noch so ein bisschen bis plötzlich Mathildas Erzieherin kommt und wissen will: “Hallo, Herr Timmann, schön, dass sie da sind. Soll Mathilda denn eigentlich zum Ausflug nächste Woche mitkommen? Dann bräuchten wir noch ihre Unterschrift, drei Euro, sie braucht dann Wechselkleidung und Rucksack mit Essen und Trinken.”
Original, ich verstehe null Komma null.
Schwarz.
Biiiiiieeeeeep.
Bierflaschen, Weinflaschen, Cola, Fanta, Sprite, Selters, Sektflaschen, Wodkaflaschen, Gin, Berliner Luft, Champagner, die Flaschen explodieren, achttausend Kubikmeter Schaum und Glassplitter fliegen durch die Luft, Blood splatter, meine Gedanken versagen mir den Zugang zur Realität, mein Gehirn implodiert.
“Was?”, fragt mein Autopilot.
“Der Ausflug nächste Woche.”
“Ja, … äh, ja. Jaja, da soll sie mit.”, stammel ich, ich hoffe einfach, dass Tati irgendwas geklärt hat. Ich poker da jetzt drauf: “Ja, alles gut. Das Geld bringe ich morgen mit.”, vergesse ich sowieso. Irgendwann kommt es aber an. Das ist so.
“Gut. Dann einen schönen Tag noch.”, die Erzieherin verabschiedet sich.
“Ja, Danke. Auch einen schönen Tag.”
Ich ziehe Mathilda noch Schuhe und Jacke an, dann gehen wir.
“Entschuldigung, sie können hier nicht lang.”, Schimanski ist wieder da. Wirklich, das ist so passiert.
“Waaaaas?!”, drehe mich sofort weg, meine Kinder sind da, ich muss Lord Voldemort jetzt ganz weit wegschicken.
Nach ein paar Minuten geht es weiter.
Zuhause erwarten mich wieder die Flaschen.
“Schatz, ich bin im Arsch, ich check das nicht. Da waren wieder so scheiß Dreharbeiten, original, die haben mich nicht durchgelassen. Wirklich, auf dem Rückweg auch. Ich musste da zehn Stunden warten, um meine Kinder zu holen, das soll ja wohl ein Witz sein!”
“Okay, okay. Aber was checkst du denn jetzt nicht.”
“Die Flaschen. Alter, das sind so viele. Das gibt tausend unterschiedliche! Warum gibt das nicht genormte? Alter wirklich, ich weiß gar nicht, wie ich das auf die Kisten aufteilen soll, also die leeren Flaschen. Und die neuen! Das muss doch irgendwie richtig geordnet werden, also, dass die alten erst aufgebraucht werden, und dann erst die neuen. … Gibt es da ein System, ich kriege einen Herzinfarkt, wirklich! Beere, ich kann nicht mehr!”
“O Bär.”, Tati sagt nichts. Sie nimmt mich in den Arm.
Die Hochzeit heute Abend ist very special, wir werden den ganzen Raum herrichten und selbst dekorieren. Wir haben genaue Beschreibungen und Zeichnungen von der Braut bekommen, wie sie sich jeden Platz vorstellt. Geschirr, Besteck, Gläser für Weiß-, Rot- und Schaumwein, Wasser, Wodka und die Mitternachtstorte. Ein Süppchen – o je, wir haben nicht genug Suppenterrinen, wo bekommen wir die jetzt her? – und Häppchen werden auch gereicht. Tischkarten, Namenskarten, Kerzen, große, kleine, Kerzenständer, Eukalyptus-Zweige – die stehen seit einigen Jahren ganz hoch im Kurs – sonstige Zweige, Servietten. Die sollen zu einer herzartigen Skulptur gefaltet werden. 80 Mal. Tischdecken, Sektempfang, Lichterketten, normale Girlanden, Namensballongirlanden – alles nicht so einfach, erstmal spiegelverkehrt aufgehängt, danach Rechtschreibefehler, beim dritten Versuch hat es geklappt – Lampion-Ketten, alte Obstkisten für die Candy-, Gin- und Cigar-Bar. Die Fotobox braucht ein eigenes Zelt im Garten, ein anderes Zelt soll für den Regen aufgebaut werden.
Wir merken, dass wir auch die letzten Wochen nicht viel Schlaf hatten, Müdigkeit und Schwindel sind seit langem unsere ständigen Begleiter. Auch unser Herz macht uns Sorgen. Wir beide merken, dass es nicht immer so schlägt, wie es schlagen soll. Wir werden unruhig.
Das Zelt.
Das Zeltdach. Niemals werden wir diesen Tag vergessen. Gastro ist Krieg, The Machinist, Blau-Filter, wie in Zeitlupe kämpfen sich Tati und ich bei strömendem Regen und Sturm mit dem vom Regen vollgesaugten achttausend Kilo schweren Zeltdach ab. Zuerst hat es gar nicht geregnet.
“Schatz, komm schnell, noch ist es trocken!”, ruft Tati mir entgegen.
Ich bin im Zeltdach verschwunden: “Aaaa…”
“Was?”
“Aaaaaa”
“Ja?”
“Jaaa!”, meine Stimme scheint durch die Stoffmassen nicht nach außen zu dringen. Ich bekomme kaum Luft.
Wir versuchen das über 4 mal 6 Meter große Zeltdach auf das Alu-Gestell zu hieven.
“Es fängt an zu regnen!”, schreit Tati.
“Was?”, schreie ich zurück und kämpfe mich aus dem Zeltdach hervor. “Das regnet ja!”
“Ja!”
“Scheiße, schnell!”
Im Eimern, Kübeln, Tonnen schüttet es wie aus Wasserwerfern der Polizei vom Himmel. Ich möchte sterben. Nach einer halben Minute sind wir sowas von nass, dass wir gleich die Arche Noah anrufen müssen. Und das Zeltdach erst. Jetzt noch achtzig Kilo schwerer.
Ich klettere vorsichtig auf die Leiter und versuche eine Ecke des Dachs über eine Ecke des Alu-Gestells zu ziehen, während Tati von unten versucht mir die restlichen Stoffberge hinterher zu schieben. Erfolglos. Ich probiere das nochmal. Und nochmal und nochmal.
“Aaaaargh!”, mache ich plötzlich.
“Schatz?”
“Fuck!”
“Schatz!”, Tati lässt das Zelt los, alles rutscht runter. “Was ist los?”
“Fuck! Ich bin umgeknickt!”, mein zu lockerer rechter Fuß. Der aus der Kindheit, der, als ich mich in der Schule nicht getraut hatte, zu sagen, dass ich Schmerzen habe.
“Schatz, Scheiße, soll ich was holen?”
“Nein. Danke.”
Nach einiger Zeit probieren wir es erneut. Wir frieren. Der Wind ist so scharf, wir brauchen erstmal eine Pause und gehen in die Diele.
“Was sollen wir denn jetzt machen?”, frage ich verzweifelt.
“Was?”
“Ja!”
“Wie was?”
“Ja was?”
“Weiter. Was sollen wir sonst machen?”
“Ja, das kriegen wir doch nie hin!”
“Ja, was willst du denn machen? Wir haben keinen, den wir jetzt anrufen können. Die Hochzeit ist nachher. Hör auf zu meckern, wir probieren es gleich nochmal.”
Wir atmen beide tief ein. Mein Herz, leichtes Stechen, wieder das unruhige Pochen, das bollert dann etwas heftiger für ein paar Schläge, dann geht es wieder. Tati auch. Hatten wir vorher auch schon ein paar Mal. Es macht unser Sorgen, aber was sollen wir machen?
Wir atmen beide tief ein.
Nach ein paar Minuten probieren wir es erneut. Am Ende haben wir fast zwei Stunden nur für das Zeltdach gebraucht. Wir hätten es nie vom Gerüst trennen sollen. Ein so eine ganz beschissene Idee.
Roncalli, deine Zeltleute können sich jetzt in Acht nehmen. Das können wir jetzt alleine hochziehen.
Dann kommt der DJ: “Moohooooin!”
Ich gehe schnell zu ihm: “Moin.”
“Du bist Stefan, nä?”
“Ja.”
“Super. Cool.”
“…”
“Du warst das doch, nä? Du stehst auf Hip Hop, oder?”
“Ähm…”
“Zeigst du mir mal alles? Wo kann ich mein Zeug denn aufbauen?”
“Ja, komm mit.”
Das hört gar nicht mehr auf. Nachdem wir alles abgesprochen haben – ja, das wird ja ganz schön sportlich, aber das wird schon –, schleppt der DJ gefühlte Stunden ein Teil nach dem anderen in die Diele. Ich habe Angst.
“So, das hamma!”, ruft er schließlich und winkt mich herein.
Zwei Boxentürme ragen in die Höhe, sie streifen bald die 3,80 Meter hohe Dielendecke. Ein DJ-Pult, Kabel, Mikrofone, eine Lichtanlage und viel gute Laune.
“Und, was sagste?”
“Joa.”
“Geil, oder?”
“Also, … ja, geil. Cool. Aber, also … so mega laut, hatten wir ja gesagt, machst du aber nicht, oder?”
“Naaaaaain.”
“O… kay.”
“Ganz ehrlich, und wenn wir mal aufdrehen, dann kannst du ja auch Bescheid geben. So ein bisschen Remmidemmi ist doch schon okay, oder?”
“Jaaa. Jaja, aber, ich glaube, du weißt was ich meine.”
“Jaaaaa.”
“Super.”
“Jaaa.”
Nachdem wir kurz vor knapp die Diele fertig hergerichtet haben, kommen auch schon die ersten Gäste. Unser Personal ist auch schon da. Wir machen schnell die Besprechung für die Feier, da kommt auch schon das Brautpaar. Der Sektempfang wird vorbereitet und dann geht das auch schon los.
Heute sind Tati und ich noch mal an der Bar, das versuchen wir in Zukunft zu vermeiden. Nicht, weil uns das keinen Spaß bringt, im Gegenteil, aber das bekommen wir mit den Kindern und dem ganzen drum herum einfach nicht mehr hin. Wir putzen ja im Moment großteils auch noch alles selber.
Der Abend schreitet voran, das Essen vom Caterer ist bald durch, wir haben jetzt High Life. Das ganze Geschirr und Besteck in unseren guten, aber nicht allzu großen, Gastro-Geschirrspülmaschine zu reinigen, ist eine logistische Meisterleistung. Vier Menschen hinter der recht überschaubaren Bar. Einer räumt von den Tischen ab, einer räumt in die Spülmaschine ein, einer holt alles raus, der letzte wischt / trocknet / poliert nach und räumt weg. Zwischendurch bedienen wir natürlich noch die Gäste. Bier, Cola, Cocktails, Selters, Bier. Das wird ganz schön hektisch.
“Achst u ia o a aain ink”, ruft ein so ein bildhübsches Girl uns entgegen.
“Was sagst du?”, rufe ich zurück.
“Aann aipiianai”, sie wird nicht deutlicher.
“Sorry!”
“Ein Caipirinha!”
“Alles klar.”, jetzt habe ich sie verstanden.
Da merke ich erst, wie laut die Musik ist.

Es war einmal im Land des Windes. Das lag so da, ganz still und stumm. Denn der Wind machte zu dieser Zeit einen großen Bogen um die Deiche. Es war im Sommer, nur die Grillen zirpten munter vor sich hin, und die Frösche quakten und blubberten. Die Sonne war schön, jeder genoss die Wärme und war guter Dinge.
Doch des Nachts, es war besonders dunkel, tönte ein dumpfes Pochen über das Land. Anfangs machten sich die Bewohner keine Gedanken. Doch als das Pochen nicht verstummte, gingen die ersten Bewohner besorgt vor die Tür und lauschten dem Geschehen. Das Pochen war immer noch klar und deutlich zu hören. Was konnte es sein?
Das kleine Haus am Deich. Da war noch Licht, da waren Menschen, und da war Musik. Das kleine Haus am Deich, des Nachts, das lag so da und war so gar nicht still und stumm.
Sie waren laut und sie waren betrunken. Sie sangen und sie schrien. Sie liefen über den Deich und sie sprangen und klatschten und tobten.
Verängstigt gingen die Bewohner wieder zurück in ihre Häuser und wunderten sich über die Bräuche und Sitten im kleinen Haus am Deich.

Das haben wir nie hinbekommen. Das bereuen wir bis heute. Jetzt ist es zu spät. Wie das so ist, manchmal, im Leben.
Die Vierländer sind ein geselliges Volk. Die Vierländer sind arbeitsam und pflegen ihre Beziehungen zueinander. Die Nachbarn sind etwas ganz besonderes. Lieber einen guten Nachbarn, als einen guten Verwandten, der weit weg ist, heißt es. Ja so ist das.
Wir sind keine Vierländer. Ich wäre so gerne. Doch wir werden es nie. Da kann auch niemand was dafür. So ist das einfach. Unsere Kinder nicht. Unsere Kindeskinder nicht. Die danach, wie auch immer man die dann nennen soll, die vielleicht. Mit Glück.
Wir haben das nie geschafft. Wir haben uns natürlich bei unseren Nachbarn vorgestellt. Aber so richtig, mal so richtig einladen, das hatten wir bei unserer Dauerüberforderung irgendwie nie richtig geschafft. Und dann das. Da ist eine Hochzeitsgesellschaft, die baut einfach draußen eine Anlage auf und spielt bis tief in die Nacht. Wir sind vor Ort, das war nie abgesprochen, das ist allen klar. Aber auf einmal tanzt da das Hochzeitspaar und die ganze Gesellschaft und du sollst da hingehen und den Abend zerstören. Dann weißt du genau, egal, was du machst, du kannst es nicht richtig machen. Wenn du da nicht hingehst und die laute Ballermusik abdrehst, werden die Nachbarn kommen. Die Polizei. Die Bankrotterklärung. Wenn du da hingehst und die laute Ballermusik abdrehst, hast du die Gesellschaft gegen dich. Im Zweifel ist das hinnehmbar, gerade weil Absprachen nicht eingehalten wurden, aber das Hauptproblem sind die dann folgenden schlechten Bewertungen im Internet. Und wenn das, gerade am Anfang, kommt, dann gute Nacht. So oder so. Absturz, I break together.
Wir sind dann natürlich doch hingegangen und haben die Musik abgedreht. Aber für die Nachbarn war es zu spät. Wir hätten uns am nächsten Tag direkt entschuldigen sollen. Haben es nicht und irgendwann viel zu spät gemacht. Es war wieder irgendwas anderes, das uns irgendwie wieder überfordert hat.
Entschuldigung dafür. Liebe Nachbarn, vielleicht werdet ihr uns nie richtig kennenlernen, weil wir diese Fehler gemacht haben, aber wir wissen, was wir an euch haben. Und wir Danken euch dafür. Und wer weiß, möglicherweise lernen wir uns ja doch noch mal richtig kennen.
Das hat uns auch niemand gesagt. Hätte ich auch niemandem geglaubt. Dass das einen psychisch so fertig macht. Du kannst alles geben, kannst an alles denken, aber wenn da Besoffene sind, die sich vergessen, dann gibt es kein Halten.

“Kannst du die Musik mal leiser drehen?”, schreie ich den DJ an.
“Was?”, schreit er zurück.
“Die Musik!”
“Was?”
“Die Musik leiser drehen!”
“Ich verstehe dich nicht, die Musik ist so laut!”
Haaaaha. Und ich dachte mir noch so, der Typ, ein so ein Typ, so Dieter Bohlen, das kann nicht gut gehen. Dann diskutierst mit dem, und du weißt genau, der macht dann zwei Songs leiser, und dann dreht der eh wieder auf. DJs, an Eventlocation’s best friend.
Dann gehst du da immer wieder hin, der macht einfach nicht leiser. Du achtest immer auf die Dielentüren, dass die immer zu sind, damit die Musik nicht nach draußen dringt. Wie das so ist.

“Hey Stefan, wie cool ist das denn?”, ruft eine Stimme von draußen.
“Was, wer ist da?”, frage ich Tati.
Da erscheint ein alter Freund von mir im Café an der Bar: “Stefan! Ich kann das nicht glauben, du hier, wie lange haben wir uns nicht gesehen?”
“Nicolas! Geil, was machst du denn hier?”, ich muss kurz überlegen, wie der Name ist. Gehirn, ganz schlecht.
“Ich wollte das mir mal angucken, du Spinner, du warst ja sogar im Fernsehen! Das gibt es doch nicht.”
“Ach!”
“Hast du mal Zeit, wollen wir uns mal zusammensetzen?”
“Ja, gerne, gleich. Esst doch erstmal was, der Kuchen ist super. Erdbeer oder Apfel, supi! Ich komme dann gleich, im Moment ist noch ein bisschen was los. Aber nachher müsste das klappen.”
“Cool!”
Nachher setzen Tati und ich mich zu ihm an den Tisch: “So, jetzt klappt das!”
“Cool! Stefan, erzähl, das ist doch verrückt!”
“Ja. Gut, wo soll ich anfangen? Das ist gar nicht so einfach.”
“Von vorne. Wie geil, hier so ein Ding. Da hat doch bestimmt jeder mit angepackt, Familienunternehmen und so, Freunde, dies das. Geil!”
“Ne.”
“Was?”
“Ja, ne.”
“Was meinst du?”
“Da muss ich leider direkt sagen, ne. Das haben wir alleine gemacht. Wir haben keine Familie. Ab und zu haben meine Eltern mal auf die Kinder aufgepasst, doch – mit meinem Vater habe ich schon handwerklich ne Menge gemacht. Aber ne, das ist leider kein Familienunternehmen. Verwandte, Onkel, Tanten, Cousins oder so, das hab ich hier ja alles gar nicht. Das muss ich leider so sagen. Ich wünschte, es wäre anders, aber es ist leider so, und da legen wir nach all dem Stress dann auch irgendwo Wert drauf.”
“Ok?”, Nicolas schaut etwas unsicher.
“Sorry, dass ich so mit der Tür ins Haus gefallen bin. Aber das denken immer alle. Ist ja auch der Standard-Weg. Meistens hat man das alte Elternhaus – das haben hier auch die meisten gedacht, mit denen wir mal reden – und macht was damit. Drum herum die Familie, schön wie beim NDR, diese ganzen Hofgeschichten oder was das da ist, da hilft dann auch irgendwie jeder immer mal, Omi, Opi bla, – na ja.”
“Ok?”
Stille. Ich ziehe meine Mundwinkel nach hinten und blicke verlegen nach unten auf den Tisch. Jetzt hab ich ja mal wieder auf die Kacke gehauen.
“Ok, habe ich übertrieben?”, frage ich Tati ungläubig.
“Ich finde nicht.”
Nach einem Moment mach ich einfach weiter: “Wir waren schon kaputt, bevor das hier überhaupt losgegangen ist. Also, ich meine, das Hauptproblem war ja das Haus an sich überhaupt. Wir hatten ja kein Haus, wir wollten ja eins retten. Alleine das Haus zu finden hat Jahre gedauert, und auf dem Weg zu dem Haus haben wir so viel Scheiße und Verarschung erlebt, dass man schon alleine da einen Krimi draus hätte machen können. Und dann die Finanzierung. Ich hatte am Ende Probleme mit meiner letzten Arbeitsstelle, da hätte ich eigentlich einfach abhauen müssen, aber ich durfte ja nicht arbeitslos werden, sonst hätte ich ja niemals einen Kredit von der Bank bekommen. Und dann mussten wir das alles ja hier sanieren. Das hat ja auch nochmal Jahre gedauert. Und erst dann konnten wir anfangen, das Geschäft auszubauen, neben unseren normalen Jobs und den drei Kindern.”
Nicolas schweigt weiter.
Tati: “Das hört sich alles so arrogant an. Aber das meinen wir nicht so. Wir möchten nur nicht auf dieses “Schöne-heile-Welt-Ding” reduziert werden. Das war es für uns einfach nicht. Wir haben das selber aufgebaut und nicht einfach was übernommen. Das ist eben Teil unserer Geschichte. Sonst wäre das, als ob man nicht alles sieht oder versteht.”
Ich unterbreche: “Wertschätzung. Das ist es. Wertschätzung hat uns jemand mal gesagt, als wir uns ausgeheult haben. Dass uns das mal jemand sagt, wie krass das alles ist. Das macht aber keiner. Ich denke manchmal, warum bekommen wir nicht mal irgendeinen scheiß Lokal-Unternehmer-Preis und nicht immer nur die, die eh schon alles haben. Aber das kannst du ja auch nicht bringen. Versteht ja auch keiner, hört sich ja auch dämlich an. Aber weißt du, was ich meine? Ich wünsche mir das auch für Tati. Die hat das Business ja fast komplett alleine aufgebaut. Ich war vollzeit woanders am Arbeiten, sie hatte auch noch Teilzeit und die drei Kinder. Und das Haus. Dass sie mal diese Wertschätzung bekommt. Ich meine, der Laden läuft. 2019 lief so viel besser als wir uns das hätten träumen lassen. Wir sind gut, in dem, was wir machen. Wir haben es uns gezeigt und sind super dankbar, wie viele Gäste wir schon hatten und wie happy die allermeisten doch sind … Ach … aber, ist auch egal.”
Wieder Stille.
“Okay, krass.”, dann versucht Nicolas doch etwas zu sagen: “Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Vielleicht ein bisschen wie ein Co-Autor oder so, oder ein Typ, der ein Lied geschrieben hat, und das ein Hit wird, aber nur der, der es singt, berühmt wird. Oder so.”
“Ja, vielleicht.”, sage ich zögerlich, und Tati und ich schauen uns tief in die Augen.
Einmal kommt uns eine Dame im besten Alter besuchen. Sie fragt, ob wir ihre special Aronia-Beeren-Marmelade mitverkaufen können. Wir so, so und so und sie so, o, wie schön. Dann, ganz unverhofft, sagt sie, wie begeistert sie von uns ist, dass wir das alles so schaffen mit den drei Kindern und so. Andere brechen schon mit einem zusammen. Und das sie das gleich gedacht hat, als sie von unserem Projekt erfahren hat.
Das tut so gut.

Das ist Weihnachten. Weihnachten im Land. Das schönste Fest im Jahr. Die schönste Zeit. Eine Sehnsucht, die niemals vergeht. Wir machen das jetzt einfach. Wir machen einen Weihnachtsmarkt. Den ersten Waldhüttenweihnachtsmarkt in den Vier- und Marschlanden.
Das wird ganz fantastisch. In den Hütten im Wald, da sind die Aussteller, wie kleine Zwerge, die hämmern da, die sägen da, die tüfteln, die nähen, die falten, die filzen, da ist ein Feuer im Wald, überall Lichter und Kerzen, da läuft cozy Weihnachtsmusik, es ist kalt, aber drin, da ist es warm.
Die Diele ist auch voll von Ausstellern, von Zwergen und Feen, von Zauberern und Riesen, die schmieden, die malen, die brennen, die schmirgeln, die schnitzen und die ritzen. Wir verkaufen Waffeln und Glühwein, Kekse und warmen Apfelsaft, Kuchen und Spekulatius und alle, die kommen, die werden sich freuen und lachen.
So stellen wir uns das vor. Und so kommt es dann auch. So oder so ähnlich. Die Riesen haben nicht ganz reingepasst.
“Da kommt irgendwie gar keiner.”, sagt Tati neben mir am Tresen in der Diele.
“Ach, das wird schon.”, erwidere ich und nehme sie in den Arm.
“Glaubst du, das reicht, was wir gekauft haben?”
“Bestimmt.”
“Und die Aussteller? Stell dir vor, da kommt niemand. Dann hängen die hier ein ganzes Wochenende ab und verdienen nicht mal was dabei.”
“Schatz, das wird schon.”
Ich weiß gar nicht, wo die Aussteller alle hergkommen sind. Wir haben einfach einen Aufruf über unsere Internetseite und die Sozialen Medien gemacht und irgendwie wollte jeder dabei sein. Filzer, Maler, Schneider, Drechsler, Schmuckmacher, Bildhauer.
Und dann kommen auch die Gäste. Und am Ende des Tages wissen wir jetzt schon, das war ein großer Erfolg. Weihnachten, welch Freude.
“Lass uns noch ein bisschen zusammensitzen!”, schlägt Tati den Stoffmädels am Abend nach dem Markt vor. Wir kennen sie flüchtig seit ein paar Jahren. Sie haben in Niedersachsen ein Bauernhaus saniert und veranstalten auch manchmal Märkte.
“Ja, klar, warum nicht!”
Ich finde die Idee auch ganz gut. Als alle weg sind, setzen wir uns an einen Tisch in der Diele und öffnen eine Flasche Wein. Rot. Weihnachten. Super. Gemütlich. Der Druck fällt von uns ab und wir fangen an, über Gott und die Welt zu philosphieren.
Bis heute weiß ich nicht, wie es dazu gekommen ist, aber irgendwann finden wir uns bei uns im Wohnzimmer wieder und gucken stockbesoffen alle zusammen Naked Atraction auf RTLII. Was für eine gelungene Aftershow-Party!

Kevins Christmas Night.

Und dann passiert so etwas, das ist nicht von dieser Welt. Etwas ganz warmes und weiches, etwas, das nicht in Worte zu fassen ist. There’s no magic in this world. Doch. Es liegt in der Luft, in den Lichtern in diesem Haus, in seinem alten Glanz. Ein Abend, den wir nie vergessen werden.
Es ist Weihnachtsfeier bei uns im Haus in der alten Bauerndiele. Ein alter Arbeitskollege hat für ein Einkaufszentrum ein großes Gewinnspiel, eine Art Schnitzeljagd im Landgebiet organisiert – wir sind die Endstation. Ein netter Abend mit den Gewinnern bei Speis und Trank mit anschließender Übernachtung in unseren Waldhütten.
“Ganz toll geworden!”, ruft uns Kevin zu.
Tati und ich haben den Raum hergerichtet und Getränke und ein paar Stullenplatten mit Brot, Aufstrich und ein bisschen Gemüseschnipsel bereitgestellt. Wir sind noch ein bisschen aufgeregt, alles ist neu für uns, vielleicht finden es ja auch alle scheiße.
“Ich freue mich für euch.”, sagt Kevin weiter. “Das ist wirklich ganz toll geworden.”
Ich bin immer noch ein wenig skeptisch. Kevin und ich kennen uns schon lange. Aber es war nicht immer leicht. Auf der Arbeit in der Agentur, dies das. Wie das so ist, er mit den Kunden ich mit dem Design. Da reibt das schon mal. Ich denke ja sowieso immer, das was bei mir nicht stimmt, habe auch jetzt immer noch Zweifel an allem, was wir hier gemacht haben.
Aber ich blicke in die Augen von all diesen Menschen, vielleicht 14 ganz unterschiedliche Teilnehmer und Helfer, und sie strahlen alle eine Freude und Ziefriedenheit aus, die man nicht übersehen kann. Auch Tati spürt das, und unsere Herzen beruhigen sich ein bisschen. Alle reden und lachen und witzeln miteinander, alle bedienen sich an unseren Stullen, alle trinken, alle sind, als ob sie sich schon immer kennen würden. Dabei haben sie sich erst heute kennengelernt.
“Danke, dass du an uns gedacht hast.”, sage ich Kevin vorsichtig. “Es freut mich. Du weißt ja, wie das ist.”
“Guck, sind doch alle happy!”
“Ja.”
“Ihr habt etwas ganz besonderes geschaffen. Das ist irgendwie, wie soll ich das sagen, man fühlt sich gleich wie zu Hause. Das ist wirklich schön.”
“…”, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
“Stefan, wir beide, hier, ist das nicht witzig!”
“Ja, ich kann das auch gar nicht glauben. Wie soll ich sagen, war ja auch nicht immer einfach zwischen uns, aber … ach… ”
“Du, lass das doch. Das war keine einfach Zeit. Jetzt sind wir hier!”
Dabei belassen wir es jetzt, und auch ich lasse mich in die wohlige Wärme des Abends fallen. Christmas Jazz klingt leise aus den Boxen und die Stimmung an dem Abend hat etwas, genau dieses Etwas, das ich mir für dieses Haus, diesen Ort gewünscht habe. Etwas Verbindendes. Etwas, das es nur an diesen Orten gibt. Etwas Gutes für die Seele. Ein Seelenort. Ein Ort, an dem man auftankt, der einem etwas gibt, nur weil man da ist, etwas, das echt ist. Etwas, dass man Leben nennt.
Und wie ich da so rumphilosophiere erhebt der Center-Manager sein Wort. Er freut sich über den Abend und dass alle da sind und dass es jetzt noch eine Überraschung geben würde: “Ich übergebe das Wort an Kevin.”
“Ja, ich habe das vorher kurz mit Stefan durchgesprochen. Wir haben ja einen Saunameister unter uns. Und hier gibt es ja auch eine Sauna. Von daher kann ich euch nur empfehlen, heute Abend noch die Sauna mit unserem Saunameister auszuprobieren. Handtücher und alles kommen vom Haus, von daher, sagt bescheid.”
Der Abend schreitet voran und irgendwann hat sich die erste Truppe Saunagänger zusammengefunden. Ich bin unter ihnen. Kevin auch. Der Saunameister und noch einer der Gewinner.
“Das habt ihr noch nicht gesehen, was ich heute Abend mit euch mache.” kündigt er mit fester Stimme den Saunagang an. “Ich weiß nicht, ob ihr Saunagänger seid, oder ob ihr Neulinge seid, aber das werdet ihr nie vergessen, was ich nachher mache.”
Wir gucken uns wortlos mit großen Fragezeichen an. Auch die anderen, die sich nicht trauen, scheinen gespannt. Was soll das sein? Ein Aufguss? Gin-Verköstigung bei 100 Grad Celsius? Birkenpeitschen? Hat man ja alles schon mal gehört.
“Das habt ihr noch nicht gesehen!”, wieder der Saunameister.
“Und wenn ich das sage, dann ist das auch so.”, der Saunameister lacht.
Das geht noch eine ganze Zeit so weiter, die Spannung, die er aufbaut, kann er unmöglich mehr in Auflösung bringen. So geil kann das gar nicht werden.
“So, dann man los.” der Saunameister winkt uns zu sich.
Wir gehen in die Strandbude, die hat die größte Sauna, ziehen uns um und finden uns schließlich wie Gott uns schuf in der Sauna wieder. Der Saunameister lässt auf sich warten.
“O Scheiße, Kevin, hättest du das gedacht?”, frage ich ihn.
“Tja.”, so viel sagt er jetzt nicht mehr.
“Was kommt denn da jetzt?”, will der dritte im Bunde wissen.
“Der wird da einen besonderen Aufguss machen. Was weiß ich, was soll da kommen?”, Kevin hat auch keine Ahnung.
Die ganze Zeit rauscht mir mein Leben vorbei. Die ganzen letzten Jahre auf der Arbeit, alles nicht so einfach, viele Zweifel, viel Unverständnis und auch viel Frust. Ich dachte lange Zeit, dass Kevin mich einfach scheiße findet, und jetzt sitzen wir hier nackt und verschwitzt in der Sauna, kann sich kein Mensch vorstellen.
Da erscheint der Saunameister: “So meine Freunde, jetzt geht das los. Ich hab euch ja noch gar nicht so viel von mir erzählt…”
Wie er so erzählt, frage ich mich die ganze Zeit, warum er noch einen Bademantel an hat und wir hier so nackt vor ihm sitzen. Und warum ich mich das überhaupt frage, und warum wir das hier überhaupt alles machen, ich kann das immer noch nicht glauben.
“Zur Erfrischung gibt es jetzt erstmal einen Gin.”, er reicht uns drei Kurze und wir trinken auf sein Kommando. “Einer geht noch. Dann ist aber gut.”
Dann lüftet auch er seinen Bademantel und unsere Blicke bleiben an seinem —
Was in der Sauna ist, bleibt auch in der Sauna. Nach einer dreiviertel Stunde kommen wir wieder runter und alle schauen uns gespannt an.
“Was hast du denn mit den Jungs gemacht?”, will Vanessa wissen und kommt aus dem Lachen nicht mehr raus.
“…”, der Meister lacht nur müde.
“Was ist denn mit Lars los? Der strahlt ja total!”, ruft sie weiter.
Immer noch sagt niemand etwas.
“Jetzt komm!”, nimmt mich Tati an die Seite. “Sag schon, was habt ihr gemacht.”
“Die offenen Haare, das Strahlen, der ist ja ganz aufgelöst. Was habt ihr mit Lars gemacht?”, Vanessa kann es wirklich nicht glauben.
“…”, allen ist das Grinsen den ganzen Abend über nicht mehr aus dem Gesicht zu bekommen. Doch keiner sagt etwas. Den ganzen Abend über und für alle Ewigkeit bleibt es ein Geheimniss.
Und so vergeht die Zeit, alle und alles verschwimmen mit ihr, als plötzlich – irgendwie waren fast alle draußen, zum Rauchen, zum Luft schnappen – die letzt verbliebenen in der Diele anfangen zu knutschen. Kevin und Vanessa. Alle gucken heimlich durch die Fenster und fangen an zu tuscheln und zu kiechern. Wie früher in der Schule. Wie früher, als es immer nichts gab, als nur diesen einen Abend. Der Abend, die Party, die Nacht, das ganze Leben komprimiert in Augenblicke und Emotionen.
Ein Abend. Dieser Abend.
Diese Leichtigkeit an diesem Abend werden wir nie vergessen. Ein Geschenk. Das ist Magic. Das ist, wofür wir das alles machen. Genau das!
Und dann gründen die noch eine Familie. Ein Sohn kommt zur Welt. Was ist das schön.
Und so folgen auch noch weitere schöne Veranstaltungen. Ein Lichterfest mit der tollen Band Planet Pluto, ein Naturfest mit Führungen durch die Landschaft und Kräuterkursen, kleinere Konzerte und weitere Tage des offenen Denkmals.
Ein Konzert drückt vielleicht am Besten aus, was wir an diesem Haus und seinen Gästen so schätzen. Es war unsere erste Veranstaltung überhaupt. Ich meine, ganz gut Gitarre spielen zu können. Ein Gitarrist kündigt sich an. Er probt irgendwann, und ich habe erste Zweifel, ob das so eine gute Idee ist. Wir machen trotzdem Werbung. Dann ist der große Abend da.
Die ersten Gäste trudeln ein. Der Gitarrist nimmt seine Gitarre, animiert die Kinder, die auch gekommen sind, und legt los.
Eine halbe Minute, dann verspielt er sich das erste Mal. Nicht so schlimm und so weiter und sofort, sagt er, und beginnt von vorne.
Er verspielt sich wieder.
Das geht den ganzen Abend so.
Es ist mir unangenehm. Unsere erste Veranstaltung, und es ist – ja, geht so. Tati weiß auch nicht so recht, was sie machen soll.
Im Laufe des Abends fällt uns dann aber etwas auf, das viel wichtiger und viel schöner ist, als ein perfektes Gitarrenspiel. Es ist das besondere etwas an diesem Abend, dass trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, jeder, und zwar auch die Erwachsenen, bei allen Liedern mitsingt, mitklopft oder mittanzt. Alle freuen sich und alle beschleicht irgendwann dieses heimelige Gefühl, hier irgendwie Teil einer Art Familie geworden zu sein.
Das ist Magic.
Und das fühlt sich alles so gut und richtig an.
Danke Klaus. Ich mag Menschen, die optimistisch sind. Menschen, die einfach was machen, auch wenn nicht alles perfekt ist. Aber sie glauben an das Gute. Und das brauchen wir heute mehr denn je.

“Fuuuuck!”, ich schreie.
Nachts. Dunkel. Tati schreit und weint und ich renne raus. Sie liegt auf dem Boden und ist über das Privat-Schild an der Leine gestolpert. Ich zittere. Ich nehme ihr Handy und leuchte sie an. Sie hält ihr Knie und ihr Gesicht ist dreckig.
“Was ist passiert?”
“Lass mich!”
“Schatz, was ist passiert? Müssen wir ins Krankenhaus?”
“Nein!”
“Komm, ich helfe dir!”
“Lass mich!”
“Fuuuuuuuck!”, ich schreie. Urknall. War der laut? Hört sich so an. Ich bin lauter. All mein Frust, all meine Trauer, all mein Hass und mein ganzes Leben verbinden sich in diesem Schrei und schreien raus. Die Hunde der Nachbarn bellen. Egal. Die denken sowieso. Lass sie denken.
“Schatz, komm jetzt!”
“…” sie weint immer noch.
Drinnen angekommen legt sie sich auf das Sofa und weint weiter. Ich renne ins Bad, schmeiße alle Kisten aus den Schränken, schmeiße die Medikamente durch die Gegend, und irgendwann finde ich die verdammte Arnika-Salbe. Zusammen mit einem Kühlpad bringe ich ihr alles und lasse sie wieder in Ruhe.
Ich renne zur Feuerschutztür und schlage meinen Kopf dagegen. Blut. Immer wieder. Warum ist das alles so? Ich spüre nichts. Und ich schlage auch nicht. Aber viel gefehlt hat nicht. Warum hört das nicht auf? Kann das nicht endlich mal einfacher werden bei uns? Warum ist bei uns alles immer so schwer? Warum baut nicht für uns mal jemand einen Schuppen und sammelt Fördermittel. Warum machen wir immer alles alleine?
Dann geht es ihr etwas besser und ich denke an Harry Potter. Da war auch nicht immer alles ganz einfach.

Da ist keine Ruhe. Nirgends. Kein Zimmer, kein noch so kleiner Raum, in den man sich zurückziehen könnte. Raum, es muss nicht mal ein materieller Raum sein, nur irgendwas, wo man ein klein wenig Ruhe haben könnten. Nichts. Kein Schlafzimmer. Auch draußen, überall Gäste oder Caterer oder Handwerker oder Besucher oder Menschen, keine Tiere. Alles toll, hat alles seine Daseinsberechtigung, wir lieben unsere Gäste und alles, aber manchmal geht es einfach nicht mehr. Dann brennt da die Glühbirne im Kopf durch und dann braucht man Abstand. Aber den gibt es nicht. Die Glühbirne brennt durch, doch der Rauch bleibt. Der verfliegt nicht oder so. Der sammelt sich da, und wenn noch eine Glühbirne durchbrennt, und es gibt viele Glühbirnen, dann wird alles irgendwann schwarz. Der Hate ergreift Besitz von einem, weil er nicht mehr raus kann. Du kannst nicht laut sein, etwas heraus schreien, du kannst nicht irgendwo gegen hauen, überall würden alle alles mitbekommen. Mein Herz. Meine Seele. So war das nicht geplant.
U2 oder U3. Manchmal wünschte ich, ich hätte die U3 genommen.

Das merkt man gar nicht. Das alles merkt man gar nicht. Man merkt das gar nicht, was man hier alles gemacht und aufgebaut hat. Man steckt da so drin, wie in einem Strudel, der saugt einen auf, erst wenn man unten angekommen ist, wenn es zu spät ist, merkt man, da war doch was, aber da ist es zu spät. Die Ruhe im Zentrum des Strudels setzt erst ein, wenn es zu spät ist. Man müsste mittendrin das alles merken, wie groß und toll und wie verzaubert das alles ist. Aber das merkt man erst nachher, weil man vorher manchmal nicht mal mehr richtig Zeit zum atmen hatte. Wie wenn ein so ein Rockstar sagt, er hat seinen Aufstieg, seine Weltrockstarkarriere gar nicht richtig mitbekommen, weil er nur auf Tour war, Konzerte, Interviews, Proben, Reisen, Flüge, Tourbus, Groupies, das alles, das hat er erst im Nachhinein als er fünfzig war oder so, gemerkt. Fünfzig oder noch älter, wie der schwule verlotterte aber doch sehr charmante Altrockstar bei Tatsächlich Liebe. So einer. So ist das. Erst ganz viel später haben wir das gemerkt. Als wir langsam Mitarbeiter einstellen konnten, als wir zwischendurch auch mal in Ruhe atmen konnten, haben wir das gemerkt. Wie groß und wie toll und wie verzaubert das alles war, ist.
Als die Gefühle wieder ein bisschen da waren. Da hat man das alles ein ganz bisschen verstanden und gemerkt.

“Warum macht eigentlich keiner eine Show aus uns?”, fragt Tati mal wieder.
“Weil wir nur so klein sind!”, seufze ich. Unser großes Problem. “Und weil wir nicht Knut Splett-Henning sind!”, da lache ich ein bisschen. Knut Splett-Henning wieder, die Gutshausretter. Mein großer Held. Achthundert Folgen auf NDR. Ich habe alle geguckt. Rettet nur eben kein kleines Bauernhaus sondern Gutshäuser. Weiß nicht, wie der das macht. Aber egal, ich liebe ihn und seine Häuser auch. Verdammt!
“Knut wer?”, Tati kennt ihn noch nicht.
“Egal.”
“Ne sag doch mal!”
“Weißt du was? Vielleicht schreiben wir das alles einfach selber mal auf! Wenn das schon keiner filmen will!”, ich lache.
“Was?”
“Na, die ganzen Sachen, die wir mit unseren Gästen so erlebt haben!”
“…”
“Warum denn nicht? Ich meine so blogmäßig. Das müssen wir doch irgendwie nutzen! Unser Gäste-Blog. Nicht die Gäste schreiben bei uns rein, wir schreiben die verrücktesten Sachen unserer Gäste auf. Vielleicht bringt uns das ja irgendwie weiter!”
“…”
“Ja und selbst wenn nicht, oder nur ein paar mehr Leute auf unser Haus aufmerksam werden. Vielleicht auch auf Youtube oder so. Aber ein paar der heftigen Geschichten eben!”
“Ja, warum nicht?”
“Ja. Ja.”
“Komm!”

Gäste-Blog 01: Menschen sind Menschen sind Menschen

Unser kleines Haus, ein paar Ferienwohnungen, ein bisschen Eventlocation und hier und da auch Café. Doch so unglaublich viel, was wir erleben. Und weil das irgendwo hin muss – Therapie und dergleichen wollen wir noch nicht in Anspruch nehmen – schreiben wir das jetzt auf. Ist vielleicht auch ganz lustig an der ein oder anderen Stelle. Und vor allem, es ist alles so passiert.
Wir lieben unsere Gäste und alle sind happy. Wir, die Gäste, das Universum. Doch, und das ist völlig normal, es kommt auch vor, dass nicht immer alles klappt oder so ist, wie man es sich vorstellt. Auch alles in Ordnung. Wir arbeiten weiter an uns. Aber ganz manchmal kommt es auch vor, dass Gäste – wie soll man das nennen? – so dermaßen aus der Reihe tanzen, dass es nicht mehr wirklich lustig ist und, ja, man könnte sagen, uns sogar manchmal ein bisschen an unserem Lebenstraum zweifeln lassen. Aber nur manchmal.
“Das einzige, was stört, ist der Kunde. Komplett überarbeitete und aktualisierte Milleniumsausgabe” Ein Verkäuferratgeberklassiker unter den Klassikern der Verkaufsratgeber. Menschen. Wir sind alle Menschen. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Und doch gibt es solche und solche. Und hier sind ein paar Geschichten von den solchen. Und ein paar lustigen. Und sehr schönen.

Gäste-Blog 02: Der Hundenapf

Da liegt auf einmal ein Hundenapf rum, auf dem Boden. Ich sehe ihn, wenn ich in den Hütten putze. Ich sehe ihn, wenn ich Gartendieseunddas im Wald mache. Ich sehe ihn im Augenwinkel, wenn ich an ihm vorbeigehe. Redet er schon mit mir? Hey, hey du? Ich bin dein Gewissen. Lässt du andere Menschen auch so links liegen?
Warum liegt der da überhaupt? Ich habe keinen Hund. Auch keine Katze oder irgendein anderes Tier, das diesen benötigen würde. Vögel. Vögel schon. Viele Vögel im Wald. Die würden sich auf jeden Fall freuen, wenn sie immer hier etwas zu Trinken hätten. Brauchen sie aber nicht. Denn sie haben einen langen, tiefen und breiten Graben. Bracks, Seen und die Elbe. Also genug Wasser.
Der muss von einem Gast kommen. Der hat den hier liegengelassen. War wohl mit einem Hund bei uns in einer Hütte. Darf der ja auch. Hunde sind toll.
Ein so ein Typ schreibt uns irgendwann eine E-Mail. Sehr geehrte Frau Timmann, ich habe bei Ihnen versehentlich meinen Hundenapf liegen gelassen. Können Sie mir diesen bitte an folgende Adresse schicken? Und so weiter und sofort. Corona. Erst der erste Lockdown. Jetzt der zweite Lockdown. Kein Geld. Keine Zeit. Keinen Kopf. Für so etwas.
Sehr geehrte Frau Timmann, ich weiß nicht, ob Sie meine erste E-Mail erhalten haben. Es geht um einen Hundenapf. Ich habe diesen versehentlich bei ihnen liegen gelassen. Könnten Sie mir diesen bitte an folgende Adresse schicken? Und so weiter und sofort.
Das geht so über Wochen und Monate. Das meint der nicht ernst. Wert, 3 Euro. Nerven? Keine.
Sehr geehrter Herr Sowieso, seien Sie mir nicht böse, aber stecken sie sich ihren kleinen ver*** Hundenapf sonstwohin. Alle Zeit, die Sie und ich hier reingesteckt haben, ist jetzt schon nicht mehr wert, was dieser kleine ver*** Hundenapf kostet. Also kaufen Sie sich bitte einen neuen kleinen ver*** Hundenapf und lassen mich mit ihrer kleinen ver*** Sch*** in Ruhe. Ich verwende ihn nun als Vogeltränke, ist also alles nachhaltig und so. Mit freundlichen Grüßen, Tatiana Timmann.
Geht natürlich nicht.

Gäste-Blog 03: Erdbeerkuchenprügel

Der guckt. Kleine Augenschlitze, Augenbrauen runtergezogen. Hass. Verachtung. Gewalt und Abscheu. Wahn. Jack Nicholson, Shining – ein kulleräugiges Kaninchen dagegen. Ich habe Angst. Sein Gegenüber blickt schüchtern zu mir rüber, und es ist klar, was er denkt. Die Schlange wird immer länger, ich weiß nicht, was ich machen soll. Panik. Schweißattacke. Tati hat auch nur Fragezeichen über dem Gesicht. Eine Gruppe rüstiger Damen betritt das Café. Jetzt wird es richtig eng.
“30 Kilometer bin ich extra hierhergefahren!”, ruft der Wahnsinnige.
“Wollen wir uns vielleicht einigen?”, versucht der andere zu schlichten. “Hälfte, Hälfte?”
Au ja, ein Friedensangebot.
“30 Kilometer!”
“…”
Ich ahne, es gibt kein Happy End. Das Drama begann mit einem kleinen, nicht mit uns abgesprochenen Artikel in der Bergedorfer Zeitung. Darin hieß es so schön, dass es am Wochenende lecker Kaffee und Kuchen im Haus Anna Elbe gäbe. Total super, wir freuen uns sehr. Nur wussten wir nichts davon. So wurden wir beide Tage am Wochenende komplett überrannt und hatten natürlich nicht genug Kuchen da. Und das ist auf dem Dorf eine ganz schlechte Sache.
Jetzt kriegt der Wahnsinnige acht Stück Erdbeerkuchen und der Friedliche nur zwei. Die rüstigen Damen sind nie wieder gekommen.

Gäste-Blog 04: Der Bayer

Sie kommt runter und heult. Sie heult wie ein Schlosshund, ich renne zu ihr und drücke sie ganz fest an mich. Tati.
“Der hat mich komplett fertig gemacht!”, schluchzt sie in meine Arme.
“…”, ich weiß nicht, was ich sagen soll.
“Der hat mich richtig angemacht! Hier und da und da und das und das. Alles scheiße.”
“Oke oke, oke. Ganz ruhig. Ganz ruhig!”
“Was sollen wir denn jetzt machen?”
“Wie was sollen wir denn jetzt machen?”
“Ja der macht uns doch jetzt voll fertig im Netz!”
“Jetzt warte doch mal!”
“Was warten? Das ist doch voll heftig jetzt!”
“Dann erlassen wir dem vielleicht ein bisschen was. Ich meine, was war jetzt überhaupt das Problem?”
“Der ist doch schon weg und hat gezahlt!”
“Was war denn jetzt alles?”
“Ach, alles zu klein. Hat von irgendwelchen Balken erzählt und dass da irgendwelche Lüsterklemmen noch rausgeguckt haben oder so! Und was mit dem Frühstück. Dass seine Tocher oder so kein zu Trinken hatte! Aber das hätte er doch bestellen können. Er wusste doch, was dabei ist!”
“…”
“Das hätte ich mir irgendwie denken können. Mareike hatte auch schon gesagt, dass der Typ in der Diele voll rumgemeckert hatte. Sie meinte, der hat die voll angemacht! Aber warum haben die denn nichts gesagt? Wir sind doch immer erreichbar.”
Mareike und ihr Mann sind Gäste, die schon öfters bei uns waren. Man könnte sagen, Öftersgäste. Also fast schon Freunde. Die beiden haben bei uns in einer Waldhütte ihre Flitterwochen verbracht.
“Schatz…”, ich versuche Tati weiter zu beruhigen.
“Der will uns fertig machen, hat der gesagt. Der will uns im Netz voll fertig machen!”
“Komm… “, nichts zu machen.
“Das kann doch nicht sein! Er hätte doch am Anfang gleich was sagen können, dann hätten wir uns doch irgendwie einigen können. Aber nach einer Woche?”
“Ich weiß, ich weiß. Schatz, das wird schon alles.”
Zwei Jahre später. Eine superschlechte Einsternebewertung mit einer romanhaften Negativbeschreibung auf ein so einer Bewertungsplattform für so coole Trips prangert uns auf ihrer und der ersten Seite bei google auf Position sechs seit zwei Jahren (über 730 Tagen) an. Hunderte Bewertungen, alle gut. Natürlich auch mal was, was nicht passt. Normal. Aber dieser niederschmetternde Bewertungsroman auf dieser Plattform, diese eine Bewertung, steht seit zwei Jahren prominent auf allen google-Suchergebnissen ganz oben. Unsere Antwort sieht keiner mehr. Natürlich haben haben wir uns an diese Plattform gewandt. Aber eine Telefonnummern gibt es dort nicht. Und eine E-Mail-Adresse auch nicht. Da muss man ein Formular ausfüllen. Gut. Zurück kommt eine Standard-Antwort vom Computer. Stimmt alles so, die Bewertung bleibt. Dann sucht man weiter. Ein weiteres Formular gefunden. Die gleiche Standard-Antwort. Stimmt alles so. Gut. Dann schalten wir einen Anwalt ein. Doch der sagt, keine Chance.
Der Gast hat sich beschwert, dass es freiliegende Balken in der Wohnung gibt. Aber natürlich gibt es das. Soll es ja auch. Es ist ein über 300 Jahre altes Bauernhaus. Dafür kommen die Leute. Aber nicht dieser Herr. Der will die Balken nicht sehen. Das wäre ja so, als ob man sich in einem Luxus-Hotel über die vielen Pools beschweren würde. Aber das interessiert niemanden bei dieser Plattform. Direkt an einer Hauptstraße, steht da auch noch. Gut, wenn man einen Deich direkt an der Elbe Hauptstraße nennt, nur weil vielleicht mehr als drei Autos am Tag langfahren, gut. Hat sich noch nie jemand beschwert. Aber gut. Nur dieser Herr. Und das Frühstück. Da wäre ja gar kein Orangensaft für seine Tochter dabei. Aber das hätte er doch bestellen können. www.wirsindkeinfünfsternehotel.de.
Das Beste dabei, wir haben uns bei dieser Plattform nicht einmal mit unserem Haus angemeldet. Hat einfach ein anderer gemacht. Dieser Gast. Und mit unserer Antwort auf diese Bewertung haben wir indirekt den Nutzungsbedingungen zugestimmt. Jetzt kommen wir da nie wieder raus. Klar, auf jeder dämlichen Seite ploppen mittlerweile hundert Coockie-Warnungen auf. Aber vor so etwas wird kein Mensch gewarnt.
“Was ist denn da los? Haben Sie das im Internet gelesen?”
Wir werden sogar in unserem Café auf die Bewertung angesprochen. Jahre später. Es bleibt da, eingebrannt in die Welt des Webs, langlebiger als Atommüll. Und dann erklär mal wem diese Bewertung zwischen Tür und Angel an der Bar im Café.
Wir wissen nicht, was diese Bewertung alles bei uns kaputtmacht. Immer noch. Aber ich weiß, dass schon Cafés oder Restaurants durch Bewertungen im Netz schließen mussten. Und das möchten wir nicht.
Ich weiß nicht, warum dieser Herr uns so fertig gemacht hat. Er hätte immer mit uns reden können. Eine Woche lang, jeden Tag. Er hat nur mit dem Internet geredet.
Der kam aus Bayern oder so.

Gäste-Blog 05: Aliensex aus der Dose

Ja witzig, denkt man, wenn man das so hört. Ist es aber nicht. Für uns zumindest.
“Brrrrjjjuuuuuuuuuiii”
“Schatz!, hast du das gehört?”, ich reiße meine Augen auf und ziehe mir die Bettdecke vom Kopf.
“…”, Tati schläft.
“Brrrrrrwwwwwjjjjjjjjjjuuuuuuuiiiich”
“Schatz! Jetzt wach auf!”, ich werde lauter und rüttel an ihr.
“Wwwww…”, Tati rührt sich.
“Hast du das nicht gehört?”
“Brrrrrjjjjuiiiiii!”
“Hier, schon wieder!”
Dann stehe ich auf. Kann doch nicht wahr sein! Ich öffne die Tür, doch alles ist still.
“Schatz, komm ins Bett!”, Tati will schlafen.
“Da war aber was!”
Dann bleibt es ruhig und ich gehe wieder ins Bett.
“Ooooooo, uh, ooooooh!”
“Ja! Ja! Ja! Jaaaaa!”
“Ooooooooooh jaaaaaa!”
“Komm schon! Komm schon, ja, ja, jaaaa!”
“Ooooooooh!”
Was denn jetzt schon wieder? Eineinhalb Wochen Urlaub, das erste Mal seit Jahren. Rügen. Schönschön. Das war auch nötig, wir gingen schon lange auf dem Zahnfleisch. Jetzt, die erste Nacht wieder hier, halbdrei Uhr nachts. Wir schlafen im Bauwagen neben den Waldhütten und hören diese recht eindeutigen Geräusche, die nach mehr oder weniger vielversprechendem Sex klingen.
“Ooooooooooh jaaaaaa!”
“Komm schon! Komm schon, ja, ja, jaaaa!”
“Ooooooo, uh, oooooo”
“Ja! Ja! Ja! Jaaaaa!”
“Ooooooooh!”
Hört nicht auf. Drei Uhr nachts. Ich dreh durch und renne raus.
“Ooooooo, uh, oooooo”
“Ja! Ja! Ja! Jaaaaa!”
Sex aus Lautsprechern. Und Aliens? Ja, vielleicht waren es die Aliens. Fox Mulder, Scully? Ein Jungenstreich oder vielleicht mehr? Die stehen da so rum. Diese Boxen, da, auf dem Boden neben der Waldhütte. Die Lümmel von der ersten Bank. Der Film übernimmt mein Leben, und ich verwandle mich in den Oberstudiendirektor Dr. Gottlieb Taft.
“Also meine Herrschaften”, sage ich leicht nasal. Nein! Leider ist das kein Film. “Hallo?!”
Keiner reagiert.
“Leute, könnt ihr mal ruhig sein?!”
Keiner reagiert. Ich sehe aber auch niemanden mehr und gehe zurück in mein Bett. Danach ist alles ruhig.
Um sechs klingelt der Wecker, die Putzfrau ist auch schon da. Chaos, wohin das Auge reicht. Die nächste Hochzeit fängt in wenigen Stunden an, da kommt auch schon das entsprechende Brautpaar. Wowiewas? Jaja, alles kein Problem. Zelt hier, ne, da. Wohin die Torte? Ach nur achtzig Zentimeter? Noch eine Gruppe junggesellenartiger Mädels, die fünf Tonnen Lebensmittel irgendwo zwischenlagern wollen. Die sollen doch erst fünf Stunden später anreisen. Na gut. Die Hochzeit geht los. Warum gibt es zu wenig Getränke? Schnell losfahren, noch alles nachkaufen.
“Haltstopp! Können wir zuerst Kaffee machen und danach dann den Sektempfang? Die Brauteltern stehen im Stau.”, Zwischenruf der Trauzeugin.
“Aber das Service-Personal ist doch noch gar nicht da.”, Antwort Tati.
“Warum?!”, die Zeugin.
“Kriegen wir schon hin!”, weil ihr die nicht früher haben wolltet, kannst du aber auch nicht bringen in der Situation.
Das geht so weiter, den ganzen Tag. Dann kommen die Mädels und wollen ihre fünf Tonnen Lebensmittel. Und wir fragen uns, was wir den ganzen Tag von morgens bis Abends ohne Unterbrechung gemacht haben.
Ein ganz normaler Tag. Nacht.

Gäste-Blog 06: Die Maurer in der Dusche

Ich stelle mir das in etwa so vor:
“Juuunhungs, supi! Kommt rein hier! Bodentiefe Dusche und voll groß!”
“Jupie! Endlich mal wieder zusammen duschen!”
“Werner, hier, hast du nicht deine Ente dabei?”
“Jaaaaa! Das wird schön! Und die extra Blubberseife hab ich auch dabei!
Große, nackte, starke Männer. Fünf Stück. Dicke Bäuche und dicke Arme. Alle unter der Regendusche und jeder schwurbelt, spielt oder grabscht an sich rum. Alles muss sauber. Einer nimmt die Handbrause und bespritzt noch die anderen. Ein Riesenspaß ist das. Das Wasser fließt und strömt und tut gut. Heiß ist das, richtig heiß. Nach den ganzen kalten Steinen und dem kalten Mörtel, den kreischenden Sägen und dem kalten Wind da draußen. Die Seife blubbert wie es die Packung verspricht, und alle stimmen I’m singing in the rain ein. Es hört sich ein bisschen schräg an mit den tiefen und starken und harten Stimmen. Aber alle haben die Zeit ihres Lebens. Stunden lang.
Danach geht einer nach dem anderen aus der Dusche. Erst der ganz Große, dann der etwas Kleinere. Am Ende die fast gleich großen. Jeder nimmt ein ganz großes Handtuch – die gibt es immer bei uns dazu – und rubbelt sich ab. Manchmal rubbelt einer mit dem Handtuch auch am anderen rum. Da, wo man nicht so gut hinkommt. Sie freuen sich jetzt auf RTL II. Der Fernseher ist auch ganz groß. Ich weiß nicht, ob sie noch die Sauna benutzt haben.
“Jau, kommwa klar mit.”, einer der Bauarbeiter am Telefon bevor sie alle zu uns gekommen sind. Muss man ja abklären, nicht dass da was schiefläuft. Vier, fünf so ne starken Männer. Fleischberge. Stark, massig, Dreitagebart.
“Aber wirklich, wir haben nur ein Schlafzimmer! Das wird eng mit fünf Leuten!”, erwidere ich.
“Jau, verstan’n.”
Wir haben Angst. Wenn die kommen und das reicht denen doch nicht an Platz. Fünf so Maurer, das wird lustig. Doch alles bleibt ruhig. Die ganze Nacht. Wir freuen uns.
Am Morgen gehen wir in die Diele, um eine Hochzeit vorzubereiten, da rutsche ich auf einer Wasserlache aus. “Scheißewasistdennhierlos?!”
Wir gucken uns erschrocken um und entdecken noch zwei, drei andere. Die Tatort-Melodie erklingt und wir gehen der ganzen Schose auf die Spur. Wie kann das sein? Eigentlich war gar keiner in der Diele. Da passiert es – es tropft mir auf den Kopf. Ich schließe die Augen, alles schwarz. Die Zeit steht still. Zigmillionen Bilder fliegen mir durch den Kopf. Sie haben alle mit Geld zu tun. Ich gucke langsam nach oben, da platscht mir ein weiterer Tropfen direkt in mein Auge. Linkes. Mein Herz pocht und ich will es nicht wahrhaben, aber die Maurer haben wohl ein bisschen zu wild in der Dachgeschosswohnung geduscht.
Ist auch nie wieder vorgekommen.

Gäste-Blog 07: Die Feuerschale

Wir kommen abends nach Hause und bamm! Feuerschale brennt. Direkt auf dem Boden. Keine Steine drunter. Wochenlang Trockenheit. Im Wald. Waldbrandgefahr. Reetdach. Haus, teuer. Blutdruck, hoch. Ich erkenne im Feuer die verkohlten Reste eines Stammes, den ich immer für meine Rasenmäherplastikgaragentürstoppvorrichtung verwendet hatte. Feuer ist für den Ottonormalmenschen ja auch eine ganz besondere, quasi eine fast schon archaische Erfahrung, die man sonst nicht so oft im Leben macht. Ich stelle mir vor, wie das Paar, das vor der Feuerschale sitzt und verträumt in das Feuer starrt, an Spießen über dem Feuer dreht. Entschuldigung.
Die Feuerschale war hinter dem Schuppen versteckt. Der Weg zum Schuppen war mit einem Baumstamm versperrt. Die Feuerschale war vom Platz aus nicht einsehbar. Wie kommt man also dazu, eine Feuerschale, die man nicht sieht, die hinter einem Schuppen steht, die von einem Baumstamm versperrt wird, nach vorne zu schleppen, um sie ohne Schutz auf den trockenen Rasen im Wald neben einem Reetdachhaus zu stellen, um dann mit den im Wald liegenden Tannenbaumstämmen ein Feuer von der Größe eines Hochhofens zu entfachen?
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Zu den vielen schönen Dingen, die so passieren, passiert langsam aber doch deutlich zu spüren, oder eben nicht zu spüren, sozusagen der Next Level unseres Traumes. Wir sind nur noch eine Hülle. Eine ewig lächelnde, ewig zur Stelle berufene, ewig im Emergency bereitstehende und ewig und immer Auskunft gebende Hülle.
Erst ist die Zeit kaputt. Jetzt sind unsere Gefühle kaputt. Nicht mehr existent. Nicht kaputt, sie sind einfach nicht mehr da. Wir sehen die Welt da draußen, wir sehen, was wir geschafft haben und wie stolz und glücklich wir sein könnten. Wir sind es aber nicht. Wir sehen das alles, wir sehen die Welt, der schöne Sommer, wir gehen in den Beachclub, wir sehen unsere wunderbaren Kinder und ihre Freunde, wir sehen uns, wir sehen das alles, aber nichts davon berührt uns mehr.
Wir haben Angst.
Was nützt der schönste Traum, wenn wir ihn nicht mehr träumen können? Wir sind angekommen, wir sind da, es ist real, aber die Realität wollte uns nicht mehr.
Etwas anderes fällt uns auch auf: Keine Freunde, keine Feiern, kein Wochenende. Das zollt seinen Tribut. Seit der Freundeskreis Rieck Haus aufgelöst wurde, zerfallen unsere Beziehungen in ihrer Einzelteile, das heißt Einzelpersonen, das heißt, Tati und Stefan mit David, Johanna und Mathilda. Es gibt nur noch unser Haus. Das Landleben in den Vier- und Marschlanden, das wir so genossen hatten, die Umzüge, die Tradtionen, Osterfeuer, Jahrmärkte, Feste, das Erdbeerfest, Hoffeste, alles weg. Und das tut uns Leid. Auch die Bekannten und Freunde, wir sehen uns kaum noch. Das tut uns Leid. Wir sind kein Teil mehr davon. Wir haben ein Haus.
Dass wir keine Geschwister haben, keine Onkels oder Tanten hier in Hamburg, dass wir neu sind in Altengamme, all das, das merken wir nun. Natürlich kann man nicht verlangen, dass ständig einfach jemand uns hilft, anpackt oder das Café leitet. Aber alleine das Gefühl, dass im Notfall mal jemand da ist, das würde schon etwas helfen. Meine Eltern, sie haben schon so viel für uns getan, Tatis Eltern, wir haben ja über die Jahre auch schon die ein oder anderen Freundschaften geschlossen. Aber es geht nicht, ein Projekt wie dieses, dort können sie uns nicht mehr richtig helfen. Wir sind allein. Wir wussten das vorher. Auch, dass wir immer dann arbeiten, wenn andere frei haben. Aber nach all den Jahren – wir waren schon ziemlich belastet, bevor das eigentliche Geschäft überhaupt losgegangen ist – schlaucht uns das Leben nur noch.
Die Gäste sind immer da. Wir lieben sie, aber du kommst aus der Tür, möchtest nur kurz den Müll rausbringen, hast dich kurz vorher noch mit Tati oder den Kindern gestritten, und dann kommen die Gäste und wollen alles wissen. Smile. Das Haus der aufgehenden Sonne. Die sehen die schöne heile Welt, wenn die wüssten was dahinter los ist. Du musst einfach Lachen und machen. Neben dem Wohnzimmer ist die Eventlocation. Bumm bumm bumm. Das ist auch klar. Andere Gastro-Familien überleben das auch. Bumm bumm bumm. Und trotzdem, wir müssen uns zusammenreißen. Wir lieben das Haus, aber es bleibt: Für das, was wir damit veranstalten, ist es eben ein bisschen klein geraten. Du kannst nicht weg. Du kannst nirgends hin. Wir haben keinen Raum für uns. Du kannst nirgends schreien. Wir sind am Limit. Wie oft renne ich mit Getränkekisten, Holzbalken oder Kuchenblechen irgendwo gegen. Meine Beine sehen aus wie eine Giraffe, nur bunter. Blaue Flecken, braune Flecken, die schon älter sind, rote Flecken, wenn ich mir gerade mal wieder was aufgerissen habe.
Auch unser Lager – im Wohnzimmer. Das freie Personal, wenn wir mal Unterstützung für das Putzen oder den Service brauchen – im Wohnzimmer. Keinen zweiten Raum für nichts. Kein Büro. Alles nicht ganz einfach.
Wenn wir bei Tatis Großeltern zu Besuch in Bad Essen sind, ein paar Tage weg vom Haus, dann sehen wir immer wieder deutlich vor Augen, was bei uns falsch läuft. Wir leben mittlerweile in einer anderen Zeitzone. Die Großeltern, Normalmodus. Wir Zeitraffer. Der Opa kommt ins Wohnzimmer und setzt sich auf das Sofa. Der sitzt da so. Der sitzt da, weil er da sitzen will. Der macht nichts anderes mehr. Unser Gehirn und unser Körper ist zu solchen Dingen überhaupt nicht mehr in der Lage.
Tati muss wieder oft an ihren Vater denken.
Es ist morgens, als ich die Treppen im Haus meiner Tante runter poltere. Ich finde sie auf dem Sofa im Wohnzimmer. Grau ist das, eine graue, kalte Suppe da draußen.
Genauso grau wirkt meine Tante gerade. Weint sie etwa? Ich renne zu ihr. Erinnerungsfetzen an den gestrigen Abend flammen auf. Das Telefon… Meine Mutter hat die ganze Zeit auf einen Anruf von meinem Vater gewartet. Mein Vater….Der ist nicht wieder nach Hause gekommen.
“Was ist mit Papa?”, ich setze mich neben sie. In diesem Moment muss meine Tante tun, was sie tun muss, sie nimmt mich in den Arm, immer mehr Tränen kullern aus ihren Augen, ich merke, dass es offenbar eine sehr ernste Situation ist. Erwachsene weinen doch sonst nie? Ich nehme sie tröstend in den Arm.
“Dein Papa ist tot.”, sagt sie leise. Immer noch unter Tränen.
“Was ist tot?”, ehrlich, ich habe dieses Wort noch nie gehört. Aber es muss schlimm sein. Tante Gabi weint die ganze Zeit. Ununterbrochen.
“Dein Papa kommt nie mehr wieder.”, sagt sie. “Er ist jetzt im Himmel.”
“Nie mehr? Wieso?” auch mir kullern die Tränen die Wangen herunter. Ich lausche ihren Worten, aber sie kommen nicht durch die Watte in meinem Kopf hindurch. Draußen fängt es an zu regnen, es ist der 19.01.1990, der Tag “danach” – der Tag an den ich mich mein Leben lang zurück erinnern werde. Mein Vater stirbt bei einem Autounfall mit Alkoholeinwirkung. Er wird nur 30 Jahre alt. Er reißt auch einen jungen Bundeswehrsoldaten mit in den Tod, gerade einmal 18 Jahre. Mein Papa kommt nie mehr wieder, als ich 6 Jahre alt bin. Wo ist eigentlich meine Mama? Wieso bin ich hier bei Tante Gabi und nicht zu Hause?

Mit jedem Tag der vergeht, lebst du weiter
In meiner Erinnerung
Hab’ all die Bilder mit dir gespeichert
In meiner Erinnerung
Alles endlich, alles verglüht
Geht so schnell eh du dich versieht
Ich hab’ dich hier, ich trag’ dich bei mir
In meiner Erinnerung

Das Lied “In meiner Erinnerung” von Silbermond läuft in meinen Kopfhörern in Dauerschleife. Tränen laufen meine Wangen runter. Nach und nach kommen alle Kinder zu mir gelaufen und docken zu einer Umarmung wie Magneten an mich an. Irgendwie merken sie immer, wenn man mal ein Loch hat und einfach aneinander “kleben” muss und ihre Liebe aufnehmen muss.
“Mama, was hast du?” höre ich Mathilda flüstern. Sie ist jetzt 6 Jahre alt. So alt, wie ich damals war, als der Unfall passiert ist. Wie erklärt man einer 6-jährigen, dass einen ein Lied derart emotional berührt, das man weinen muss?
“Ich bin einfach traurig.”, versuche ich mich zu erklären. “Ich hab ein Lied gehört, das mich an meinen Papa erinnert”.
Alle drei Kinder umarmen mich weiter. Sie lösen sich erst, als ich unter lautem Schnauben meine Nase geputzt habe. David streichelt meine Hand, Johanna drückt mir einen Kuss auf die Wange, als sie gehen.
Es ist ein Wunder, dass sie so feinfühlig sind und direkt merken, wenn ich sie brauche.

“Mama? Darf ich bei Papa im Bett schlafen?”, versuche ich es erneut bei meiner Mutter. Die Worte meiner Tante hallen immer noch in meinem Kopf nach: “Er kommt nie wieder”.
Ich möchte einfach nicht alleine schlafen. Ich möchte ihm nah sein, ihn riechen, das kann doch alles nicht wahr sein.
“Nein, das geht nicht. Geh bitte in dein Bett”, meine Mutter – auch Wochen danach noch. Ich habe kein Zeitgefühl mehr, weine viel, warte, dass die Tür sich öffnet und Papa doch noch nach Hause kommt. Aber er kommt nicht. Tante Gabi hatte recht: Er kommt nie wieder.
Ich habe sie nie weinen sehen, sie hat zwar rote Augen, aber ich habe sie nie weinen sehen. Die Wochen nach dem Unfall versuche ich es immer wieder: Bei Papa im Bett schlafen. Ich darf nicht. Also weine ich mich in meinem Kinderzimmer allein in den Schlaf. Sie weint ja nicht. Hat meine Mutter mich nicht lieb? Vermisst sie Papa gar nicht?
Erst jetzt, Jahrzehnte später merke ich, dass sie damals, als 26-jährige Witwe im “Autopilot” gehandelt hat.
Weitermachen – einfach weitermachen. Schnell wieder zur Arbeit – ablenken. Sie muss auch gedacht haben: “Wenn ich nicht weine, ist er vielleicht nicht tot… Vielleicht kommt er gleich zur Tür rein und es war alles nur ein Albtraum?”
Das Blöde an solchen plötzlichen Unfällen ist immer, dass man sich nicht verabschieden kann. Zack, boom, weg. Jetzt musst du dein Leben schon allein schaffen. Wie hat er sich die Beerdigung vorgestellt? – ich weiß es nicht. Mit 30 Jahren macht man sich normalerweise keine Gedanken um die eigene Beerdigung.
“Was bleibt, sind die Erinnerungen”, das sagt Silbermond schon ganz gut. Aber die verblassen mit jedem Jahr für mich mehr. Der Klang seiner Stimme, sein Geruch, seine typischen Sprüche. Ich weiß es nicht mehr. Es ist mehr als 32 Jahre her, seit ich meinen Vater das letzte Mal im Arm hatte und trotzdem sehe ich ihn jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue. Er wird immer ein Teil von mir sein.

Gäste-Blog 08: Der Postbote

Es klopft. Post. Ich öffne die Türe und nehme das Paket an mich.
“Danke!”
“Gerne”
“…”
“…”

Der geht nicht weg.
“Kann ich noch helfen?”
“Alter, wohnst du hier?”
“…”
“Also, ich meine, gehört das dir?”
“Das Haus?”
“Ja!”
“Öm…”
“Also, ist das dein Haus?”, er guckt an mir vorbei und seine Augen werden immer größer. Der guckt, als ob er das erste mal die Welt gesehen hätte. Oder so.
“Ja.”
“Wahnsinn!”
“Danke.”
“Ich meine, wie krass ist das denn? Voll historisch und so. Gemütlich. Harry Potter oder so.”
“Danke.”
“Dicker!”
“…”, ich lache ein bisschen und dann vergesse ich für einen Moment alle Kämpfe, Niederschläge oder Schmerzen und bin einfach nur von Dankbarkeit erfüllt. Ja. Jetzt kann ich sterben.

Gäste-Blog 09: Die Fremde in meinem Zimmer / nackt

Gleich geht’s los. Hochzeit. Und wir so an der Bar. Service, Orga, Diesdas. Aber vorher nochmal schnell unter die Dusche. Frisch machen, so ist gut. Wasser, heiß, dann kalt. Kreislauf und so weiter. Toll. Ich setze mich kurz hin und lasse mich berieseln. Nun trockne ich mich ab und gehe ins Wohnzimmer. Nackt. Ein eigenes Schlafzimmer haben wir ja nicht und Platz für irgendwelche Klamotten im Bad ist auch nicht.
“Ui!”
“Äää… ja!”
“Schuldigung!”
“…”
“Hahaha”
“…”, eine fremde Frau steht in meinem Wohnzimmer und bügelt ihre Bluse.
Ich verziehe mich schnell wieder ins Bad.
“Öm, wäre ja auch nicht so, dass du mal hättest Bescheid sagen können!”, rufe ich in Richtung Wohnzimmer.
“…”, keine Antwort.
“Hallo?”
“Tati ist nicht da.”, tiriliert die fremde Frau.
“…”
“Ist doch nichts, was ich noch nie gesehen hätte!”
“…”, ich stelle keine Fragen mehr.
Sowas sagt doch normalerweise eine Krankenschwester kurz vor der OP, wenn man in so ein Leichentuch gesteckt wird – nein, Leinentuch.

Gäste-Blog 10: Das letzte Einhorn / der Todesengel

Teil I
Die ist ein Geist. Das letzte Einhorn. Der Schwarze Schwan. Die ist weiß. Und groß. Die redet wie ein Engel. Einer, der schon lange tot ist. Heiser. Hoch. Hell und zerbrechlich. Leise. Die flüstert. Haucht. Oder säuselt. Die hat ganz kurze Haare, aber hellweiße Augen. Husky. Heller. Und dünn ist die. Ganz dünn. Die guckt mich an. Die guckt mich durch. Die sieht etwas hinter mir, das ist nicht ich. Und doch. Aber ob sie mich meint, weiß ich nicht. Ein Wesen aus einer anderen Welt. Die lebt in keiner Welt. In einem Raum. Zeitraum. Obwohl sie auch ein bisschen dreckig ist, weiß und ein bisschen dreckig, strahlt ihre Dunkelheit aus ihr heraus. Kaputt. Ich würde gerne mit ihr schlafen. Dann wäre alles gut. Oder schlecht.
Aber das wäre dann egal.

Teil II
Als ich sie später wiedersehe, liegt sie eingerollt in einer weißen Decke auf dem Boden vor dem Bett von ihrem Freund in einer Waldhütte. Sie fragt mich, ob sie noch schlafen könne. Ich muss verneinen. Denn wir müssen irgendwie weiterkommen. Ihr Freund macht etwas, das hört sich an wie sprechen. Ich weiß es nicht. Egal. Sie guckt wieder durch mich in etwas, das ich nicht kenne.
Doch.

Teil III
Die Mutter von ihrem Freund hat die beiden aufgespürt und uns angerufen. Ob sie noch leben würden. Und wir so, ja? Und sie ganz dankbar und fragt, ob wir ihr nicht bitte ihre Nummer geben und sagen könnten, wo sie jetzt leben würden.
Datenschutz.

Gäste-Blog 11: Wie ein Bauernhof doch noch satt wurde

“Hallo Stefan. Na, wie ist bei euch? Ich bin schon ein bisschen früher da!”, höre ich eine Stimme mit scharfem S. Norddeutscher Akzent, ruhige sonore Stimme. Der Altbauer eines befreundeten Bauernhofs. Zwanzig Mitglieder des Freundeskreises haben sich heute bei uns zum Kaffeetrinken angemeldet. 16 Uhr soll es losgehen. Es ist 14 Uhr.
“Georg, das ist ja schön, dass du da bist!”, ich glaube, er wollte einfach schon mal auf einen Klönschnack ein bisschen früher vorbeikommen.
“Stefan, ja, schön, dass das mal geklappt hat.”
“Ja, jaja, das ist schön.”
Ich bediene nebenbei ein paar Gäste, die heute schon seit einiger Zeit bei uns im Café sind. Wir stehen an der Bar und Tati macht Latte.
“Wo darf ich denn hin?”, fragt Georg weiter.
“Ihr könnt dort hinten in den Wald hin. Da habe ich euch ein paar Plätze reserviert. Ist auch schön schattig da.”
“Gut.”
Heute sind 35 Grad. Die Sonne knallt.
Wenige Minuten später kommen noch zwei vom Freundeskreis. Ich werde stutzig.
“Sind schon welche da?”, fragt eine ältere Dame.
“…”
“Dahinten im Wald.”, ruft Tati. Danke. Ich habe Angst.
Wenige Minuten später kommen alle. O Gott. Über zwanzig Menschen kommen zwei Stunden früher als geplant. Ich schwitze. Nichts ist vorbereitet. Ich habe Angst.
“Schatz?”, ich nenne Tati nur Schatz, wenn es ganz ernst ist.
“Ja, ich hab es gesehen!”
“Schatz, was machen wir denn jetzt?”
“Weitermachen?”
“Ja klar.”
“Ich koche schnell Kaffee, das ist erstmal das Wichtigste.”
“Ja, gut! Ich schneide dann schon mal den Kuchen.”
“Ja, gut!”
“War ja klar, dass gerade heute Marie abgesagt hat.”
“Ach ja.”, ich möchte weinen. Marie ist unsere Mitarbeiterin, die wir für den heutigen Tag eigentlich extra dazu bestellt hatten. Na gut. Dann nicht.
Was folgt, ist, wie so oft in der Gastro, die totale und blanke Panik. Alles auf Anfang. Alles neu. Alles machen. Ganz ruhig bleiben. Die Gäste sollen ja nicht checken, dass wir uns vor Panik gleich in die Hosen machen. Alles zieht sich zusammen und wird ganz eng. Die Lunge, aber auch die Welt. Scheuklappen vor den Augen, man reagiert sich ab an den Dingen von denen man hofft, sie seien aktuell am wichtigsten. Und dann eins nach dem anderen. Mehr geht auch nicht. Und anders geht es auch nicht. Eins nach dem anderen. Das müssen wir immer noch lernen. Es kommt fast immer anders als gedacht. Und planen kann man sowieso nichts.
Ich renne mit den ersten Kaffeekannen los und hoffe nur, dass ich jetzt nicht hinfalle.
“Ach, das ist ja gut, dass da mal jemand kommt. Ich habe so einen Durst. Habt ihr auch Latte? Die Führung war einfach so trocken. Ich brauche jetzt ganz dringend einen Latte!”, trällert eine Dame in meine Richtung.
“Ja. Ja, klar. Kriegen wir hin.”, rufe ich. Keine Ahnung. Vergesse ich eh gleich wieder. Na gut, erstmal beruhigen.
“Moin”, “Moin”, “Tach”, “Moin, Stefan”, “Moin, hallo, jaja, schönschön, hallo…”, ich versuche jeden zu begrüßen. Klappt nicht immer. Auf dem Rückweg fallen mir noch weitere Sachen ein. Scheiße, da fehlt ja noch alles. Tassen. Teller. Milch. O Gott, vielleicht wollen die ja auch noch Wasser trinken oder so. Dann brauchen wir noch Gläser. Servietten. O Mann, Servietten. Haben wir da überhaupt noch so viele? Die sind im Bauwagen. O Mann, da kommen wir doch gerade nie ran.
Zurück an der Bar stelle ich schnell die Kuchenteller zusammen. Von jedem etwas. Tati kümmert sich um unsere anderen Gäste.
“Ähm, hallo? Kannst du mir vielleicht weiterhelfen?”, eine Frauenstimme reißt mich aus meinem Flow.
“…”, ich sage kurz nichts.
“O, bist du gerade im Stress?”
Dann gucke ich hoch: “Nein, nein, alles gut. Wie kann ich dir helfen?”
“Da draußen sind meine Mädels. Wir bräuchten mal einen Kühlschrank, um unsere Sachen zu verstauen.”
Ich gucke raus, und da stehen noch drei Mädels und fünf Paletten mit Zeug. Bierdosen, Colafantasprite, Tiefkühlzeugs, Hugosektundsoweiter. Ich habe Angst: “O.”
“Ist das zu viel?”
Ich lasse alles stehen und liegen und versuche halbwegs cool rüberzukommen: “Nein, nein. Das kriegen wir schon hin.”
Ein Junggesellinenabend. O Mann. Wo soll das alles hin? In unserem Kühlschrank draußen im Container sind ja nun auch andere Sachen drin. Und, da hätte ich es fast vergessen, der Bauernhof muss auch noch satt werden.
“Komm, gebt mal her, ich pack das hier mal hin.”, irgendwie kriege ich alles rein.
“Sag mal, wo kann man denn hier gut an den Strand?”, fragt mich eine andere. Sehen alle ganz gut aus. Vielleicht komme ich ja mit. Ach ne, geht ja nicht.
“Du, sorry, ich muss leider weitermachen. Aber google mal Stover Strand sonst. Das findet ihr dann schon. Sorry, ist gerade ein bisschen stressig.”, antworte ich.
“Klar. Okay, dann machen wir das so. … Ach ja, nur ganz kurz, die Toiletten waren doch dahinten, oder?”
“Ja, richtig.”
Ich glaube, zehn Stunden sind vergangen, da komme ich endlich mit dem Kuchen an. Sehen alle aber noch ganz glücklich aus. Das beruhigt mich etwas.
“So, jetzt geht es los! Hier ist endlich der Kuchen. Wasser kommt auch gleich.”
“Ah, das sieht doch gut aus!”, “Wasser ist gut, ja!”, “O, das duftet.”, “Lecker!”
Dann renne ich wieder zurück. Nächste Ladung. Und wieder zurück. Nächste Ladung. Und wieder zurück. Tati macht mittlerweile auch mit. Und sogar David. Ich bin stolz auf ihn! Hin und zurück. Hin und zurück bis endlich alles an Ort und Stelle ist. Wie viele Kilometer? Genug. Geschwitzt. Gelitten. Beschissen.
“Und meine Latte?”, tirilie.
“Ja, der ist schon in Mache!”
Kann man sich ja gar nicht vorstellen. Kann sich kein Mensch vorstellen. Ist ja nur Kaffee und Kuchen. Aber in solch einem Moment hat man wirklich existenzielle Angst. Man möchte losheulen, rumschreien und wegrennen. Aber das geht nicht. Man muss einfach weitermachen.
“Ihr Latte ist fertig.”
“Ach wunderbar.”
Und dann habe ich tatsächlich noch die Zeit für einen kurzen Klönschnack.

Gäste-Blog 12: Tourismusinformationszentrale

Abends, ein anstrengender Tag liegt hinter mir, fällt mir ein, dass ich noch die Kübelpflanzen draußen am Deich gießen muss. 32 Grad. Danach möchte ich ruhen. Ich gehe also mit zwei Gießkannen Richtung Deich.
“Entschuldigung, der Kühlschrank, ist der nicht an?”, eine Stimme aus dem Off.
Ich drehe mich um: “Ah, Hallo… ähm, welcher Kühlschrank?”
“Ach so. Der in der Scheune.”
“A, okay. Ich schaue mir das an.”
In der Scheune regel ich das und gehe zu meinen Gießkannen zurück.
“Entschuldigung, das WLAN, ich habe in der Hütte schlechtes WLAN.”, eine weitere Stimme.
“Hallo. Ja, okay. Welche Hütte?”, ich so zurück.
“Die Biberhütte? Biber… irgendwas mit Biber?”
“Biberbau. Ja. Okay, ja, wir haben im Moment mal wieder ordentlich Probleme mit dem Internet. Das tut mir Leid. Vielleicht in der Scheune nochmal probieren.”
“Ah. Okay. Okay? Ja, ich probiere das mal.”
“Danke.”
Das geht noch weitere drei Male mit irgendwas. Ich fasse zusammen: Eine kleine Aufgabe zu fünf ungeplanten Interaktionen. Auf Deutsch: Ich möchte nach einem krassen Tag einfach nur noch kurz die Blumen gießen, brauche aber eine halbe Stunde, um alle Anliegen der Gäste zu bedienen.
Das ist mein Job. Das ist mein Leben. Ich liebe das. Aber das ist auch unfassbar ermüdend. Das geht ja nicht nur beim Blumengießen. Das geht auch, wenn man kurz etwas mit einem Mitarbeiter klären möchte, wenn man kurz irgendwo ein paar Zigarettenstummel aufsammelt oder einfach ins Bett gehen möchte. Wir wohnen hier. Mittendrin. Das ist ganz toll. Aber das ist auch ganz heftig.
Auch gerne immer wieder: Wo habt ihr eigentlich das Baumzelt her? Wer hat die Hütten gemacht, habt ihr die selber gemacht oder mit welcher Firma? Wer war euer Architekt nochmal und wie war der so? Meine Familie und ich wollen ein schönes Haus in den Vierlanden kaufen, kennst du da was? Boaa, das muss ja alles teuer gewesen sein, oder, sag mal ne Hausnummer, ne Mille war das doch bestimmt, oder? Wir haben euch über das Netz gefunden, da stehen so schöne Tipps drinne, wir übernachten gleich nebenan in Kirchwerder, aber kannst du uns nochmal ein paar Ausflugstipps geben? Nach Geesthacht, wie komme ich da hin, muss ich da den Deich lang und dann noch ein paar Meter weiter, oder? Super, das mit eurem Haus, du, da wird doch ein paar Häuser weiter noch so ein Haus verkauft, kennst du das, also, denkst du, das kann man ruhigen Gewissens kaufen? Ich weiß, es ist schon spät, aber kannst du mir sagen, wie ich auf den Kiez komme?
Tutorials sind nicht unsere Haupteinnahmequelle. Aber wir helfen natürlich immer gerne.
Was kann man hier machen? Wo ist Geesthacht? Wo ist hier der Strand? Gibt es keinen Kinderspielplatz? Wann fährt der Bus? Wo kann man hier gut brunchen? Wo kann man mal gut mit dem Fahrrad fahren?
Wir helfen natürlich immer gerne. Aber manchmal haben wir einfach wenig Zeit und verweisen auf unsere sehr umfangreiche Website mit Ausflugstipps.
“Aber jetzt sag doch mal.”
“Es tut mir Leid, ich bin gerade ein bisschen im Stress.”, Hochzeit, Putzen, Café, dies das.
“Aber nur kurz. Was ist denn so los, hier?”
“Wie gesagt, da steht echt viel auf unserer Seite. Ausflugstipps und auch unsere Info-Seite, die du bekommen hast.”
“Ja, okay. Nur kurz, da gibt es doch so Strände hier, wo sind die nochmal?”
Da möchtest du dann einfach nicht mehr. Du gibst dir so viel Mühe, und troztdem sieht es plötzlich so aus, als ob du dir keine Zeit für die Gäste nimmst. Dabei haben wir extra diese ganzen Tipps gemacht, damit, auch wenn es mal eng wird, alle wissen, was, wo ist.

Gäste-Blog 13: Die Konfirmation

20 Uhr. Die schreien. Bummbummbumm. Tati und ich gucken uns an und haben Angst. Bummbummbumm Ööööööeöööööööeööööö! Bummbummbumm.
Das Haus ist voll. Wie schön. Die zwei Wohnungen direkt über unserer Diele. Zwei Familien mit Kindern. Leider gehören sie nicht zur feiernden Gesellschaft. Das wird lustig. Normalerweise ist das ja auch kein Problem, die Feier und die Feriengäste, ist ja nur eine Konfirmation. Wir hatten ja auch schon einige Konfirmationen. Alle fingen so gegen halb zwölf an. Alle hörten so gegen halb sieben auf. Viele gut drauf. Einige auch schon etwas angetrunken. Alles gut. Aber die hier!
Bummbummbumm. 21 Uhr. Die schreien immer noch. Was machen die da? Disco. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Und was machen die Familien darüber? Schweißausbrüche.
“Wenn die nicht gleich aufhören, müssen wir abbrechen!”, fauche ich.
“Es ist ja auch Corona, ich meine, die können da doch nicht so rumfeiern!”, Tati ist auch nicht begeistert.
Halbzehn. Zehn. Die schreien immer noch.
“Jetzt hat uns die eine aus der Waldhütte eine Nachricht geschickt, wo sie denn jetzt kochen könnte.”, Tati so.
“Ach ja, das ja auch noch! O Gott, da muss ich dann wohl jetzt hingehen!”
“Ja.”
Auf dem Weg in den Wald lege ich mir meine Worte zurecht. Klopf klopf!
“Herein!”, rufen zwei, drei koboldartige Lebewesen.
“Öm, entschuldigung. Also, die Konformation geht leider unplanmäßig viel länger als gedacht. Das tut mir voll Leid! Also, da könnt ihr leider noch nicht rein. Ich könnte euch empfehlen, euch vom Lieferservice was bringen zu lassen. Oder da vorne ist ja auch gleich Geesthacht. Da gibt es auch alles…”
“Och, das ist ja schade. Und ärgerlich. Wir haben extra fünf Kilo Lammfleisch, gekauft um uns ein leckeres Essen zu machen. Und das ist ja jetzt auch schon alles aufgetaut. Also…”
“Ach so, ja. Kein Problem, ich könnte euch auch sonst noch anbieten, bei uns privat die Küche zu benutzen.”
“Klasse!, dann kommen wir gleich rüber.”
“Okay.”, ich hatte natürlich gehofft, dass das jetzt nicht auch noch kommt, aber wie das so ist.
Wieder im Haus: “Die kommen jetzt alle.”
“Echt?”
“Klar.”
“Okay”
Bummbummbumm, ööööööööeeeeee! Halb elf. Wir gehen jetzt rüber.
“Ihr müsst jetzt mal Schluss machen! Ist auch Corona und so!”
“Ööööööeeeeee schalalalaaaaa!”
“Habt ihr gehört? Es tut mir Leid, aber ich muss das jetzt abbrech…”
“Schaaaalalalaaa. Cordula Grüüüüüün, schalalala!”
“Ich muss euch sonst den Strom ausschalten!”
“Cordula Grüüüüüüün!”
“Um elf ist hier endgültig Schluss!”
Irgendwann nickt igendwer mit dem Kopf und wir gehen wieder in unsere Wohnung. Das wird nie was.
Klopf klopf. A ja, die Kobolde aus der Waldhütte.
“Hier entlang. Dort ist die Küche, und bedient euch einfach.”, Tati führt unsere Privatgäste durch die Wohnung.
“Ah. Ja, vielen Dank, das ist ja lieb!”, flüstert der lange dünne Kobold.
Brutzelbummmbummbumm, schneidhack, klimper, brutzelbummbummcordulagrün. Tati und ich sitzen im Wohnzimmer unserer Wohnung, es ist Samstagnacht, und wir gucken nicht Stirb Langsam, wir sind Stirb Langsam.

Gäste-Blog 14: Die Sache mit den Bewertungen

“Für Hochzeiten ungeeignet”, steht da bei google. Mehr nicht. Eine Bewertung. Gut. Erklärung? Nein. Etwas genauer? Nein. Ein Name? Bla. Ich schreibe eine nette Antwort, das geht ja immerhin, und frage unter anderem, warum die Dame zu diesem Urteil gekommen ist. Keine Antwort. Man fragt vorsichtig ein paar Wochen später erneut. Keine Antwort. Was soll man da machen? Löschen lassen? Unmöglich.
Auch gut: “Die Lage ist echt schlecht. Voll weit außerhalb. In den Hütten gab es gar keine Kochmöglichkeit. Deswegen nur drei Sterne.” Auch gut, weil: Weiß man alles vorher.
“That’s not international standard.” Die beschwert sich, weil sie nicht schon vor zwölf in die Wohnungen darf. Gast bei einer Hochzeit. Kenne kein Hotel der Welt, wo man vor zwölf rein darf. Fünf Sterne vielleicht. Superior.
Noch besser: “Es gab kein Frühstück. Völlig unverständlich.” Zwei Sterne. Völlig unverständlich auch für mich, denn ich biete nun einmal im Moment kein Frühstück an. Aber das weiß man auch alles vorher. Denn es steht auf der Internetseite, auf Airbnb und allen weiteren Plattformen, auf denen wir vertreten sind. Für etwas schlecht bewertet zu werden, was wir gar nicht anbieten, ist echt schwierig. Löschen lassen? Unmöglich.
“Die Lage entsprach nicht der Beschreibung. Keine Elbe zu sehen.”, eine meiner Lieblingsbewertungen.
“Also, Herr Sowieso, die Tide. Das ist ja so eine Sache. Es gibt da den Mond. Unseren Mond. Das ist dieses helle Ding da am Himmel, was manchmal nachts leuchtet. Vor allem, wenn keine Wolken da sind. Der wird von der Sonne angestrahlt. Der strahlt nicht selber. Deswegen, also wegen dem Schatten, ist der Mond manchmal wie ein Kreis und manchmal wie eine Sichel. Und alles, was dazwischen ist. Und dieses Ding nun, der Mond, hat einen Einfluss auf die Erde. Unter anderem auf die Gewässer, und so auch auf die Elbe. Denn der Mond macht, dass manchmal der Wasserstand der Elbe hoch ist und manchmal niedrig. Und als sie bei uns waren, und das war auch nicht lange, ich glaube ein Tag. Da kann es durchaus passieren, dass genau in der Zeit, in der sie aus dem Fenster geguckt haben, die Elbe Niedrigwasser hatte. Das kann in trockenen Sommern auch so extrem sein, dass manchmal, gerade in dem Nebenarm direkt vor dem Haus, kaum noch Wasser ist. Das hat der Mond, der Schlingel, und die Trockenheit dazu, dann so gemacht. Aber das kommt wieder, das Wasser. Und beim nächsten Mal, wenn sie dann nochmal hier sein sollten, was wahrscheinlich nicht passieren wird, könnte es also sein, dass doch die Elbe vor der Tür ist. Denn dann hat es vielleicht geregnet und der Mond hat gerade das Wasser zurückgeholt. Ich wünsche ihnen noch viel Erfolg für die weitere Bewältigung ihres Lebens.”, hätte ich ja gerne geantwortet. Geht aber ja auch irgendwie nicht.

Gäste-Blog 15: Junggesellenabschied an der Shisha

Das ist laut. Das qualmt. Da kommt Rauch raus. Eine Nebelmaschine? Ich verlasse nachts gegen halb drei mein Bett, gehe auf den Deich, vorbei an einer schwarzen S-Klasse und bleibe vor dem Haus stehen. Das Fenster der Strandbude ist auf, Gangsta-Rap und Rauch quillt heraus.
Ich gehe zurück.
“Schatz, Alter, das ist ein Witz.”
“…”, Schatz schläft.
“Schatz, was machen wir? Das ist voll laut! Und da kommt Rauch raus!”
“Was?!”, sie schreckt auf. “Rauch? Wo?”
“Strandbude. Die Gangsta. Keine Ahnung, was die da machen!”
“Wir müssen da hin!”
“Ja.”
“Scheiße, lass schnell anziehen.”
“Ja.”
Wir klopfen da. Keiner hört.
Wir gehen hoch an den Deich ans Fenster. Keiner sieht.
Dann rufen wir – so gut es geht. Es ist mitten in der Nacht.
“Digger! Da ist jemand!”, ich meine so etwas gehört zu haben.
“Hallo?”, einer der Gangsta kommt ans Fenster.
“Hallo?”, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
Wir zittern.
“Jo, was ist?”, möchte die Stimme wieder wissen.
“Könnt ihr uns mal reinlassen?”, frage ich.
“Ja. Jaja.”
Wir gehen runter.
“Schatz, was geht da ab? Ich dreh durch, wollen die unser Haus anstecken?”, Tati bebt vor Wut.
“Schatz, keine Ahnung. Bleib erstmal ruhig.”
“Alter, ich kann nicht ruhig bleiben. Es ist mitten in der Nacht! Was machen die hier?”
“Feiern.”
“Ja, klar!”
“Aber das war doch klar, als wir die gesehen haben.”
“Ja!”
Die Tür öffnet sich. Wir folgen ihm über die lange Treppe bis ins Wohnzimmer.
Blackout.

“Soll das ein Witz sein?”, ruft Tati mit zittriger Stimme.
“Was?”, will ein anderer Gangsta wissen.
Da stehen fünf Männer im besten gebärfähigen – äh – zeugungsfähigen Alter. Einer größer als der andere. In der Mitte auf einem kleinen Tisch: eine Shisha. Und was für eine. Die raucht und qualmt und blubbert, kann sich kein Mensch vorstellen.
Haftbefehl läuft:
“Rothschild-Theorie, jetzt wird ermordet
Azzlack öffnet die Höllenpforten
Hier knallen Pistolen während ihr rappt über Ohrschellen
Ich bin der Zuhälter, deutscher Rap ist mein Bordell
Welcome to 06-06-9, Cho…”
“Ihr könnt doch hier nicht einfach drin rauchen!”, schreit Tati.
Ich bewundere ihren Mut: “Leute, jetzt mal ehrlich, das geht nicht!”
“Alter, ihr spinnt, ja, das ist doch nicht normal!”
“Schatz, ganz ruhig!”
Ich kann ihr Beben spüren. Kleine Druckwellen durchziehen den Raum. Ich zittere auch.
“Jo, Digger, sie hat ja recht.”, sagt der Kleinere.
“Ich krieg einen zu viel! Das könnt ihr nicht machen!”, sie schreit immer noch.
Ich bewundere ihren Mut immer noch, stelle mich aber ein wenig in den Vordergrund und versuche zu deeskalieren: “Jetzt mal ehrlich. Ich meine, das könnt ihr doch echt nicht machen. Wir haben ein Reetdach-Haus. Und die Musik, ganz ehrlich, warum geht ihr nicht auf den Kiez, so laut.”
“Bruder, ja, okay, wir machen leiser.”, der Mittlere.
“Leiser? Aus und ihr sollt das Ding ausmachen!”, Tati.
Jetzt der Große: “Ey, aber ganz ehrlich, wir sind hier eure Gäste, was wollt ihr …”
Der Kleinere unterbricht: “Bruder, nein, nein, schon gut. Wir machen leise.”
“Und aus!”, Tati.
“Und aus!”, der Kleinere.
Wieder unten fällt uns eine Last der Größe eines Tagebaumuldenkippers vom Herzen.
Wie im Kindergarten.
Das ist wie im Kindergarten. Das geht nicht in unsere Köpfe rein. Wir fragen uns, wie weit die Menschheit gekommen ist.

Das ist für die Azzlacks, für die Straßenninjas (woo)
Für die mit den Skimasken auf dem Motorrad Ninjas (woo)
Warum kommt das Album denn schon wieder im Winter?
Das ist Räubermusik und da wird’s früher dunkel,
was ‘ne Frage, behindert?

069
Haftbefehl

Gäste-Blog 16: SUP-Traffic-Jam

“Hi. Entschuldigung, ich kann den Schlüssel für die Wohnung nicht finden.”, erklärt uns eine weibliche Stimme am Telefon.
“Hi. Oh, okay? Welche Wohnung ist das denn?”
“Das Schlummernest.”
“…”
“Hallo?”
“Ja, sorry. Also, ähm … ich weiß genau, dass ich den Schlüssel in den Schlüsselsafe getan habe.”
“Okay. Hm. Aber, da ist wirklich keiner. Ich habe genau geguckt.”
“Ja, gut. Ähm, kann ich dich gleich zurückrufen?”
“Ja klar.”
“Okay. Danke, bis gleich. Tschüs!”
“Ja, Tschühüs.”
“Was ist los?”, will ich wissen.
“Der Schlüssel soll nicht da sein. Aber ich habe den da hingelegt, in den Safe. Noch vorhin. Das kann nicht sein.”
“Okay…”
“Vielleicht hat die andere Anreise aus der Hütte den Schlüssel versehentlich genommen. Ich rufe den mal an.”
Die reden gefühlt zehn Stunden. Irgendwann sagt er: “Sorry, there’s a traffic jam, can’t get home.” Und legt auf.
“Will der mich verarschen?”, Tati kann es nicht glauben. “Der hat den falschen Schlüssel mitgenommen!”
“Okay…”, ich fühle mich unnütz.
“Mama, ist alles okay?”, möchte David wissen.
“Bär, ich glaube, der hat das nicht…”
“Jetzt kommt ins Wasser!”, ruft Johanna aus der Elbe.
“Der hat da schon Sachen reingepackt, hat der gesagt! Mann! Der hat eine Hütte gebucht! Eine Waldhütte! Wo ist eine Wohnung in unserem Bauernhaus eine Hütte? Wie kann man so scheiße sein?”, Tati wieder.
“Und jetzt?”
“Der Schlüssel ist weg. Jetzt müssen wir wieder zurück!”
Wir haben uns Wochen lang diesen Tag freigekämpft. Wir sind auf unseren Stand-Up-Paddles mit den Kindern die Elbe rübergerudert (nur im sitzen, alle mit Rettungsweste – natürlich) und wollten einen schönen Nachmittag am Strand verbringen. Seit zwei Minuten sitzen wir hier, dann hat das Telefon geklingelt.
“Scheiße!”, schreie ich.
“Ja Scheiße!”, auch Tati.
“Was ist denn jetzt?”, möchte David wissen.
“Der hat den falschen Schlüssel weggenommen, und jetzt müssen wir zurück, um die Wohnung mit unserem Zweitschlüssel aufzuschließen.”
“Oh.”, sagt David enttäuscht und lässt den Kopf hängen.
“Ja, Hallo? Wir kommen gleich zurück. Hast du noch ein bisschen? In einer halben Stunde oder so sind wir wieder da.”, am Telefon.
“Ja, kein Problem.”
“Danke.”
Wir packen nach diesen zwei Minuten am Strand und zwanzig Minuten am Telefon wieder unsere Sachen, klettern auf die SUPs, rudern rüber und laufen zurück zum Haus.
“It’s a traffic jam dich am Arsch!”
Seitdem haben wir für jede Wohnung, jede Hütte und jedes Zelt einen eigenen Schlüsselsafe.

Gäste-Blog 17: Die Russen und die Spinne

S-Klasse. Pelzmäntel. Die sprechen eine Sprache, die wir nicht verstehen. Russisch oder so. Sind vier Erwachsene.
“Warum haben sie denn die kleinste Wohnung gemietet?”, möchte Tati am Deich bei den Gästen wissen.
Fragezeichen überall.
Sie probiert es erneut: “Why did you rent our smallest apartment?”
Immer noch Fragezeichen.
Irgendwann kommt noch eine Person aus dem Auto. Sie hält Tati das Handy vor das Gesicht.
“вот, у нас есть переводчик.”
“…”, Tati weiß nicht, was sie sagen soll.
Irgendwann bekommen sie es aber hin. Am Telefon ist ein Übersetzer. Russisch, Deutsch. Jetzt geht es voran. Man dachte, man hätte das ganze Haus gemietet, sagt der Übersetzer am Telefon. Fragezeichen. Das ganze Haus für 75 Euro die Nacht. Ich weiß nicht, was das für Verhältnisse in Russland sind, aber wir sind etwas verwirrt.
Nach einiger Zeit einigt man sich darauf, die Wohnung trotzdem zu nehmen.
Wir haben Angst.
Am nächsten Tag klopft es an der Tür. Die Dame im Pelzmantel winkt uns nach oben an den Deich. Der Übersetzer ist wieder am Telefon und erklärt uns, dass die Gruppe gerne eine andere Wohnung hätten. In ihrer Wohnung wären so viele Spinnen. Die Tochter würde sich fürchten.
Ja, gut, klar, kein Problem, wir gucken, ob eine andere Wohnung frei ist, ja, gut, frei, lächle, ja, der Umzug ist kein Problem, ja, schön, alle können sich einigen. Kacke!
Abends am selben Tag zieht die Gruppe um. Eine Wohnung umsonst. Keine Einnahmen. Doppelter Reinigungsaufwand.
Als alles über die Bühne gegangen ist, gehen wir in die besagt Wohnung mit den Spinnen. Wir können aber nichts erkennen. Dann klettern wir auf die Hochebene und befürchten ein Spinnennest oder ähnliches. Eine Horde angriffslustiger mindestens Essteller großer hoch giftiger Spinnen – es müssen an die Tausend sein – krabbeln in atemberaubendem Tempo auf uns zu. Wir schrecken zurück, als plötzlich die ersten Spinnen auf uns zu springen. Sie machen fauchartige Geräusche, ihre Augen leuchten grün, sie können Fliegen. Wir rennen davon. Doch die Spinnen holen uns ein. Sie krallen sich mit ihren spitzen Krallen in unsere Beine und fesseln blitzartig mit ihren klebrigen Fäden unsere Beine. Wir fallen die Treppen runter, und die Spinnen können in aller Ruhe ihr Gift injizieren. Minuten später ist von uns nur noch eine Hülle übrig.
Es ist nicht zu glauben, aber auf der Hochebene sehen wir eine einzige Spinne, ganz oben im Dachfirst. Eine Spinne in einem Bauernhaus am Wald und der Elbe.
“A, Tatiana, kommst du auch aus Russland?”

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Das geht immer so weiter, diese ganzen krassen Sachen. Das hört auch nicht auf.
Einmal hat bei uns auf dem Hof der Blitz eingeschlagen. Zwei Mal. Kein Mensch verletzt. Haus ist nicht in Flammen aufgegangen. Aber Elektrik und Haustechnik ist in Mitleidenschaft gezogen. Wir hatten kein warmes Wasser.
“Tut mir Leid, wir kommen doch nicht. Unsere Freundin hat uns erzählt, dass es bei euch kein richtiges Internet gab und auch kein Warmwasser. Da müssen wir leider absagen.”
Es war unsere erste Langzeitbuchung überhaupt. Abgesagt, weil auf unserem Hof ein Blitz eingeschlagen hat. Sechser im Lotto. Nur anders rum.
Ein anderes Mal stand plötzlich eine Hüpfburg bei uns im Garten, die halb so groß wie das Haus war. Wir nur so, o nein, das kann nicht gut gehen. Und es ging nicht gut. Nach zwei Stunden brach sich eine ältere Dame den Knöchel. Zum Glück hatten wir einen Spezialisten aus der Feuerwehr dabei, der erste Hilfe leisten konnte.
Kinder klettern einfach in unsere Baumzelten, obwohl sie nicht vermietet sind. Spricht man die Eltern daraufhin an, so von wegen, man muss jetzt ja auch alles wieder neu putzen und so weiter, wird nur gesagt, o, man hätte das nicht gesehen. Aber sie saßen ja genau davor.
Wenn Kühlschränke aufgebrochen werden, wenn sich Monteure am Deich wie kleine Kinder anschreiben, weil die Sekretärin falsche Wohnungen gebucht hat, wenn am Ostersonntag morgens um halb acht wie wild an unserer Tür geklopft / geschlagen wird, nur um uns zu sagen, dass der Schlüssel bei Abreise in der Wohnung gelassen wird (steht so auch überall), wenn sich erwachsene Väter im Rausch bei Saufspielen wie – um mit den Worten von Professor McGonagall zu zitieren – eine blamable, blindwütige Bande von Brüllaffen benimmt, dann.
Macht das bei allem Verständnis irgendwann keinen Spaß mehr. Spaß vielleicht sogar noch halbwegs, wir verstehen ja auch viel, wir kennen das ja auch, wenn man mal einen über den Durst trinkt, aber es kostet so viel Kraft.

Ein magischer Ort.
Selten so schnell so wohl gefühlt. Wir haben die Atmosphäre im liebevoll eingerichteten Haupthaus und im Häuschen im Wald sehr genossen.
@Tatiana und Stefan, ihr habt hier was Tolles auf die Beine gestellt und einen wunderbaren Ort geschaffen.
Wir wünschen euch weiterhin viel Erfolg und Freude.
Wir kommen gerne wieder.
Liebe Grüße Finn & Jutta

Das Gästebuch. Björn und Carmen, Freunde aus Neuengamme, haben es uns am Anfang unseres verrückten Projektes geschenkt (Tausend Dank dafür!). Lange Monate hatten wir es ganz vergessen. Es lag da ganz unscheinbar in der Diele.
Dann auf einmal fällt es uns wieder zwischen die Hände, und wir fangen an, es zu lesen. So viele unserer Gäste haben so schöne Dinge hineingeschrieben, dass Tati und mir ein paar Tränen das Gesicht runterkullern.
Das vermischt sich alles. Die krassen Erlebnisse und die schönen. Die Schönen sollen bleiben. Wenn Stammgäste immer wieder kommen. Mit Mareike und Pierre sind wir fast schon befreundet. Sie haben Flitterwochen in einer Waldhütte verbracht. Danach sind sie immer wieder gekommen.
Wenn sie uns sagen, dass dieser Ort ganz veraubert ist, oder das Haus eine Seele hat. Wenn man spürt, dass das hier etwas ganz besonderes ist. Etwas Schöneres kann man uns nicht sagen.
Wenn unsere Gäste eigentlich nur zu Besuch kommen, dann aber plötzlich ein Heiratsantrag dabei rauskommt, später auch die Hochzeit hier gefeiert wird, und irgendwann ein Kind mit dabei ist, wenn sie wieder unsere Gäste sind.
Wenn fast alle Gesellschaften, die bei uns feiern, immer doch länger machen, als geplant, weil es ihnen so gut gefällt. Einmal ist ein Gast von einer Feier versehentlich mit dem Kopf gegen einen Holzbalken gesprungen. Mitten in der Nacht kam die Feuerwehr mit Blaulicht, hinterher noch der Krankenwagen, und brachte ihn ins Krankenhaus. Platzwunde. Er musste genäht werden. Aber dann kam er wieder zurück und feierte einfach weiter. Als ob nichts gewesen wäre.
Die Schlummers im Schlummernest. Wirklich wahr!
Und dann wird unsere Location auch von ersten TV- und Marketing-Firmen entdeckt, und wir können es gar nicht glauben, dass die unser Haus filmen oder fotografieren. Das blickt uns dann auf einmal aus einer Anzeige im Netz oder einer Zeitschrift an. Wahnsinn!

Was bleibt am Ende

2019, du neigst dich dem Ende.

Es war einmal ein altes Bauernhaus, das lag da, gebückt am Deich und verschlungen von einem Wald. In diesem Bauernhaus, es war ganz wunderschön, aus Fachwerk und Reet, da war die alte Diele des Hauses und in der Diele, da war ein alter gebeugter Mann. Er saß an einem einsamen Tisch neben ganz vielen anderen Tischen, ganz allein in dieser großen Diele, und keiner, wirklich kein einziger war bei ihm. Er war der einzige Mensch auf der ganzen Welt.
Da ertönte von irgendwoher ein Chor, ein wunscherschönes Lied erfüllte den dunklen Raum. My love is always here*, verstand der alte gebeugte Mann und erinnerte sich, dass heute Weihnachten war, das Fest der Liebe, das Fest der Familie.
Doch weil der alte Mann ganz alleine war, war er traurig und beugte seinen Kopf noch ein ganzes Stück weiter. Er berührte mit seiner kalten Stirn nach einer ganzen Weile sogar den einsamen Tisch. Er war ganz schwach und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Die ganze Last der ganzen Welt, und wenn auch nur von seinem alten Bauernhaus, lag jetzt auf seinen Schultern. Er weinte.
Als eine Träne auf den Tisch fiel, hörte er Schritte. Er hob den Kopf, wusch die Tränen beiseite, und sah, wie seine alte Frau auf ihn zukam und sich neben ihn setzte. Das hatte er ganz vergessen, er war ja doch nicht ganz alleine. Seine geliebte und wunderschöne Frau war ja immer bei ihm. Sie legte jetzt einen Arm um den gebeugten alten Mann und stütze ihn etwas. Auf einmal merkte der alte Mann, dass er sich wieder etwas aufrichten konnte.
Dann hörte er noch mehr Schritte. Er schaute nach oben und sah wie alle seine Kinder auf ihn zurannten. Sie stürzten auf ihn und drückten sich ganz fest gegen die beiden. Sie umarmten einander und der alte gebeugte Mann hatte nun gar nicht mehr das Gefühl, alt und gebeugt zu sein. Er spürte dieses leichte Kribbeln in seinen Gelenken, so, wie wenn ein eingeschlafener Arm wieder neu durchblutet wird, und sein Herz schlug immer schneller.
Der Chor sang immer noch, und jetzt hörten alle zu. Die ganze Familie am Tisch in der Diele in dem alten schönen Bauernhaus aus Fachwerk und Reet, verschlungen von einem Wald. My love is always here.

O sleep, sweet babe,
Though the snow is cold and deep around,
Just sleep, dear babe,
Through the wind’s so keen and icy sound.
Oh hush, sweet babe,
There is nothing you should fear,
Just hush, dear babe,
For my love is always here.
And I will hold you, safe in my arms,
So no evil can touch you,
You can come to no harm.
Wake now, dear babe
Now the night is nearly through,
Wake now, sweet babe,
There’s a world that’s waiting here for you

My love is always here
von Alexandre Desplat,
Harry Potter. (“Harry, listen. I think it’s christmas eve!”)

Weihnachten. In einer Stunde ist Kirche. So sehe ich es, uns, immer noch, von oben, von außen, ich schaue auf uns herunter, wie wir da in dieser einsamen Diele sitzen. Allein und doch zusammen. Unser Traum, und doch vielleicht auch nicht. So viel Kraft gelassen, so oft über unsere Grenzen gegangen, so viel Verletzungen erlebt, so oft gekämpft, so viel Zeit verloren, so viel Arbeit. Vielleicht zu viel. Wir, zu viel.
In der Kirche spielen sie Weihnachtslieder. Ich muss die ganze Zeit weinen. Nicht, weil mich die Lieder so rühren, sondern weil jetzt alles abfällt. Diese ganzen Jahre. Es rinnt mir aus den Augen. Am Ende des Gottesdienstes läuft mir ein Gast, der bei uns gefeiert hat, über den Weg. Meine Augen voll Tränen, ich kann ihn nicht angucken, nicke nur kurz und drehe mich um. Tati und ich gehen nach Hause und machen jetzt Weihnachten.
Lebenstraum: Multifunktionstool, wir machen einfach immer alles. Allein. Es ist zu viel. Das Haus, Putzen, die Gäste, die Feiern, dann geht alles kaputt, wieder was weggekommen, wieder, wieder, wieder.
Und dabei verlieren wir das aus den Augen, warum wir jeden Tag doch wieder aufstehen: unseren Traum. Diesen einen Traum, für das wir das alles hier seit über 15 Jahre machen. Dieses Haus, das letzte, dass jemals in dieser Zeit noch für uns zu haben war. Danach haben wir von keinem Haus mehr gehört, dass wir uns noch hätten leisten können. Welch Zeichen. Doch keine Zeit mehr für unseren Traum. Wir können nicht mehr, wir wollen nicht mehr.
Wie soll das weitergehen?
Wir hoffen auf 2020.
Da stellen wir endlich Leute ein. Das können wir uns dann leisten.
Das soll weitergehen.
“Schatz, nächstes Jahr stellen wir Mitarbeiter ein. Dann haben wir wieder ein bisschen Luft. Wir können das doch jetzt abschätzen, das können wir uns dann leisten. Was soll denn kommen? Wenn nicht gerade höhere Umstände kommen, müsste es doch so weitergehen, wie 2019. Oder nicht?”
“Ja. Wahrscheinlich hast du Recht.”
“Ich meine, was soll denn jetzt kommen? Höhere Umstände. Krieg, sieht nicht so aus. Ich meine, da können wir dankbar sein, aber dann wäre eh alles im Arsch. Ein Tsunami? Aliens? Ich glaube, das können wir ausschließen.”
“Ja. Bär.”
Höhere Umstände. Wirklich wahr, genau so hatten wir das uns überlegt.

2020. März. Corona.

“Hast du schon gehört?”, frage ich Tati, als wir morgens in einem Hotel auf Rügen am Frühstückstisch sitzen.
“Was denn?”, will sie wissen.
“Das ist in China irgend so ein Virus ausgebrochen. Geht derbe ab da irgendwie.”
“Ah, ja, ja, hatte ich gestern Abend was gelesen.”
“Na ja, mal gucken.”
“Ach, das wird schon wieder.”
“Ich denke auch. Und China ist ja doch auch ein Stück weg.”
“Ja.”
Das Frühstück ist der Wahnsinn. Alles da, was das Herz begehrt, das Restaurant ist auch super, ein schönes Ambiente, sogar die Musik stimmt. Kommt selten vor. Wir sind wirklich glücklich, dass wir uns nach 2019 diesen fünftägigen Luxus leisten. Wir freuen uns auf das, was vor uns liegt.
2020. März. Corona. Wir sollten uns lange nicht mehr freuen. Was vor uns liegt. Denn dieses Frühstück war der letzte, der wirklich letzt verbliebene Moment aus einem Leben, das wir seit dem nie wieder hatten.
2020, ein Lockdown folgt dem nächsten, eine Unsicherheit der nächsten, eine Schreckensnachricht nach der anderen. Menschen sterben. Unternehmen gehen zu Grunde. Ganze Gesellschaftsschichten zerfallen, ganze Branchen scheinen der Vergangenheit anzugehören, ein Leben in Freiheit scheint kaum mehr möglich.
2020, fick dich. 15 Jahre haben wir für diesen Traum alles gegeben. Wir haben keine Kraft mehr. Wir wollten endlich Mitarbeiter einstellen, damit wir nicht mehr alles alleine machen müssen, damit wir mal wieder ein Wochenende im Sommer mit den Kindern verbringen können, damit man sich bei einem Kollegen mal ausheulen kann, damit man endlich das Gefühl hat, wir sind nicht alleine. Wir haben 15 Jahre gesät. Nach 15 Jahren wollten wir endlich einmal ein bisschen ernten, um es in biblischer Bildsprache auf den Punkt zu bringen. Geht nicht. Fick dich.
Wir können nicht mehr. Wir wollen nicht mehr. Wir können nur hoffen. Wir haben Angst, ob wir das finanziell überstehen.
“Schatz, denk an den Bauwagen.”, sage ich.
Da fängt sie an, ein wenig zu lächeln.
Der Bauwagen. Corona. Wir planen um, der Bauwagen soll an eine andere Stelle. Es hat einen ganzen Tag gedauert, aber Tati und ich haben den Bauwagen ganze alleine über unser Grundstück gezogen.
Auf planem Untergrund. Kein Problem. Aber unser Haus steht auf einer Warft. Da muss er also rüber.
Ich besorge Keile. Tati drückt von hinten, ich ziehe an der Deichsel und halte den Wagen. Dann steckt Tati einen Keil unter das eine Rad. Wir wiederholen den Vorgang und Tati steckt den Keil unter das nächste Rad. Das machen wir so lange, bis wir oben auf der Warft angekommen sind.
Dann geht es runter. Wir haben Angst. Langsam drückt Tati von hinten. Ich vorne an der Deichsel. Auf einmal setzt sich das Teil so schnell in Bewegung, dass ich nicht mehr bremsen, sondern höchsten notdürftig lenken kann.
Ich lenke in zwichen Beetmauer und Wald.
Dort bleibt er zwischen den Bäumen stecken.
“Scheiße!”, rufe ich.
“Lebst du noch?”, ruft Tati zurück.
“Ja. Jaja, aber da kriegen wir den Wagen nie wieder raus.”
Oben verkeilt zwischen den Bäumen. Unten ist ein Rad im matschigen Untergrund versackt. Windschief ist untertrieben. Der Wagen steht schräge, wie ein nasser Sack, im Wald. Ein Bild für die Götter.
“Was machen wir jetzt?”, ich werde panisch und schwitze noch mehr als eh schon. “Den kriegen wir da nicht mehr raus! Der ist voll fest. Scheiße! Wir können hier ja auch keinen Kran herholen oder so. Hier kommt ja kein Gefährt der Welt runter, so eng wie der Stegel am Deich ist!”
“…”, Tati denkt nach.
Vor meinem inneren Auge sehe ich Wicki, den Wikinger, nur ohne starke Männer, und wie er sich die Nase reibt und eine Idee ausbrütet.
Und tatsächlich, irgendwann sagt Tati: “Der Wagenheber. Da können wir den vielleicht aus dem Matsch wippen oder so.”
“Ja!”, ich strahle. “Beere, ich liebe dich! Du bist so ein Kerl!”
“Danke.”
Ganz so einfach war es dann doch nicht.
Ich hole den Wagenheber, der auf der Stelle in der Erde versinkt. Also baue ich aus Brettern und Bohlen eine Unterkonstruktion, die den Wagenheber hält. Auf der anderen Seite muss ich beim Rad noch ein paar Findlinge mit dem Wurzeltod von meinem Vater (ein tolles altes Werkzeug) ausgraben und ein bisschen Erde wegnehmen. Aber dann klappt es mit dem Wagenheber tatsächlich, und wir können den Bauwagen durch die enge Passage in die Mitte unseres Hüttendorfs ziehen.
Mit einem letzten Ruck ziehen wir ihn an seine vorgesehene Stelle. Er fügt sich perfekt ein. Wir sind happy.
“Hörst du, Schatz, wir schaffen alles!”, sage ich.
“Bär.” sagt sie.

Irgendwann schicken wir einen Hilferuf ins Universum / Facbook:

An was denken wir, wenn wir mal unser Jahr revue passieren lassen? – wir sind nicht #systemrelevant, sagt uns die #politik
Der Mensch, das einzige Lebewesen unserer Welt, das sich gegen etwas entscheiden kann. Und auch bewusst für etwas. #kultur. Dieses etwas, das uns unterscheidet. Kultur ist eins der höchsten Güter, das wir haben. Wenn wir einmal aussterben, werden die Außerirdischen, die uns finden, nicht über unsere Knochen staunen, über unser Finanzsystem, hohe Häuser und so. Alles gut. Alles wichtig. Aber am Meisten werden sie über unsere Kunst, über unsere Musik, über unsere Kreativität und über unsere Freude, das zu leben, staunen. Sie werden über unsere Kultur staunen. Wie weit sie entwickelt sein werden, weiß ich nicht. Vielleicht werden Sie uns um Lichtjahre voraus sein. Aber eins ist gewiss. Sie werden sich über unsere Kultur erstaunen. Sie werden sie bestaunen und sie werden sie erinnern.
Feste feiern können wir wann anders. Kaffee trinken, mit ein paar Freunden sprechen und dabei schöne Musik hören. Anderen Orten begegnen und neue Menschen kennenlernen. Aber nimm uns das mal alles weg. Das geht eine Zeit lang gut. Aber irgendwann merkt selbst der trockenste Beamte, dass etwas fehlt. Nämlich das Leben. An was denken wir, wenn wir mal unser Jahr revue passieren lassen? Oder gerade fünfzig werden und schon mal über unser Leben nachdenken? Es sind nicht berufliche Erfolge, Reichtum, tolle Häuser oder sonstwas. Es sind die Feste, die Feiern und die Menschen, die wir gelebt haben. Es sind die Küsse, die wir geküsst haben bei unserer Lieblingsmusik, es ist das gute Menü in dem kleinen Schlosskeller auf einem abgeschiedenen Berg. Es sind die Reisen, die Orte und die neuen Menschen. Die kleine Begegnung mit einem Wildfremden, der dir den Weg zeigt und dich noch kurz auf einen Kaffee bei sich zu Hause einlädt. Es ist ein Tanz, bei dem wir uns vergessen, aber niemals den Menschen, mit dem wir tanzen. Genuss, Leidenschaft, Extase, Schreien, Lachen, Weinen, Liebe, Leben. Was ist das alles?

Wir sind nicht systemrelevant. Ein armes Wesen ist das, das das alles nicht kennt.
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#corona #wirsindnichtsystemrelevant #damüsstemusiksein #hamburg #hausannaelbe #undalleanderenauch

2022. Wir sind im dritten Jahr Corona. Im dritten Jahr in Folge sagen uns Gesellschaften für Hochzeiten, Familienfeiern, Geburtstage und so weiter ab.
Keiner weiß, wie es weitergeht.
Die letzten Jahre konnten wir uns durch unsere Ferienwohnungen über Wasser halten. Ein paar Hilfzahlungen der Regierung sind am Ende ja auch angekommen und mussten nicht zurückgezahlt werden. Aber wir kennen viele Menschen, deren Träume / Unternehmen / Lebensentwürfe die Pandemie und auch die Maßnahmen nicht überstanden haben. Eine ungekannte Unsicherheit ist der Alltag viele geworden.
Keiner weiß, wie es weitergeht.

2022. In den Jahren 2020 und 2021 ist dann doch noch viel passiert. Nicht alles war schlecht. Wir konnten später doch noch Personal, auch wenn nur halbtags, aber immerhin, einstellen. Simone, “chez Simone”, unser Gehirn, wenn Tatis und mein Gehirn mal wieder aussetzen, und Mädchen für alles. Sie denkt mit, ist sich aber zum Putzen nicht zu schade. Eine Eigenschaft, die es heute nur noch selten gibt. Auch Marion konnten wir irgendwann einstellen, denkt mit und putzt. Wir lieben euch!
Mein Vater und ich konnte noch ein paar kleinere Unterstellmöglichkeiten bauen – Danke auch dafür nochmals! – und haben nach fünf Jahren im Haus auch endlich die Dämmung über den Fenstern im Mädchenzimmer fertiggestellt (vorher waren da nur Decken drin – frieren musste also keiner mehr).
Mitte 2021 konnten wir nach über zweijähriger Planung eine kleine Scheune in den Garten stellen. Wir haben einen gemeinnützigen Freundeskreis gegründet und hoffen, dass wir hier einen Ort für das Dorf schaffen, an dem Traditionen und Bräuche aufrecht erhalten bleiben können.

Was bleibt am Ende?
Für uns bis heute unvorstellbar: Wir haben einen Millionen-Kredit aufgenommen – ihn überhaupt bekommen, warum?, weil jemand an uns geglaubt hat –, wir haben trotz allem Pech niemals aufgegeben und am Ende haben tatsächlich viele viele Menschen ihren schönste Tag im Leben bei uns verbracht, Menschen, die sich jedes Grand Hotel hätten leisten können, aber sie wollten uns! Und das alles, obwohl weder Tati, noch ich jemals irgendeine unternehmerische Erfahrung hätten vorweisen können. Im Gegenteil – unser Selbstwertgefühl und unser Unsicherheit hätte uns eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilen müssen. Und trotzdem: Wir haben es geschafft.
Wir sind eine Familie geblieben. Eigentlich fast noch das Unglaublichste. Unsere wunderbaren Kinder. Wie viele Zeiten hatten wir, als ich Tati verstanden hätte, wenn sie einfach abgehauen wäre. Das hätte kein normaler Mensch mitgemacht. Dieses enge Leben, kein eigenes Zimmer, Wohnzimmer-Lager-Büro-Schlafzimmer-Küche. Kann sich kein Mensch vorstellen.
Das werde ich nie vergessen: Ich bin mit unseren Kindern David, Johanna und David beim Impfen. Besonders die toughe Johanna hat am meisten Angst. Die anderen beiden gehen zu ihr und drücken und beruhigen sie. Dann kommt die Ärztin. Einer nach dem anderen. Sie halten sich gegenseitig die Hände.
Die Ärztin ist ganz entzückt: “Sie haben ja tolle Kinder. Wie die sich umeinander kümmern! Das habe ich nicht oft gesehen.”
Da weiß ich, und wir wissen, ja, das ist ein Wunder, das unsere Familie noch existiert, und dass wir die tollsten Kinder der Welt haben.
Danke, ihr drei Süßen, dass ihr dieses ganze verrückte Abenteuer mit uns übersteht.
Wir lieben euch!

Unser Traum, auch unabhängig von Corona – wir haben ihn erreicht. Jetzt möchte ich gerne schreiben, dass alles gut ist. Aber es ist niemals alles gut.
Ich bin und war Werber. Werbung ist großteils etwas, dass mich nie interessiert hat. Finde den Fehler. Aber manchmal öffnet sich für einen Spalt das Universum, oder der Matrix, vielleicht ist es auch Jesus, und es ist eine Werbung, die dir den Weg zeigt.
“Wie der Ankunftsfehler dich daran hindert, glücklich zu sein” – Danke sus / Brigitte.
Diese Werbung wird mir beim Durchscrollen auf dem Handy irgendwann angezeigt. brigitte.de, Hobbypsychologie für jedermann. Und doch, ich glaube, es ist die Quintessenz für ein zufriedenes Leben. Jeder Mönch, jede Religion, jeder Asket, jeder Mensch, der sich tiefer mit dem Glück auf Erden beschäftig, kommt irgendwann immer zu der einen Erkenntnis: Die Zufriedenheit liegt in einem selbst, ganz unabhängig zu den Umständen um einen herum.
“Der Ankunftsfehler beruht auf einem seeeehr weit verbreiteten Irrtum: dass uns das Erreichen eines Zieles glücklich macht!”
Renne deinen Zielen hinterher, aber bleibe dankbar, auch wenn nicht alles klappt. Eigentlich wollten wir ein Mehrgenerationenhaus mit unseren Eltern und anderen besonderen Menschen mit aufbauen. Das hat nicht geklappt. Im Alter werden wir hier nicht bleiben können. Das funktioniert mit dem Platz auch nicht. Das macht uns sehr traurig. Aber auch wenn es klappt, du bist du und nicht dein Ziel. Das ist wie in einer guten Beziehung. Man lebt zusammen, aber man bleibt eine eigenständige Person.
Bla.
Am Ende bin ich vor allem dankbar, dass wir gesund und eine Familie geblieben sind. Unsere Liebe, die Liebe unserer Familie, dass wir zusammenhalten.
Manchmal spielen wir ein Spiel, wo man Fragen beantworten soll. Die Frage lautete: Gibt es in eurer Familie eine besondere Geschichte, die man sich immer erzählt?
David hat genau das gesagt, dass wir zusammenhalten:
“Papa, ihr erzählt uns immer, dass wir zusammenhalten sollen. Auch wenn wir uns mal streiten. Das ist das Wichtigste, zusammenhalten.”

“Würdest du es nochmal tun?”, das fragt uns immer mal wieder jemand.
Nach heutigem Stand in 2022, im Moment, würden Tati und ich ehrlich sagen, nach all dem Stress, nach Corona und den Corona-Maßnahmen? Nein.
Es war zu hart. Es hat uns zu viel Kraft gekostet. Wir lieben unser Haus, wir lieben unsere Gäste, wir lieben es, Menschen eine schöne, vielleicht sogar die schönste Zeit in ihrem Leben, bereiten zu können, wir lieben all das, es ist wie ein Märchen, und wir lieben unser Märchen, aber könnten wir uns entscheiden, nein.
Es hat uns zu viele Opfer gekostet.
Aber so ist das Leben.
Das endet, wie es begonnen hat.

“It’s the way it is, you know. Everything must come to an end.”

Herb Kazzaz
beim nahenden Tod in Bojacks Traum
in Bojack Horseman

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es ist wie es ist. Es ist einfach so.
Und so ist es dann auch.
Aber war es das deswegen nicht wert? Doch. Ein Märchen. Unser Märchen – ist das nicht schon mal was? Charlies Schokoladenfabrik. Alice im Wunderland. Harry Potter. Eine Geschichte, das Leben. Mit hoch und runter. That’s Magic. Yin Yang. Das Gute existiert nicht ohne das Schlechte. Ein Geschichte, die nur schön ist, ist keine Geschichte. So ist das Leben nicht.
Wir fragten uns immer, wann der Knoten platzt. Der Knoten platzt aber nicht. Seit ich das verstanden habe, ist (es gut).

“Was bleibt?”, fragt mich die Stimme wieder und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich überlege einen Moment, dann sage ich: “Das größte Wunder, dass wir eine Familie geblieben sind. Und dass in der ganzen Zeit ein normaler Mensch aus mir geworden ist. Ich habe jetzt keine Angst mehr vor der Welt, oder vor unbekannten Menschen. Ich habe keine Angst mehr vor mir. Ich mag mich jetzt sogar. Das ist vielleicht das Beste an allem.”
Ein kurze Pause. Dann fällt mir noch etwas ein: “Wenn das Fragen aufhört. Wenn du etwas machst, bei dem du nicht ständig fragst, ist das jetzt sinnvoll, warum mache ich das und so weiter. Wenn du es einfach machst, weil es dich erfüllt. Wenn du das gefunden hast, dann bist du eine ganze Ecke weiter. Alles hängt mit allem zusammen. Ich habe mich das erste mal so richtig zu Hause gefühlt. Das hat viel zum Rollen gebracht.”
“Und jetzt?”, fragt mich die Stimme zum Schluss.
“Jetzt? Jetzt pflanze ich einen Baum. Und hoffe, dass ich wenigstens einen Menschen ermutigt habe.”

Nachwort

Wir danken euch allen, dass ihr das gelesen habt. Haus Anna Elbe. Tatiana, Stefan, David, Johanna und Mathilda.

Tati wollte eigentlich viel mehr an dem Buch mitschreiben. Frauenpower und so. Das ist es, sie hat es so krass durchgezogen, und ich bin so stolz auf sie. Auch, wie sie trotzdem immer für die Kinder da war. Das hätte kein normaler Mensch mit mir durchgezogen. Danke dafür, meine Erdbeere.
Aber es ist ihr nicht gelungen, es hat sie zu sehr aufgewühlt. Von daher hoffe ich, dass ihr es trotzdem ein wenig genießen konntet.

Good Damage. Guter Schaden. Vielleicht ist es das. Ich wollte unsere Geschichte schreiben, um das alles zu verarbeiten. Wenigstens ein Stück. Einfach so.
Und wer weiß, vielleicht ist es auch eine Hilfe, ein Beistand oder eine Inspiration für andere. Das wäre noch das Allerschönste. Dass der gute Schaden für etwas gut war.

Wenn ihr uns unterstützen wollt (wir können euch auch eine Spendenbescheinigung geben):

paypal.me/HausAnnaElbe

Wenn ihr kein Geld habt, aber ein altes Haus kennt, das keiner mehr haben möchte, sagt uns auch Bescheid. Wir werden uns darum kümmern.