Das Schlüsselkind

Buch: Kapitel 03

Gedämpftes Licht. Tropische Pflanzen grünen von überall hervor. Es plätschert und duftet nach wohligen Kräutern. Ein feenartiger Brunnen in einem Thermalbad zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Im Hintergrund ragen gigantische Stahlträger in die Höhe und geben einem noch größeren, fast irrwitzigen, Kuppeldach Halt. Tropical Island bei Berlin. Eine Schwimm-, Thermal, -Sauna, -Spaß und so weiter Badelandschaft, die ihresgleichen sucht. Mein Cousin sitzt neben mir auf einer halb heruntergelassenen Ruheliege. Keiner sagt ein Wort. Der letzte Tag.
Tati hat mich gerade angerufen und gesagt, dass sie schon ein paar Tage mit der Periode überfällig wäre. Ich denke mir nichts dabei. Kann ja mal vorkommen. Unser Lebenstraum ist vor wenigen Wochen endgültig zerstört worden. Wir haben keine Kraft mehr. Keinen Mut, keine Hoffnung. Wir geben uns der größten Niederlage unseres Lebens hin, wir baden uns in ihr, wir gehen mit ihr auf – vielleicht können wir sie so irgendwann überstehen, wieder normal weiterleben. Da ist das doch kein Wunder, dass da mal die Periode ein bisschen verrückt spielt.
Am nächsten Morgen, wieder in Hamburg, wache ich lustlos in einem lustlosen Schlafzimmer vor einem lustlosen Arbeitstag in einer lustlosen Werbeagenturlustlosigkeit auf. Ich liege auf dem Bauch und öffne langsam meine Augen. Ein längliches Plastikteil fällt kurz vor meinen Augen auf die Matratze.
“Hier!”, ruft Tati.
“…”, ich weiß gar nicht, wie mir geschieht.
Langsam richte ich mich auf und nehme das Plastikteil in die Hand. Ein Schwangerschaftstest. Positiv.


– – –
Biiiiiiieep.
Ich schließe wieder die Augen. Ein Traum. Ein Traum.
Ich öffne die Augen. Kein Traum.
“Was sollen wir denn jetzt machen?”, ruft Tati verheult.
“Mama, was hast du?”, David ist auch wach und knuddelt sich an Mama.
“Mama?”, auch Johanna rennt ins Bad.
Ich folge: “Schatz.”
Es kommt nicht oft vor, aber ich bin sprachlos.
“Das überleben wir nicht!”, weint Tati. “Das übersteht unsere Ehe nicht!”
“Beere!”, ich drücke sie in meinen Arm. Auch die anderen beiden umarmen uns. Das Bad ist schön warm. “Schatz, ich muss los. Ich muss zur Arbeit. Bitte komm in der Pause ins Einkaufszentrum. Auf der Brücke beim Italiener, wir essen was zusammen, dann reden wir weiter, ok?”
Das Bad ist schön warm.
Wirklich, das geht gar nicht! So viel Zufall kann nicht sein, den ganzen Tag auf der Arbeit kann ich mich auf nichts konzentrieren, aber dann kommt ein Kollege und zeigt mir auf Youtube irgendein scheiß Video von ein so einem scheiß Comedian, und ich kann das gar nicht in Worte fassen, aber das ist genau so passiert.
Dieses scheiß Scheißvideo geht original 15 Minuten lang, der Kollege steht die ganzen, gefühlt, hundertachtzig Stunden neben mir und macht Geräusche.
“Ha!”
“Hömma!, der war gut!”
“Haaa!”
“Nä, isso, oder?”
“Jaaa, kennste, ne?”
“Haaaaahaa!”
“Genauuuuu so!”
Das geht die ganze scheiß Zeit so, ich kann das nicht glauben. Das muss versteckte Kamera sein. Mein ganzes Scheißleben, versteckte Kamera. Verstecktes Leben, oder so. Wo denn, ja, wo ist es denn, das Leben? Ich wollte ein Haus und kein drittes Kind, soll das alles ein Witz sein? Und dieser Scheißkollege geht einfach nicht weg.
15 Minuten geht dieses Video. Dieses Video handelt die ganzen Scheißfünfzehnminuten davon, wie beschissen das Leben doch mit Kindern ist. So viel Zufall kann es doch nicht geben.
So viel Zufall kann es doch nicht geben, wo sind die Aliens? Sie wollen mich verarschen. Alien-Versteckte-Kamera. Haha!, Aliens, ja, haha, das ist ja so lustig!
Ist wirklich so passiert.
“Schatz, ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Das mit dem Haus war zu krass, und jetzt sollen wir ein drittes Kind bekommen?”, resümiert Tati mit müden Augen beim Italiener im Einkaufszentrum auf der Brücke, die über dem alten Mühlteich beim Serrahn von einem Teil des Einkaufszentrums zum anderen ragt.
Pause. Ich sitze neben ihr: “Ich hab da lange drüber nachgedacht, aber … ich will das gar nicht aussprechen, aber hast du auch mal da drüber nachgedacht?”
“Du meinst…”
“Ja. Abtreiben. Ich weiß auch nicht, was sollen wir denn machen? Das überleben wir nicht!”
“Schatz, ich weiß es doch auch nicht!”
Die Sonne scheint, eigentlich ein schöner Tag. Die Enten im alten Mühlteich tröten so vor sich hin. Sie schwimmen auf und ab, manchmal jagen sie sich, manchmal fliegen sie ein paar Meter. Ich setze mich jetzt direkt neben Tati und nehme sie in den Arm. Wir schließen die Augen und wissen beide, dass wir das nicht machen werden. Wir werden unser drittes Kind bekommen.
“Ach, wo zwei satt werden, werden auch drei satt!”
“Das schafft ihr schon!”
“Ja, könnt ihr denn nicht verhüten?”
“Alle guten Dinge sind drei!”
Wir bekommen die unterschiedlichsten Sprüche zu hören. Aber jetzt ist es so. Und so ist es dann auch.

Der Anruf

2015. Tati: Das Telefon klingelt. Wo hab ich denn bloß das Ding wieder hingelegt, schießt es mir durch den Kopf. Langsam aber sicher kommt meine Schwangerschaftsdemenz durch. Ich finde es unter einem Stoffberg und gehe ran.
“Timmann?”
“Hallo Frau Timmann, hier ist Herr Müller. Sagen sie, suchen sie eigentlich immer noch ein Haus? Ich habe vor ein paar Jahren im Internet ihren Aufruf gesehen und hätte da vielleicht etwas für sie.”, ich kenne die andere Stimme am Telefon nicht.
“…”, mir wird heiß. Ich schaue auf meinen 6-Monatsbauch, der unter meinem T-Shirt eine deutliche Beule bildet. Ziemlich ungünstiger Zeitpunkt, aber: “Doch, ja klar.”
Ich hoffe, dass man meine Unsicherheit in der Stimme nicht hört. Bald drei Kinder und ein altes Haus. Mein Hirn schreit nein, mein Herz (und das liegt mir gerade auf der Zunge – es muss an den Hormonen liegen) schreit ja.
“Schön. Eine Bekannte sucht jemanden mit Herz für ihr altes Haus. Leider gibt es da eine tragische Familiengeschichte und sie kann es nicht mehr halten. Das Haus war die letzten Jahre unbewohnt, aber sie hat sich da immer darum gekümmert und das Notwendigste repariert und vor allen Dingen geheizt. Es ist genau das, was Sie suchen: denkmalgeschützt, 300 Jahre alt und in Altengamme.”
“Hmm, wissen Sie, wie groß es ist? Und wo genau in Altengamme liegt es?”, im Kopf gehe ich alle Häuser durch, die wir in den letzten Jahren abgefahren sind. Es sind einige. Aber in Altengamme fällt mir spontan kein einziges ein, das unbewohnt ist. Vielleicht, weil wir diese Ecke Hamburgs immer ein bisschen vernachlässigt haben?
Die Stimme am Telefon führt fort: “Am Altengammer Hauptdeich, kurz vor dem Kreisel. Da wo früher der Hafen war. Es hat eine niedliche Brücke, die auf den Deich führt. Ist ca. 200qm groß, also die Grundfläche.”
“Fachwerk?”
“Ja. Wenn Sie sich das mal anschauen möchten, würde ich Ihnen die Kontaktdaten meiner Bekannten geben.”
“Welche Nummer am Altengammer Hauptdeich war das noch konkret?”
“Nummer 82, glaube ich, direkt neben einer alten Tankstelle.”
“Ich würde mit meinem Mann sprechen und mich gleich zurückmelden. Ist das okay?”
“Natürlich. Es würde mich sehr freuen, wenn das Haus einen netten neuen Besitzer findet.”
Ich muss erstmal tief durchatmen. Es gab in den letzten 1,5 Jahren kein einziges Haus in Vierlanden zum Verkauf, das in Frage gekommen wäre. Und wir haben ständig die Immobilienportale durchkämmt. Nennt man das schon Immobilienblase?
Ich rufe Stefan an: “Schatz?”
“Ja?”
“Ich habe gerade einen Anruf von Herrn Müller bekommen. Ob wir immer noch ein Haus suchen und er hätte da vielleicht etwas für uns.”
“Wo soll das denn sein?”
“Am Altengammer Hauptdeich 82. Ca. 300 Jahre alt, ca. 300qm , Fachwerk, niedliche Deichbrücke und denkmalgeschützt. Da gab es wohl einen tragischen Unglücksfall in der Familie und das Haus soll schnell verkauft werden.”
Im Hintergrund höre ich das Klappern seiner Tastatur. Er ist auf der Arbeit. Dort rufe ich ihn nur an, wenn es wirklich wichtig ist.
“Beere, ich hab mir das eben mal bei google maps angeschaut. Das ist zu klein und liegt echt weit ab vom Schuss. Fast schon an der Grenze zu Schleswig-Holstein. Ich glaub, das ist nichts.”
“Meinst du? Aber wir haben es doch noch gar nicht angeschaut. Es gab seit 1,5 Jahren kein Haus mehr zum öffentlichen Verkauf. Lass es uns wenigstens angucken. Und wenn es nichts ist, als Erfahrung verbuchen.”
“Ich weiß nicht. Es sieht echt klein aus.”
“Ach komm. Sonst gehe ich allein hin.”
Er hört sich echt angenervt an. Jemand ruft im Hintergrund seinen Namen.
“Ok. Mach einen Termin.”, dann legt er auf.
Stille. Mein Herz rast. Das Baby in meinem Bauch tritt mich so heftig, dass ich den Fuß sehen kann. Alles klar. Das war ein Zeichen. Versuchen wir es. Wir sind wieder im Rennen. Vielleicht wird das mit unserem Traum vom alten Haus doch noch was.
“Moin Herr Müller, hier ist Tatiana Timmann. Wir würden uns das Haus gerne mal anschauen.”, ich merke, wie ich innerlich anfange zu schwitzen. Immer diese Hormone.
“Oh, das freut mich ja. Ich habe in der Zwischenzeit mit meiner Bekannten telefoniert. Wie gesagt, momentan überlegt sie noch, ob sie das Haus auch wirklich verkaufen muss. Aber wenn, dann soll es in gute Hände gelangen. Es ist ihr Elternhaus. Ich gebe Ihnen mal die Telefonnummer einer Bekannten, die ist Maklerin und würde alles vermitteln. Da können Sie gerne einen Termin zur Besichtigung ausmachen.”
Langsam diktiert er mir die Nummer und den Namen seiner Bekannten. Ich schreibe alles mit. Nachdem ich aufgelegt habe, rufe ich sie direkt an.

“Park doch mal ein bisschen weiter weg, damit man uns nicht direkt sieht. Man weiß doch im Dorf, dass wir ein Haus suchen.”, Stefan klingt ernsthaft besorgt.
“Wer soll uns denn sehen? Wir machen einen Spaziergang.”
“Ich mein ja nur.”
Trotzdem höre ich auf ihn und parke ein paar hundert Meter vom Haus, das wir uns gleich anschauen dürfen, entfernt. Wir sind gerade schon dran vorbeigefahren und ich bin begeistert vom ersten schnellen Blick.


Wir fühlen uns ein bisschen wie Schwerverbrecher als wir die Straße rauf und runter spazieren. Das Haus liegt ganz nah am Deich. Längs zum Deich – die meisten Häuser in den Vier- und Marschlanden liegen quer zum Deich – und blickt vorne am Giebel auf die Elbe, die direkt vor unserer Haustür liegt. Es ist ein Nebenarm der Elbe, der seitdem dort ein neues Naturschutzgebiet entstanden ist, wieder tideabhängig ist; das heißt, es herrscht Ebbe und Flut. Aus dem vorne abknickenden Giebel führt eine Deichbrücke direkt in den ersten Stock des Hauses. Neben dem Haus liegt ein kleines Tannenwäldchen. Wirklich, wie im Märchen, wir können das gar nicht glauben.
Um Punkt 16 Uhr fährt ein Auto vor, aus dem eine junge hübsche Frau aussteigt. Herr Müllers Bekannte. Sie hat einen großen Schlüssel in der Hand und begrüßt uns freundlich: “Herr und Frau Timmann? Ich bin Maite Jansen. Dann wollen wir uns das Haus mal anschauen, was?”.
Sie läuft vor uns den Stegel am Deich in Richtung Dielentor hinab. Der Schlüssel in ihrer Hand klappert beim Gehen. Als sie das große Scheunentor öffnet, schauen Stefan und ich uns an.
Wir kommunizieren ohne Worte und wissen beide: Das ist es, unser Haus.
Die Maklerin zeigt uns alles: Die Diele, in der früher die Stallungen der Tiere waren und heute verlassene Büroräume und die Überreste einer Fahrradwerkstatt. Den alten Krämerladen, der gefühlt zumindest, gestern erst verlassen wurde. Überall stehen noch Dinge, die verkauft wurden: Alte Müslipackungen, Kaffee, ein paar Dutzend Glaskrüge, in denen die ganzen Bonbons drin waren, altes Waschpulver, eine Bohrmaschine, Äxte, Gummistiefel, Maggi. Im Geist muss ich sehr grinsen. Ist halt breit aufgestellt, dieser Krämerladen. Der hat halt das verkauft, was die Menschen hier so brauchen. Tante Emma und so. Mir läuft eine Tatort Szene durch den Kopf, die ich aber schnell wieder verwerfe. Zu viele verrückte Gegenstände, die man normalerweise nicht auf einem Platz entdeckt. Weiter geht es zur kleinen Küche und der Eckbank, die mich so an meine Großeltern erinnert. In den drei nebeneinander liegenden Zimmern dahinter, in denen früher die Hausbesitzer geschlafen haben, finden wir noch Schrankbetten. Das waren kleine Kammern in der Wand, auch Alkoven genannt, in denen früher die Bewohner sitzend geschlafen haben.
Wir sind hin und weg. Bloß nicht anmerken lassen, schießt es mir durch den Kopf. Es gibt selten noch so gut erhaltene Häuser. Das hatten wir in der Vergangenheit schon festgestellt. Entweder sie waren kaputt saniert oder verfallen.
Tropf — Platsch — Tropf — Platsch
Wir sind auf dem Dachboden angekommen.
“Naja, das Reetdach müsste mal wieder gemacht werden”, sagt die Maklerin.
Bisschen untertrieben, denke ich, das Dach braucht eine Rundumerneuerung, nicke aber nur und schaue weiter auf die Gefäße in den Dachschrägen unter dem Reet, die sich langsam aber sicher mit Regenwasser füllen.
Tropf — Platsch — Tropf — Platsch
Weiter geht’s in den Garten. Ich merke, wie Stefans Augen anfangen zu glänzen. In südlicher Richtung gibt es einen kleinen Wald mit vielen verschiedenen Tannen.


“So, jetzt können wir…”, die Maklerin sagt noch etwas, aber das bekomme ich schon nicht mehr richtig mit. Wir sind mit der Hausbesichtigung durch. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Das will ich haben, schießt es mir in Dauerschleife durch den Kopf. Ich schiele zu Stefan, er scheint dasselbe zu denken. Auch von meinem Bauch kommt eine deutliche Zustimmung in Form eines heftigen Fußtritts vom Baby.
“Und wie geht es jetzt weiter?”
“Sie machen sich Gedanken, ob das Haus etwas für Sie wäre und geben mir dann schnell eine Rückmeldung.”
“So machen wir das”, stimmen wir überein und schlendern zurück zum Auto.

“Sag mal Tatiana, sucht ihr gerade wieder ein Haus in Altengamme?”, mein Herz fängt an zu rasen, und beinahe verschlucke ich mich beim Trinken. Meine Arbeitskollegin Marion, die mit mir zusammen gerade viele Pakete packt, stellt mir gerade diese Frage. Wieder fällt mein Blick auf die Wölbung unter meinem T-Shirt.
“Ach Marion. Nein, natürlich nicht. Das wäre ja jetzt auch denkbar ungünstig.”, und zeige mit einem Zwinkern und einem Schulterzucken auf meinen Bauch.
“Wie kommst du denn da drauf?”, hake ich nach. In meinem Kopf spielen sich alle möglichen Szenarien ab: Jemand hat uns bei der Besichtigung gesehen und weiß nun, dass das Haus verkauft werden soll und irgendjemand Reiches kauft uns das Haus vor der Nase weg. Wäre ja nicht das erste mal, dass das nicht klappt – das vierte Mal oder so.
“Ich habe euer Auto gestern in Altengamme in der Nähe eines alten Hauses gesehen. Und weil ihr ja doch ein paar Kilometer weiter weg wohnt, habe ich mich gefragt, ob ihr immer noch auf Haussuche seid.”, diesmal zwinkert sie mir zu.
“Wir waren mit den Kindern spazieren. Kennen Altengamme ja kaum und haben gedacht, dass das mal ein schöner Ausflug wäre… Wieso? Soll da ein Haus verkauft werden?”.
“Nicht, dass ich wüsste. Ich dachte nur. Ich verfolge eure Suche nach einem alten Haus schon ein paar Jahre und hätte es euch so gewünscht. Ich komme ja auch aus Altengamme. Bei eurem nächsten Spaziergang müsst ihr unbedingt mal in die Besenhorster Sandberge gehen. Das ist wirklich total schön dort.”
In Gedanken fällt mir ein Stein vom Herzen. Sie hat mir den Spaziergang abgenommen. Keiner will uns das Haus wegnehmen, denke ich. Wie falsch ich doch liegen sollte…
Wir entscheiden uns schnell: Dieses Haus gehört zu uns. Ein Anruf bei der Maklerin: “Ja, wir wollen”.
Es ist ein bisschen wie Hochzeit feiern. Frisch verliebt in das neue alte Haus, schweben wir auf Wolke sieben.
“Wir würden jetzt die Finanzierung final klären und nehmen das Haus definitiv.”, das Wort definitiv schreie ich fast, um es zu betonen. “Nur fahren wir jetzt zwei Wochen in den Urlaub. Das können wir mit den beiden Kindern nicht mal eben so verschieben. Falls was ist, rufen Sie an. Wir sind nur drei Stunden mit dem Auto entfernt. Dann klären wir das vor Ort. Aber wir nehmen das Haus definitiv und die Bank hatte in der ersten Anfrage schon gesagt, dass die Finanzierung klar geht.”
“Alles klar. Das machen wir so.”, ist die Antwort der Maklerin.
So eine Hausfinanzierung ist nicht mal eben so gemacht und dauert auch immer eine ganze Zeit. Weil wir ja schon Jahre vorher mit Objekten zur Bank gegangen waren, haben wir aber zumindest einen wichtigen Punkt schon erledigt: Alle Daten von uns und unserem Konzept liegen dort in einem Kundenordner und müssen mehr oder weniger nur auf das aktuelle Jahr und die letzten Monate angepasst werden. Ich sende also direkt nach dem Telefonat alle Lohnabrechnungen an unsere Bankberaterin inklusive der angepassten Excel Tabelle mit dem aktuellen Finanzierungswunsch. Wir haben aus unserer Erfahrung 2014 gelernt: Wenn es geht, möchten wir erst das Haus kaufen, damit es uns sicher gehört und erst danach unseren Neubau zum Verkauf freigeben. Beim Ausbau gehen wir nur so weit, dass es finanziell passt, briefe ich unsere Bankberaterin.
“Alles klar. Ich mache Ihnen da mal was fertig. In der Zwischenzeit wäre es toll, wenn Sie mir mehr Zahlen und Fakten liefern könnten: Was kostet der Ausbau? Wie wird das Haus ausgebaut? Besteht der Plan noch, dass Sie Ferienwohnungen darin machen möchten? Wie viele Einnahmen erwarten Sie im Lauf der Jahre? Welche Ausgaben erwarten sie? Ein Businessplan ist gut, damit wir alles mit Zahlen hinterlegen können.”
“Ja.”, ich schlucke. Einen Businessplan mit Finanzierungen habe ich leider mal nicht eben so in der Schublade. Den muss ich erst schreiben. Das würde dauern. Es wäre also wirklich gut, wenn das mit der Zwischenfinanzierung des Hauses klappt, damit das Haus uns nicht schon wieder vor der Nase weggeschnappt wird.

Wir liegen gerade am Binzer Strand als das Telefon klingelt und der Name der Maklerin auf dem Display erscheint.
“Mamaaaaaa, guck mal, was für eine schöne Sandburg ich gebaut habe”, ruft David.
“Mama, wann gehen wir schwimmen?”, macht Johanna weiter.
“Ich muss mal eben ans Telefon”, hektisch schiebe ich auf dem Display rum, um den Anruf anzunehmen.
“Hallo Frau Timmann, sagen sie, sind sie denn jetzt noch am Haus interessiert?”, fragt die Maklerin.
“Ja, natürlich.”, antworte ich, das Blut sackt mir in die Füße.
“Ja?”
“Ja!”
“Ich frage nur, denn …”
“Die Frage wundert mich nun ein bisschen”, unterbreche ich ein wenig ruppig. “Ihnen liegt doch die Finanzierungsbestätigung der Bank vor.”
“Es ist nur so, dass sich ein Mitglied der Familie nun doch vorstellen könnte, das Haus zu kaufen.”
Ich werde kreidebleich. Blut ist dicker als Wasser, immer. Das hat schon meine Oma früher gesagt. Da haben wir keine Chance mehr. Während die Kinder neben mir einen traumhaften Urlaub verbringen, Sand, Sonne und Meer inklusive, würde ich am liebsten laut losschreien.
Denken, Tatiana, denken. Stefan kommt auf mich zugelaufen und sieht, dass etwas nicht stimmt. Mit dem Telefon in der Hand versuche ich mit den Lippen das Wort Maklerin zu formen. Er versteht mich sofort.
“Wir sind gerade im Urlaub mit den Kindern. Das hatten wir doch gesagt. Sie haben die Finanzierungsbestätigung vorliegen”, stammel ich weiter.
Stefan wackelt mit den Armen und versucht mir wohl zu sagen, dass ich Schluss machen soll.
“Kann ich gleich zurückrufen?”, frage ich dann.
“Ja, klar. Ich freue mich.”, sagt sie.
“Was ist los?”, will Stefan jetzt genau wissen.
“Die Maklerin, sie sagt, dass jetzt jemand aus der Familie das Haus haben will!”
“Was?”, Stefan wird auch kreidebleich. “Dann können wir das wieder vergessen!”
“Ja!”, ich sacke zusammen und denke an alles, was wir schon erlebt hatten. An all die Versuche und all die Absagen und all das Hoffen, das alles für den Arsch war. Ich kann es nicht glauben.
“Ich kann es nicht glauben!”, schreit Stefan. Die Leute am Strand gucken schon.
“Schatz.”, versuche ich ihn zu beruhigen. “Wir müssen jetzt ruhig bleiben!”
“Ruhig?”, er ist immer noch laut.
“Schatz.”
“Was?”
“Warte doch!”
“Was sollen wir denn jetzt machen?”
“Keine Ahnung!”
Stille. Die Kinder wollen irgendwas von uns. Wir sind Welten entfernt.
“Warte”, Stefan hat sich etwas beruhigt. “Vielleicht, … warte. Der Notar.”
Tati macht weiter: “Der Notar?”
“Der Notar. Vielleicht sagen wir einfach…”
“… vielleicht sagen wir einfach, ja, dass wir schon einen Notar-Termin haben. Ja!”
“Genau! Wir sagen, dass wir den Termin schon haben, damit das ganze verbindlicher aussieht. Das war doch schon mal das Problem, dass uns der mit dem Haus aus Kirchwerder auch nicht glauben wollte.”
“Ja, ja, das machen wir. Ich rufe sofort die Maklerin an.”
“Ja.”
“Frau Timmann?”, die Maklerin.
“Ja. Entschuldigung, der Empfang war eben nicht so gut. Ja, das mit der Familie, ok, aber wir haben doch schon einen Notar-Termin. Ist das dann nicht mehr aktuell?”
“Ach so, nein, nein, wenn das so ist. Ich dachte nur, vielleicht haben sie es sich doch anders überlegt. Na, dann sage ich dem Interessenten aus der Familie ab.”
“Gut!”
“Gut, gut, nein, dann lassen wir das natürlich. Nur eins noch, wir würden das gerne bei unserem Notar Blauvogel & Kolk machen. Könnten sie sich vorstellen, hier nochmal etwas flexibel zu sein.”
“Ja, klar.”, o, war ich zu schnell mit meiner Antwort?
“Wunderbar, dann melde ich mich wieder bei ihnen.”
“Ja, ja, super.”
“Also, dann noch einen schönen Urlaub.”
“Gut, Danke.”
“Also, bis dann. Tschüs.”
“Ja, Tschüs.”
Stille. Stefan guckt, wie an Weihnachten.
“Was ist?”, durchbricht er schließlich die Stille.
“Sie hat es geschluckt!”
“Booooa, Alter!”
Das Baby im Bauch tritt mir aufmunternd in die Lunge. Ich japse, aber wir sind sehr erleichtert.

“Stefan, willst du wirklich so ein Haus kaufen?”, fragt meine Mutter am Küchentisch, als wir mal wieder in Bramfeld bei meinen Eltern sind.
“…”, ich schweige.
“Das ist doch so viel, das ist doch so kaputt. Deine Kinder. Und du bist doch gar nicht so ein Geschäftsmann. Und das mit deiner Agentur, dieser Zusammenbruch, das ist doch noch gar nicht so lange her.”
“M, hm.”
“Überleg dir das doch nochmal. Du hast doch ein wirklich schönes Haus. Deine Kinder, die werden dann da ja auch rausgerissen.”
“…”
“Und wenn du dann nochmal so einen Zusammenbruch hast? Was ist dann mit dem Haus? Und das Geld. Die Kinder. Da kannst du dann nicht einfach weg.”
“…”
Das geht noch eine ganze Zeit so. Ich habe keine Antwort. Ich habe ein Haus. Nach über fünf Jahren Suche. Ich weiß es doch auch nicht. Aber ich weiß, dass ich mich auf meine Eltern verlassen kann, und sie sagen mir, dass sie mich trotzdem unterstützen wollen und uns ein Startkapital für den Kredit bei der Bank für das Haus geben möchten. Ich danke euch so sehr dafür.
Ich weiß nicht, ob es was damit zu tun hatte, aber kurze Zeit später fand ich mich plötzlich am Bett neben meiner Mutter wieder und hielt ihre Hand in meiner. Was mache ich jetzt, was mache ich jetzt nur? Sie zittert und ihr Herz schlägt nicht mehr so, wie es schlagen soll. Ich habe Angst, das erste Mal in meinem Leben habe ich richtig Angst um meine Mutter. Sie hatte schon länger Probleme mit dem Herzen. Aber das?
Lange Jahre, vor allem in meiner Kindheit, hatte ich kein besonders herzliches Verhältnis zu meinen Eltern, und jetzt, verheiratet, ein drittes Kind, dieses Haus, das wird gerade irgendwie alles viel zu viel. Ich unterdrücke meine weiteren Gedanken, die ich habe – Tati ist zur selben Zeit am Haus mit dem Bankvorstand, der dort vor Ort beurteilt, ob das Vorhaben mit uns wirklich realistisch scheint – und schließe mein Augen. Ich bete, dass es meiner Mutter bald wieder besser geht. Auch mein Glaube hat sehr gelitten unter den ganze Ereignissen in letzter Zeit.
Doch ein paar Wochen und viele Untersuchungen später geht es meiner Mutter wirklich besser. Wir sind unfassbar erleichtert und können endlich nach vorne schauen.

Die Bank

Das Spiel geht nun wieder von vorne los – alles für die Bank vorbereiten. Konzept, Businessplan, Liquiditätsplanung, Tabellen und noch mehr Tabellen, Kontoauszüge, Gehaltsnachweise, Pläne, Zahlen, Fakten, Zahlen, Zahlen, Zahlen, Denkmalschutzgenehmigungen und so weiter und sofort. Wir können zwar wieder auf fast allem aufbauen, das wir schon bei den anderen Häusern, an denen wir dran waren, angefertigt haben, doch trotzdem ist diese Arbeit unglaublich nervenaufreibend. Es sind diese ganzen Entscheidungen, die hohen Zahlen und Geldwerte, mit denen man hantiert, die dann das ganze Leben bestimmen werden.

“Ich nenne ihnen jetzt elf Gründe, warum sie das alles mit diesem Haus nicht machen sollten!”, trägt der verantwortliche Denkmalschützer für die Vierlanden beim Termin vor Ort im Haus vor.
Dieser Termin ist Pflicht. Der Denkmalschützer muss das Haus sehen, wir erzählen ihm unsere Ideen mit dem Haus, und er muss sich das auch vorstellen können. Funktioniert das? Können gewisse Eingriffe passieren, die nötig sind, damit das Ganze umsetzbar ist, ohne dass die Grundstruktur des Hauses zerstört wird? Wenn dieser Herr nein sagt, ist es nein. Er ist unser Gott, höher noch als das Bauamt. Und das will etwas heißen.
“Grund eins: Haben sie viel Geduld?”, fährt er fort.
“Grund zwei: Haben sie ausreichend finanzielle Mittel?”
“Grund drei: Haben sie viel Durchhaltevermögen?”
Er zählt immer mehr auf. Doch kein einziger Grund, den wir vorher nicht irgendwie bedacht hätten – mal mehr, mal weniger, manchen Grund müssen wir uns vielleicht auch noch etwas schönreden, vor allem, dass das mit dem Geld schon irgendwie hinhauen wird. Aber grundsätzlich beruhigt uns das alles etwas. Scheinbar merkt auch der Denkmalschützer, dass uns das nicht allzu sehr stört. Er fährt noch härtere Geschütze auf.
“Grund zehn: Ich sehe, sie bekommen ein Kind. Das hört sich vielleicht etwas banal an, aber, glauben sie mir, ich habe schon viel gesehen, haben sie eine feste Partnerschaft?”
Das werden wir nie vergessen. Tati erwidert trocken: “Oh, ach sie meinen – nein, nein, das ist das dritte Kind. Wir sind seit über zehn Jahren verheiratet.”
“…”, jetzt sagt Denkmalschützer nichts mehr. Grund elf scheint er auch vergessen zu haben.
Er scheint wirklich beruhigt und erzählt uns, nachdem wir mit ihm durch das Haus gegangen sind, was für ein Glück wir hätten, dass wir so ein unverbautes original erhaltenes wunderschönes Haus nun unser eigen nennen können. Das wäre eine absolute Seltenheit. Wir sind sehr zufrieden. Die Klöndör, die alte zweigeteilte Tür zum Feld raus, ist über 300 Jahre alt.

Die weiteren Tage treffen wir uns oder telefonieren mit Andreas oder anderen Freunden aus dem Hotel- und Gastro-Umfeld, um unsere Pläne durchzusprechen. Und wieder vereinbaren wir mit der Bank einen Termin, um alles finanzieren zu können.
Das dauert alles seine Zeit, aber schließlich ist der große Tag da, und wieder stehen wir im Wartezimmer der Bank und hoffen, dass wir eine Finanzierung bekommen.
Da schlägt es auf einmal wie ein Blitz in mir ein – eine Millionen-Finanzierung. Nicht irgendeine! Eine Million mit sechs Nullen. Ein siebenstelliger Betrag. Ich schlucke. Wir nehmen eine unglaublich hohe Summe auf. Und wird das ganze Ding überhaupt funktionieren? Ich habe keine Ahnung. Was, wenn das alles den Bach runterläuft? Das Geld können wir nicht in zehn Leben mehr zurückzahlen! Ich habe Angst. Ein weiterer Blitz schlägt ein.
“Schatz, was machen wir hier eigentlich?”
“…”, sie schweigt.
“Schatz! Das ganze Geld. Alter, das ist eine Million! Können wir wieder gehen?”
“Bär. Jetzt ist es zu spät.”
“Nein, nein. Alter, das ist nicht zu spät. Das ist doch der Wahnsinn!”
“Bär. Wir schaffen das!”
“Alter.” Achthundert-Milliarden Gedanken gehen mir durch den Kopf.

Fünf Wochen, Agentur, Keller und ein Leben aus Sand

“Wenn die Welt um ihn herum lauter wurde, wurde er immer leiser. Wenn die anderen Jungs und Mädchen miteinander rauften, zog er sich immer mehr in sich zurück.”, pflegte der gutherzige Pastor aus der Kirche immer von mir zu erzählen.
Das ist keine fünf Jahre her. 2019. Wenn du denkst, du bist schon erwachsen, und dann kommt das. Mein Leben, ein Kampf. Das war schon immer so. So schüchtern und wertlos, jeder Tag wieder, ein Kampf. Erst in meinen Dreißigern habe ich wirklich verstanden, was das früher war. Frei, in einem freien Land. Aber kein Schritt außerhalb meiner Wohnung in Freiheit. Überall, immer die Sorge und Angst, wie sehen mich die anderen? Wie sehe ich aus, wenn ich da so lang gehe? Verdammt, was mache ich, wenn ich die falsche Bahn nehme? Noch kurz vor der Oberstufe bin ich nie alleine in die Stadt gefahren. Ich wusste nicht, wie ich an die Alster komme, ich wusste nicht, was die Mönckebergstraße ist. Hamburg war ein Land in weiter Ferne. Informationsüberschuss. Alle Geräusche, ganz klar und laut. Alle Augen aller Menschen im Umkreis von einhundert Metern kleben an mir, sie starren mich an, sie verurteilen mich, was ich doch für ein kleines Stück Scheiße bin. Was laufe ich hier überhaupt rum und was für dämliche Klamotten habe ich da eigentlich an? Diese kleinen Gedankengeister sind immer da. Meistens kommen sie von hinten. Sie pirschen sich an, flüstern dir schreiend entgegen, was, wieso, warum, du erschrickst kurz, und dann sind sie wieder weg. Das passiert jeden Tag, ständig.
Ich falle da runter. Diese Kellertreppe. Ich öffne die Tür, gehe ein paar wackelige Schritte, setze den ersten Fuß zaghaft auf die Treppe, knicke weg, mein Fuß knickt weg, mein Bein zerbricht und ich falle die ganze lange tiefe Treppe herunter, bis mein Kopf an der schweren Metalltür im Keller zerplatzt. Blood splatter. Da ist noch keiner da, ich bleibe liegen. Ein roter Blutfleck an der Tür fließt in einzelnen Strängen herunter und wird von meinem Mantel nach und nach aufgenommen. Ich bleibe liegen. Keiner kommt. Tod.
Einige Jahre Berufserfahrung liegen hinter mir. Agentur, Werbung, bla. Grafik machen, Internet dann auch, bla. Alles gut gegangen, hätte ich nie gedacht. Überall diese ganzen Leute, alle, die ich nicht kenne. Und alle, die mit mir reden, wie mit einem normalen Menschen. Ich arbeite mit denen zusammen, ja ich halte irgendwann sogar kleinere Präsentationen vor Kunden. Kann sich kein Mensch vorstellen. Offensichtlich hat mir das Ganze ganz gut getan. Denn mein demoliertes Selbstbewusstsein und meine Schüchternheit haben sich zwar nicht ins Gegenteil verkehrt, doch ich bin durchaus auf dem Weg in ein vergleichsweise normales Leben – Randnotiz, so ein Leben, bei dem man einfach in den Tag startet, ohne gleich existenzielle Ängste zu verspüren, so ein Leben, in dem man ein wertgeschätzter Teil des Ganzen ist. Herrlich.
Zu früh gefreut. 2009. Da bin ich doch schon fast dreißig. Kann sich kein Mensch vorstellen. Neuer Job, neue Projekte, neue Menschen. Doch irgendwas passt nicht. War ich überfordert? Hab ich zu viel gearbeitet? Waren die Leute doof? Was?
Schanze, Hinterhof, Agentur, Agenturnetzwerk, hier und auch Stuttgart und Berlin. Oben im ersten und zweiten OG viel Print noch, große Kampagnen, große Namen, Daimler, Oliver, Banken, und wir so, unten im Keller: digital, Internet, Animation und auch große Namen und so. Die erste Woche, ich weiß das noch, immer Überstunden, kein Abend vor frühestens acht zu Hause, und Freitag wollten wir zu Tatis Großeltern nach Bad Essen fahren. Wieder spät. Tati wartet auf dem Parkplatz, wo sie mich abholen wollte. Aber ich komme nicht. Sie ruft an. Dann doch. Deutlich später als geplant fahren wir los. Mein Gefühl, wow, das ist krass, viel, aber irgendwie spannend. Bin gut durchgekommen, aber das wird krass.
Die nächste Woche geht noch. Die Woche danach, fühlt es sich nicht mehr gut an. Die Woche danach komme ich nur noch mit tiefer Angst an die Arbeit. Alle hier sind so eloquent und gebildet. Die können alle programmieren, obwohl die doch gar keine Programmierer sind. Der Kontakter, der weiß alles. Ich fühle mich klein, ungebildet, plumb. Alle so hip hier. Clash of cultures. Der Junge aus Bramfeld in einem Haifischbecken voller Halbgötter. Warum nimmt mich niemand mal in den Arm?
“Stefan, was sagst du? Wollen wir das so machen?”, fragt Kevin.
Schulterblatt. Ich sitze mit einigen meiner Arbeitskollegen beim Italiener, wir machen Mittagspause.
“Ähm…”, was soll ich sagen, was soll ich, sagenwassollichsagen? Mir ist heiß und kalt und heiß und kalt. Irgendetwas in meinem Körper schwallt durch mich hindurch.
“Die Idee mit der Regenmütze ist doch ganz charmant, oder?”
“Jjjj … ja, ja. Auf jeden Fall.”, ich bekomme das Essen nicht runter. Ich schwöre, meine Kehle, mein Mund ist so trocken, dass ich selbst die matschige Pasta nicht runterbekomme. Ich kann es nicht glauben. Ich bin dermaßen unter Spannung, dass ich gleich implodiere. Wie geh ich weg? Also, nicht im Sinne von gehen, Schritt für Schritt, sondern im Sinne von, geht das weg?, kann das weg, ist das Kunst oder kann das weg?, gehe ich weg, unsichtbar, mein Gott, ich muss hier raus! Gehe ich weg?
Jetzt kommt Rouven, der direkt von Steffi unterbrochen wird: “Ich denke, wir sollten dem ganzen noch einen draufsetzen. Die Regenmütze hat schon eine gute Wiedererkennung, aber da fehlt noch der gewisse Pfiff!”
Hat sie wirklich Pfiff gesagt?
“Versteht ihr? Vielleicht bekommt das Testimonial noch eine Pfeife. So nordisch. Norddeutscher Strom braucht norddeutsche Menschen. Ein Fischernetz!”
“Ein Fischernetz? Der steht doch vor dem Laden!”, unterbricht Rouven.
“Jaja, aber das ist doch jetzt egal. Ein bisschen übertreiben, ironisch, ein bisschen Persiflage!”
“Nee, im Ernst?”
“Ein bisschen müssen wir in den Tönen was machen. Der Look muss ein bisschen dezenter werden. Norddeutsches Understatement. Mit den Farben kann man da auch noch ganz schön was machen.”
Wir essen doch gerade.
“Die Farben sind super so!”
“Nein! Die Farben, da kann man noch was machen. Die Sättigung muss da ein bisschen raus!”
“Aber nur weil wir in Norddeutschland sind, muss doch nicht alles farblos wirken!”
“Farblos nicht. Das soll nicht farblos wirken. Aber mit einem leicht matteren Look hätten wir sofort mehr Erkennbarkeit!”
Seit gut einer viertel Stunde sammle ich all meine Spucke in meinem Mund, damit ich die restlichen Happen meiner matschigen Pasta noch runterbekomme. Es geht einfach nicht.
“Stefan, was sagst du denn?”
“…”, o mein Gott, das war’s jetzt.
“Hast du gar keinen Hunger?”, fragt Steffi.
“Ja, doch, nein, also, eigentlich schon, aber im Moment gerade, weiß ich auch nicht. Also…”
“Stefan komm”, Kevin macht weiter. “Du bist auf meiner Seite, oder?”
Alles in mir und um mich herum zieht sich zusammen. Ich dachte, aus dem Alter wäre ich raus, meine Gedanken sind auf den Bruchteil einer Erbse zerdrückt – kann man Gedanken in Größe messen? – auf den Teil eines Senfkorns, Atoms. Es ist nichts mehr übrig, nicht mehr messbar. Ich bin ein vor sich hinverwesendes Fleischbündel ohne erkennbaren Sinn und Verstand. Die reden irgendwas mit mir, ich komme nicht mehr mit.
“Stefan, möchtest du noch ein Brot?”, Steffi, lieb und herzlich.
Mein Gott, sie hat mich gerettet, da komme ich gerade noch so mit: “Nein. Nein, Danke!” Wenn ich das versuchen würde zu essen, könnte ich genauso gut versuchen, die Sahara mit einem Schluck auf ex leerzutrinken. “Nein, nein.”
“Lass uns nachher weitermachen. Wir brauchen mal eine Pause.”, lispelt Rouven.
Schön. Schön ist das. Die Pause ist rum. Mein, Gott, ich kann nicht mehr.
Dass das aber auch keiner merkt. Jeder Satz, den ich sage, zerrinnt, zerläuft noch bevor er aus meinem Mund kommt in meinem Verstand zu einer klebrigen Masse aus kleinen Knoten, die sich alle daraus befreien wollen, alle in andere Richtungen, aber es gelingt keinem. Da bleibt nichts von dem, was ich sage. Ich verstehe nicht, wie ich überhaupt etwas sage.
Zurück in der Agentur. Rouven sitzt neben mir, er erklärt mir etwas mit dem Mailprogramm. Ich verstehe das aber nicht. Ich glaube, das müsste einfach sein, aber ich verstehe es nicht. Ich sage nur immer wieder “O Mann, was ist los” oder “Heute bin ich nicht so gut drauf” oder “Mhm” oder, oder, oder.
Nach einer gefühlten Ewigkeit gibt er mir eine Datei mit der Anleitung. Wie tief kann man sinken? Ist gar nicht lang. Ein, zwei Absätze. Aber Rouven bleibt neben mir sitzen. Soll das ein Witz sein? Wieso geht der nicht weg? Dann könnte ich in aller Ruhe diesen Scheiß durchlesen. Aber der geht nicht weg. Also lese ich. Aber es geht einfach nicht. Ich lese den ersten Satz immer und immer und immer wieder. Aber nicht ein Wort bleibt in meinem Gehirn stecken. Ich versuche es nochmal ganz langsam. Es geht nicht.
“Okay, ich glaube, ich hab’s gecheckt.”, behaupte ich schließlich.
“Sonst komme ich nachher nochmal. Ich muss mal weitermachen.”
“Ja, alles gut.”
Er geht. Gerettet. Für die schätzungsweise mindestens nächsten fünf Minuten sollte ich in Sicherheit sein. Egal, danach sehen wir weiter. Jetzt sitze ich hier erstmal und keiner will etwas von mir.
Ich lese den Satz erneut. Und nochmal und nochmal. Scheiße, es funktioniert immer noch nicht. Obwohl keiner neben mir setzt. Nochmal. Nein, es geht nicht. Eintausendeinemillionen Mal lese ich diesen scheiß Satz. Es geht nicht. Mein Leben.
Ich steigere mich da immer mehr rein. Immer weniger verstehe ich, was ich gerade mache, aber noch läuft es. Autopilot. Doch es macht mir Sorgen. Kaum einen Satz kann ich mehr normal formulieren, ohne drei oder vier Mal ansetzen zu müssen. Grammatik, sechs, setzen. Bei längeren Sätzen vergesse ich am Ende den Anfang vom Satz und kann ihn nicht zu Ende führen. Mein Englisch. Ganz schlimm, da kann ich gar keinen Satz mehr richtig formulieren. Und das Schlimmste: Ich habe Angst, dass ich dümmer geworden bin. Das bohrt sich richtig in meinen Kopf rein. Bin ich dümmer geworden? Meine Intelligenz, kommt sie mir abhanden?
Bis heute weiß ich nicht, wie es sein kann, dass keiner meinen Zustand richtig bemerkt hat. Ich mache meine Jobs, esse mit den Kollegen und fahre wieder nach Hause. Ich fahre hin, mache und fahre wieder nach Hause. Doch die Angst wird immer größer.
Abends geht es noch. Morgens fast suizidal. Nach einigen Wochen in diesem Zustand ist mir das ganz klar vor Augen. Am Abend geht es mir den Umständen entsprechend ganz gut, so in Ordnung. Ich sage mir, Stefan, das wird schon wieder, du bist ja nicht blöd oder so, nach ein paar Tagen geht das bestimmt wieder vorbei. Morgens, Absturz. Tati erzähle ich erst spät davon. Ich hieve mich aus dem Bett, in Zeitlupe schlurfe ich ins Bad, dann an den Frühstückstisch. Haferflocken. Scheiße. In der Bahn zur Agentur gucke ich aus dem Fenster und bin dankbar für jede Minute, in der ich nur dasitzen und rausgucken darf. Doch dann muss ich aufstehen. Hölle. Ich gehe durch den Schanzenpark und kauere mich wie ein eingerollter Igel für einen Moment auf einen Gullideckel am Wegesrand. Vögel, Leute, Lichter, schön eigentlich. Ich brauche auch Stachel. Geht nicht, was mache ich nur, was mache ich nur. Dann weiter. Jeder Schritt lähmt mich und meine Gedanken ein Stückchen mehr, angekommen in der Agentur bin ich nur die Hülle meiner selbst. Autopilot.
Am Wochenende fahren wir manchmal in ein Café am See. Mein Zufluchtsort. Da bestelle ich Kaffee und Kuchen und fühle mich ganz gut. Ich gucke raus auf den See. Schön ist das. Eine Blase, die mich für einen Moment in Sicherheit wiegt. Ein warmes Gefühl in der sonst so kalt gewordenen Restwelt. Tati sitzt vor mir. Ich gucke durch sie hindurch. Ich gucke durch den See. Ich gucke durch. Tati ist meilenweit entfernt. Keiner dringt mehr in meine Welt. Ich fürchte mich wieder und gucke durch den See. Am Sonntagabend, Tatort. Ein bisschen Normalität. Könnte diese Melodie im Vorspann nicht etwas länger dauern?
Jetzt geht es nicht mehr. Ich wache auf, renne auf das Klo und übergebe mich. Mein Magen rumort, mein Geist noch mehr. Ich habe Schmerzen und Angst. Es geht nicht mehr. Tati und auch meine Eltern stellen mich zur Rede. Schluss jetzt, blabla, du musst zum Arzt. Blabla. Das verstehe ich alles schon nicht mehr. Ich glaube, das war’s. Mein Leben, ich muss zum Arzt.
Zwei Wochen krank. Der hat mich krankgeschrieben. Aber in zwei Wochen bin ich doch noch nicht gesund. Der sagt irgendwas, ich muss mal runterkommen, ist ja auch nicht normal, wie viel ich da arbeite, blabla. Vielleicht muss ich mir mal Hilfe holen. Blabla. Zwei Wochen zu Hause. Ich rolle mich in mein Bett ein und komme da nicht mehr raus. Morgens, mittags, abends. Das geht nicht mehr weg.
Mein Leben zerrinnt mir wie Sand zwischen den Finger. Wir bauen gerade unser kleines Haus in Vierlanden, da musst du ein Mann sein. Auf dem Bau, Bauherr, du hast die Eier, die Hosen an, blabla. Tati braucht einen Mann, keinen Igel. Keine Stacheln. Ich habe Angst. Das war’s. Manchmal schickt sie mich einkaufen. Sie geht ja noch normal zur Arbeit. Geht nicht, kannst du voll vergessen. Ich hole den Einkaufswagen und stehe da – im wahrsten Sinne des Wortes – von allen guten Geistern verlassen. Tausende Gänge, Millionen Schilder und Milliarden Zeugs. Wie machen die das?, diese normalen Menschen. Die brauchen so viel Zeug, Milch, Apfelsinen, Butter, Käse, Klopapier, Gemüsekram, Nudeln, Brot, wie soll man denn da eine Reihenfolge finden? Wo geht man zuerst lang? Das ist doch gar nicht möglich. Da muss man sich Zuhause doch erstmal einen Plan machen. Habe ich aber nicht. Jetzt ist es zu spät. Gibt es eine Handyapp, irgendeine KI, die mir helfen kann? Zu spät.
Diese Angstgefühle ploppen auf einmal auf. Die schlagen von innen gegen die Brust. Ein Ziehen auch, ein Beklemmen. So schnell, wie sie gekommen sind, gehen sie auch wieder. Ohne Grund. Zack. Da sind sie wieder. Das geht jeden Tag so. Ich muss atmen. Eins nach dem anderen. Ganz ruhig bleiben.
Einmal sitze ich am Esstisch bei Tatis Eltern. Der Freund der Mutter erzählt irgendwas von irgendwelchen Autobahnen und fragt mich, welche wir denn diesmal genommen hätten. Oder so. Was will er von mir? Ich verstehe ihn nicht. Woher soll ich denn wissen, wie diese Autobahnen heißen. Dann kommen die Brötchen, oh mein Gott. Das ist so anstrengend, die Butter irgendwie auf das Brötchen zu bekommen, ohne dass das Brötchen vom Teller, vom Tisch fällt. Welcher Aufstrich? So viele. Scheiße, Nutella. Das Brötchen wiegt drei Tonnen. Ich kriege es kaum hoch, geschweige denn runter. Wie kann das so schwer sein, ein verkacktes Brötchen zu essen? Ich möchte weinen.
“Hören sie fremde Stimmen?”
“…”, der fragt mich im Ernst, ob ich fremde Stimmen höre. Hören sie fremde Stimmen. Diesen Satz habe ich mein Leben lang als selbstregulatives Gedankenmomentum, einem Damoklesschwert gleich, im Kopf. Habe ich Zweifel? Bin ich am Durchdrehen?, hören sie fremde Stimmen. Punkt.
“Hören sie fremde Stimmen?”, fragt er wieder.
“Ähm, nein”, ich weiß, dass es das gibt. Aber, und das ist ja auch nicht schlimm, kann ja keiner was dafür, in diesem Moment war diese Frage einfach das exakt aller und zwar aller aller Schlimmste, das mir jemals jemand hätte antun können. Ich sitze mutterseelenallein in dieser Notfallpsychologie im Universitätsklinikum Eppendorf. Der Psychologe sitzt da zwar. Aber der ist da nicht. Den gibt es nicht. Es gibt da keinen Menschen, der mir helfen soll, aber dann diese Fragen stellt. Mutterseele. Ich bin in mir selbst geborgen. Ein kleines etwas, das sich nach innen stülpt und immer kleiner wird, bis es zu guter Letzt verschwunden ist. Ach, wäre das schön. Geborgen.
Bla bla. Das war nur Bla. Da war nichts, was mir in meiner äußerst gefährlichen Lage auch nur ansatzweise geholfen oder Halt und Ruhe gegeben hätte.
Zwei Zettel hat der mir mitgegeben nach dem Termin. Da standen im Ernst auf beiden Seiten beidseitig bedruckt in Schriftgröße drei Adressen von Psychologen drauf, die ich doch mal abtelefonieren könnte. Und zehn Tipps, eine Liste, was ich doch alles machen müsste, damit ich in weniger als zwei Monaten vielleicht einen Termin bekommen könnte.
Tipp 01: “Fangen Sie direkt am Telefon an zu weinen.”
Tipp 02: “Werden Sie laut und seien Sie verzweifelt.”
Tipp 03: “Geben Sie nicht auf. Lassen Sie sich nicht gleich abwimmeln.”
Tipp 04: “Blablabla.” Ich kann das kaum lesen!
Irgendwann habe ich diese Zettel verbrannt.
Danach, ich weiß gar nicht, wie ich den Weg rein oder raus gefunden habe: U-Bahnhof-Eppendorf. Oberirdisch, auf so einer Art Brücke. Ich steh da so. Die Bahn rauscht heran. Die nicht vorhandenen Stimmen in mir fragen mich, ob ich nicht auf die Gleise springen sollte. Ich stelle mir vor, wie leicht und schön das dann wäre. Wenn alles weg ist. Aller Druck, alle Verantwortung, alles Müssen und alles Machen. Ich denke, man lässt sich in den Tod hineinfallen. Irgendwann will man nicht mehr, dann lässt man los, und Körper und Geist fallen in sich zusammen.
Nein.
Innerhalb von fünf Wochen bin ich von einem mittlerweile halbwegs normalen Menschen zu einem Häufchen Elend zusammengesackt. Lebensunfähig. Der Notfallpsychologe hat nur alles noch schlimmer gemacht.
U2 oder U3? Ich habe tatsächlich über hundert Umwege einen relativ schnellen Termin bei ein so einem Psychologen bekommen. Den kennt einer, der einen kennt, der meine Mutter von irgendwoher kennt. Der hat aus verschiedenen Gründen wohl gerade einen klitzekleinen Kapazitätenslot frei. Wie das so ist. Traurig.
U2 oder U3?
Fahre ich da jetzt hin zu diesem Psychologen oder fahre ich zur Arbeit?
Mittlerweile ist keiner übrig geblieben, der gesagt hätte, ich soll noch zur Arbeit fahren. Aber wenn ich in psychologische Behandlung komme, werde ich nie wieder einen Kredit für meinen Lebenstraum bei irgendeiner Bank bekommen, um das Haus finanzieren zu können, das doch schon so lange mein Plan ist.
Und wenn ich zur Arbeit fahre? Wenn ich nochmal zusammenbreche, ist das da doch auch egal. Dann gehe ich eben nach dem zweiten Zusammenbruch zum Psychologen und beerdige meinen Lebenstraum.
Wandsbek-Gartenstadt. Ich stehe da auf diesem U-Bahnhof. Minuten wie Stunden, der Sekundenzeiger an der Uhr bewegt sich in Zeitlupe, wann fährt die Bahn?
U2 oder U3?
Die rote Pille oder die blaue? Neo, wo bist du? Du wärst bestimmt ein viel besserer Psychologe. Mentor. Vater. Was weiß ich. Neo kommt nicht.
Ich falle da runter. Diese Kellertreppe. Dieses Bild geistert mir die ganze Zeit durch den Kopf. Er zerplatzt immer wieder.
U2.
Ich fahre da jetzt hin. Alles in mir schreit noch ein letztes Mal, wenn ich da jetzt nicht hingehe und beim Psychologen lande, war’s das. Mein Traum, dieses Haus, aber noch viel schlimmer, mein Leben. Wenn ich da bin, lasse ich mich fallen in ein Loch, aus dem ich nie wieder rauskomme. Wenn ich mich fallen lasse, bin ich kurz vor Tod, das weiß ich ganz genau, wenn ich da in irgendeiner Anstalt auf irgend so einer Liege liege, oder sitze oder was weiß ich, und mich da fallen lasse, dann war es das. Alles. Da komm ich nie wieder raus in ein normales Leben. Dante Alighieri, Dantes Inferno, die Hölle, der Vorkreis, irgendwann befinde ich mich vielleicht wieder unter den Lebenden, aber ich werde nie wieder Teil der Lebenden. Ich bin in der Vorhölle, ich sehe all das Schöne, aber ich bin nicht da. So wird es sein, alles in mir schreit, ein letzter Versuch, dein Leben festzuhalten.
U2.
Ich fahre zur Arbeit. Die Bahn ist da, ich sitze da drin. Ich falle da runter. Diese Kellertreppe. Die Bahn hält an. Sternschanze. Ich gehe raus, ich gehe auf Luft, ich fliege dahin, dann ist er da. Der Moment, diese Kellertreppe. Ich gehe da runter, und ich breche nicht zusammen.
“Stefan, hey, du bist wieder da! Geht es dir ein bisschen besser?”, fragt Steffi als sie ankommt.
“Ja, ich … denke schon.”, nicke ich.
Dann kommen Kevin, Rouven, Jörg, mein Chef, alle da. Alle reden kurz mit mir, die Arbeit geht direkt weiter. Und ich bleibe da. Minute für Minute, Stunde für Stunde. Unwirklich und unwirtlich, ich weiß gar nicht, wie ich meine Anspannung überstehe, die Luft ist hart wie Blei, mein Magen noch härter, ich atme flach, mach jetzt einfach weiter. Mach einfach weiter. Mein Überlebenswille flüstert mir mantrartige Satzfetzen zu, ich reagiere nur. Ich weiß nicht, was ich hier mache, aber ich mache irgendwas. Klick, Klick, Klick. Pause. Bla bla, zum Glück sprechen wir wieder alle nur über die Arbeit und nicht über mich. Der Nachmittag gleitet in den Abend. Wir machen Schluss. Ich gehe zur Bahn, doch ich fahre nicht nach Hause. Ich steige Jungfernstieg aus. Die Sonne scheint. Ein schöner Tag. Die Alster glitzert. Ein Obdachloser fragt mich nach etwas Kleingeld. Ich gebe ihm fünfzig Euro, denn heute wurde mir das Leben geschenkt.
“Hättest du nicht schon längst wieder hier sein müssen? Wie war es denn beim Psychologen?”, fragt mich Tati, als ich abends nach Hause komme.
“Ich war nicht beim Psychologen…”
“Wie? Was hast du denn sonst so lange gemacht?”
“Ich war bei der Arbeit.”
“Was?”, ruft Tati entsetzt. “Bei der Arbeit? Willst du mich verarschen?”
“Ja, nein. Also…”
“Das ist ja wohl ein Witz, oder? Ich meine … also jetzt wirklich, du denkst nicht, dass das besser wäre, wenn du mal zum Psychologen gehen würdest? Ich mein, also, ich glaube, du bräuchtest vielleicht wirklich mal Hilfe, oder nicht?”
“…”, ich gucke ungläubig und zucke mit den Schultern.
“Ich meine, ich habe Angst um dich! Ich dachte, du tust dir was an oder so!”
“Beere.”
“Schatz, wirklich, geh doch besser zum Psychologen!”
“Beere.”
“Ich kann das nicht glauben. Du kannst doch in deinem Zustand nicht einfach wieder zur Arbeit gehen!”
“Was soll ich denn machen?”
“Wieso, was soll ich denn machen?”
“Du weißt, wenn ich da hingehe, bekommen wir nie wieder einen Kredit.”
“Das ist doch scheißegal in so einer Situation!”
“Nein.”
“Wie nein? Willst du mich verarschen?”
“Schatz. Guck mal…”
“Nein! Deine Gesundheit ist wichtiger. Du brauchst kein Haus, wenn du tot bist!”
“Warte doch mal. Ich dachte wirklich, wenn ich da jetzt so hingehe zur Arbeit, und da dann nochmal zusammenbreche, ja, und? Dann gehe ich halt danach erst zum Psychologen. Wenn ich jetzt noch mal zusammenbreche, ich es auch nicht mehr viel schlimmer als vorher. Aber vielleicht schaffe ich es ja doch ohne Psychologen.”
“Schatz! Du spinnst!”
“Lass uns das doch ausprobieren.”
“Du bist so krank, Mann, wirklich!”
“Ja.”
Tag zwei, Tag drei, Tag vier. Jeden Tag auf der Arbeit. Ich habe immer noch arge Schwierigkeiten, Aufgaben zu verstehen, Sätze zu formulieren. Aber ich gebe nicht auf. Als ich die erste Woche überstanden habe, schöpfe ich Hoffnung.
Irgendwann ein Monat. Ein halbes Jahr. Sommer, der letzte Tag vor meinem Urlaub. Ich muss noch eine Flash-Animation fertig machen, die mir recht einfach und gut gelingt, dann schwebe ich aus der Agentur und habe das das Gefühl, neu geboren zu sein. Ich traue der Sache noch nicht ganz, aber für das Erste bin ich frei und lebe wieder. Bei Tatis Großeltern fahre ich mit dem Fahrrad über einen Feldweg und lege mich da hin. Ich gucke in den Himmel und lasse die Sonne auf mich scheinen. Dieser Moment, dieser Ort, ist mein Portal in eine neue Zukunft. Ich habe den Ort noch oft besucht. Jedes Mal steigt die Dankbarkeit und Erleichterung auf. Auch nach zehn JAhren noch. Denn mein Leben ist wieder da, und ich bin ein Teil davon. Geblieben ist höchstens meine Unfähigkeit, gutes Englisch zu sprechen. Das war vorher kein Problem, das habe ich in der Zeit dieses Zusammenbruchs endgültig verloren. Lesen kann ich wieder, deutsche Sätze formulieren auch. Das Englisch kann ich vielleicht neu Lernen.

Ich sitze in der Dusche und denke, das ist das letzte Mal, dass ich hier zu Hause dusche. Wie schön das ist. Die Dusche, das warme Wasser, das plätschern. Ich verabschiede mich vom Leben und frage mich, was dann mit Tati und den Kindern wird. Ich habe Angst. Wärme tut so gut. Wenn man Angst hat, und es ist kalt, das ist ganz schlecht. Wenn man Angst hat, aber es ist warm, dann ist das ein ganz bisschen weniger schlecht.
Rot. Das Klo, alles rot. Mein Herz sackt mit ins Klo, was ist da los? Ich rufe Tati, sie ist noch geschockter als ich.
“Ich war doch nur kurz auf Klo…”, stammel ich.
“Schatz! Was ist das?”, ruft sie.
“Das ist alles Blut!”
“Ja! Ich weiß es doch auch nicht.”
“Das ist alles Blut!”
Gerade ein neues Leben geschenkt bekommen, da ist es schon wieder weg.
Im Krankenhaus lasse ich eine Magenspiegelung und eine Darmspiegelung über mich ergehen. Irgendwas mit dem Darm. Aber nichts Schlimmes, ein so ein Ding wurde gleich mit entfernt. Sollte aber keine weiteren Probleme ergeben. Ich atme auf. Ob es was mit meiner Geschichte in der Agentur zu tun hat, können sie nicht sagen. Ich auch nicht. Das Leben ist ein fragiles Etwas.

Fünf Jahre, Agentur, Krieg und Frieden

“Auf in den Krieg!”, flüstert mir die Stimme meines Ex-Chefs zu. Erst letztes Jahr, 2014.
Das ist wie Barbara Salesch, diese Richterin, RTLII, oder Lenzen & Partner oder wie das heute heißt. Gerichts-, Anwalts-, Wasweißichwassendungen. Alles total übertrieben, dachte ich immer. Alles nur ausgedacht, dachte ich mir. Ist es nicht, ist es aber nicht. Ich sitze da im Gericht vor der ganzen Meute, dem Publikum – da können wirklich wildfremde Menschen rumsitzen und einfach in dein Leben glotzen –, dem Richter und seinen ganzen Leuten. Neben mir mein Anwalt.
“Auf in den Krieg!”, hallt mir wieder durch meinen Kopf. Hat mir mein Ex-Chef doch wirklich gesagt, bevor wir in den Saal gegangen sind. Ich halte das nicht aus. Das kann doch alles nicht wahr sein.
“Na dann beweisen Sie mal, dass sie die ganze Zeit gearbeitet haben”, argumentiert der Richter.
“Was?”, ich bin für einen Moment außer Gefecht gesetzt.
“Sie behaupten, sie hätten die ganzen letzten Monate gearbeitet…”
“Nein, nein, einen Moment mal. Das ist andersrum. Herr Trimmel behauptet, ich hätte die ganzen letzten Monate nicht gearbeitet. Aber natürlich habe ich gearbeitet, wieso sollte ich denn nicht gearbeitet haben?”
“Weil sie kein Geld bekommen haben.”
“Aber ich dachte doch die ganze Zeit, dass das noch kommt! Ich habe die ganze Zeit gearbeitet!”
“Ja, aber dann können sie ja auch beweisen, dass sie gearbeitet haben.”
“Ja… ja, genau, denn ich sage ihnen, dass ich gearbeitet habe.”
“Schriftlich, Herr Timmann, ich meine schriftlich natürlich. Sie werden da doch wohl ein Zeiterfassungstool haben!”
“Ähm…”, hat dieser Mensch irgendeine Ahnung? Das kann ich ihm ja nicht sagen. “Entschuldigung, in der Werbung, und ich war in vielen Agenturen, habe ich nie irgendeine Zeiterfassung gehabt. Ständig Überstunden, dafür wurde nicht auf jede Minute geguckt. Außerdem, selbst wenn ich ein Tool gehabt hätte, wie soll ich da denn jetzt noch rankommen?”
“Ja, Herr Timmann, also irgendwas werden sie ja wohl haben. Wir müssen ja nun einmal beweisen, dass sie gearbeitet haben.”
“Aber das kann ich nicht.”
“Herr Timmann!”
“…”, ich schaue ungläubig meinen Anwalt an. Der sagt nichts. Ich muss mich sehr zusammenreißen. “Was soll ich denn jetzt machen?”
“Wir überlegen uns da was.”, die Antwort vom Anwalt.
“Frau Zahn hat uns hier außerdem noch eine private Facebook-Nachricht, die sie ihr geschickt haben, zugespielt. Darin schreiben sie, dass sie nebenbei bei ihrem Vater gearbeitet haben.”, führt der Richter fort.
“…”, öhm, ich werde nervös.
“Ganz ruhig, warte erstmal.”, rät mir mein Anwalt.
“Das geht ja so auch nicht. Sie können ja nicht nebenbei noch arbeiten. So funktioniert das nicht. Das muss ja nun alles seine geregelten Bahnen laufen.”
Dann kommt auch noch Herr Trimmel, mein Ex-Chef: “Ja, und ein Auto hat er sich in der Zeit auch noch gekauft.”
“Ein Auto?”, fragt der Richter ungläubig.
“Ein Auto?”, frage ich zurück.
“Also, das müssen sie hier jetzt alles einmal in aller Ruhe darlegen.”, wieder der Richter.
“Was?”, Schwarz. Black. Out. Was wollen die von mir? Sitze ich hier auf der Anklagebank, oder was? Ich drehe durch. Ich drehe gleich durch! Ganz ruhig bleiben. Was wollen die von mir? Ich bekomme mein Geld nicht. Es geht darum, dass ich mehrere Gehälter von meinem Ex-Chef einfach nicht bekommen habe. Ich will doch nur mein Geld, und jetzt scheißen die mich hier so an? Und wie kann es überhaupt sein, dass meine Kollegin mich hier verraten hat? Die hat nicht im Ernst meine privaten Facebook-Nachrichten an den Richter geschickt? Hat sie! Soll das ein Witz sein? Und das mit dem Auto? Was hat das alles damit zu tun? Das war doch zu einem ganz anderen Zeitpunkt. Barbara Salesch, sag doch was, das geht doch nicht. Ich wusste überhaupt nicht, dass sowas überhaupt erlaubt ist. Beim Tatort, da wird doch auch ständig gesagt, dass man das dann nicht vor Gericht verwenden kann. Oder so. Wie geht das denn hier jetzt? Facebook und Autos, what the fuck, was hat das mit meinem Gehalt zu tun?
“Herr Timmann?”
“…”
“Herr Timmann?”, eine Stimme dringt aus dem dumpfen Off langsam in meinen Kopf.
“Ja?”
“Haben sie das verstanden?”
“Ja”, nein. Ich kann nichts machen. Mein Anwalt, bla, sagt ich, bla bla, und dass er da nicht wirklich etwas machen kann, blablabla.
Das geht über mehrere Monate, mindestens fünf Verhandlungen. Ich kann das nicht glauben. Die Ausgangssituation: Ich wurde von meinem früheren Chef aus der Agentur Monate lang nicht oder zu spät bezahlt, bis irgendwann gar nichts mehr da war. Das denkst du ja erstmal gar nicht. Das geht ja langsam los. Das Gehalt ist nicht auf dem Konto, fünf Tage, der neue Monat hat schon lange angefangen. Gehaltsabrechnung ist da, Geld nicht. Ich denke mir nichts dabei. Wie das so ist.
“Mein Gehalt ist irgendwie noch nicht auf dem Konto”, möchte Alina von unserem Chef wissen.
“Was, o, das sollte nicht passieren. Da rede ich gleich mal mit meinem Steuerberater.”
“Ja, danke.”
“Chef, unsere Gehälter, ich habe auch mit Daniel gesprochen.”, der nächste Mitarbeiter.
“O, ja. Jaja, klar, da muss was bei der Bank sein”, Bank, Steuerberater, Computer, Steuerberater, Bank und so weiter und sofort. So oder so ähnlich, die ganze Zeit. Irgendwann ist das Gehalt aber immer da.
Irgendwann nicht mehr. Ein ganzer Monat rum, das Geld ist immer noch nicht da. Ich kann das gar nicht glauben oder vernünftig einordnen, da verlassen zwei Mitarbeiter schon die Agentur. Meine Überforderung kennt keine Grenzen. Und das Geld kommt immer später. Aber eins weiß ich, mal wieder, schon wieder (Stichwort notfallpsychologische Behandlung), wenn ich jetzt arbeitslos werde, werde ich nie wieder irgendeinen Kredit von irgendeiner Bank bekommen, den ich brauche, um mein Haus, was bestimmt irgendwann kommt, finanzieren zu können.
“So Herr Timmann, wir haben das ganze Material einmal gesichtet.”, der Richter wieder, Verhandlung XY.
“Mhm”, ich.
“Da lässt sich jetzt aber nicht lückenlos beweisen, dass sie immer gearbeitet haben.”
“Mhm.”
“Was sagen sie dazu?”
“Sagte ich ja bereits.”
“Bitte?”
“Ich sagte bereits, dass das so ist.”
“Was?”
“Dass ich das niemals lückenlos beweisen werde können.”
“Ja, aber jetzt haben sie ja doch immerhin einen ganzen Teil.”
“Ja.”
“Aber zu mehr reicht es auch nicht?”
“Nein.”
Stundenlang, tagelang, wochenlang habe ich alles irgendwie Verwertbare, das beweisen könnte, dass ich gearbeitet habe, in einer Excel-Liste zusammengefasst / protokolliert / bewiesen. Jede SMS, jede Whatsapp, jede Privatnachricht von Facebook an Tati, alles, was irgendwie schriftlich festgehalten wurde, steht da drin. Datum, Inhalt. Ich hatte Überstunden? Check. Ich komme später nach Hause? Check. Ich muss mal wieder in einer Bar arbeiten? Check. Ich finde keine Ideen mehr? Check. Das kann sich kein Mensch vorstellen.
Ich dachte immer, dass man in Deutschland als Angestellter halbwegs sicher sei. Weit gefehlt, ganz weit. Der eine behauptet vor Gericht das, der andere das andere. Was die Wahrheit ist, ist ja auch egal. Der Richter wird es schon richten. Nicht. Salesch, Lenzen, hätte ich das gewusst. Aber was sollte ich machen? Mehrere Gehälter stehen aus, irgendwo muss ich das Geld ja herbekommen.
Am Ende war es sogar so, dass ich die ganze Chose beim Gericht auch noch selbst bezahlen muss. Ich arme Wurst muss dieses ganze Gerichtsverfahren bezahlen. Ich habe doch gar nichts gemacht. Eine Rechtsschutzversicherung hätte auch nichts gebracht. Da braucht man schon eine ganz spezielle für Arbeitsrecht. Und wer macht das als einfacher Angestellter schon?
“Sieht scheiße aus, Mann!”, flüstere ich meinem Anwalt zu. Verhandlung XYZ.
“Nein, nein, das läuft auf einen Vergleich hinaus.”
“…”, bla. Vergleich, was meint er? Musste ich erstmal zu Hause googeln. Vergleich. Der eine bekommt das, der andere das – aber warte mal, ich habe doch, verdammt noch mal, nichts getan! Ich habe gearbeitet, und jetzt bekomme ich mein Geld nicht. Ich bin doch nur eine arme Wurst. Angestellt. Deutschland. Beamte, Kartoffeln, Arbeitnehmersicherheit, Pustekuchen.
Eines Nachts hatte ich die Idee. Mein Ex-Chef redet sich das alles schön. Als das Geld für die Miete der Agentur nicht mehr reichte, sind wir in ein Gemeinschaftsbüro umgezogen. Coworking am Fischmarkt und so. Da konnte sich mein Chef aber nach kürzester Zeit nicht mehr sehen lassen, weil er die Miete da auch nicht mehr zahlen konnte (irgendwann kam der Vermieter und wollte Geld von mir, aber ich war ja nicht der Chef, der nicht da war, also konnte ich das Geld ja nicht zahlen). Die letzten Wochen meines Arbeitsverhältnisses sind wir, mein Chef und ich, alle anderen waren schon lange weg, von einer Bar zur anderen getingelt, um da arbeiten zu können. Die Laptops immer dabei. Eine Agentur materieller Art vor Ort gab es nun nicht mehr. Unsere Arbeitsplätze in der Schanze, Ottensen oder am Fischmarkt hießen jetzt Gloria, Aurel oder Havanna Bar. Fußnote für mich – warum ich das so lange mitgemacht hatte? Wie gesagt, ich durfte unter keinen Umständen meinen Arbeitsplatz verlieren und arbeitslos werden. Parallel suchte ich schon lange einen anderen Job, aber das geht eben nicht von heute auf morgen.
Mein Ex-Chef redet sich das also schön. Der dachte vielleicht, dass diese Zeiten, in denen wir in Bars waren, keine Arbeit gewesen wäre. Aber das war es ja. Und selbst wenn wir nur über Gott und die Welt philosophiert hätten, hatte ich mir das nicht ausgesucht. Ich musste da hin, denn das war meine Arbeit. Ab zwölf, manchmal noch früher, gab es nur noch Bier oder Schnaps, aber auch das hatte ich mir nicht ausgesucht. Ich muss dem Richter also klarmachen, dass mein Ex-Chef vielleicht denkt, dass diese ganzen Zeiten in Bars keine Arbeit gewesen wäre. Aber da hat er sich geschnitten. Das war Arbeit. Und das war dann auch der Gedanke, der den Stein ist ins Rollen gebracht hat.
Tatsächlich hat der Richter dieses Argument – meins, nicht das meines Anwalts, ich glaube manchmal, ich habe den ganzen Job gemacht – in seinem Schlussplädoyer aufgegriffen und das ganze beendet.
Trotzdem für den Arsch. Vergleich. Geld weg. Halb, halb, hat er gesagt. So kann man sich doch guten Gewissens in die Augen schauen. Ha!, für den Arsch. Wozu habe ich diese ganzen Verhandlungen gehabt, diese ganze Recherchearbeit investiert, meine ganze Zeit, ich hatte ja mittlerweile einen anderen Job, bei dem es sich als reichlich schwierig herausstellte, für die ganzen Verhandlungen plausible Erklärungen zu finden, warum man schon nach den ersten Tagen, direkt am Tag einen Termin hätte und so weiter. Weg. Geld weg.
Bis heute ist übrigens gar kein Gehalt gekommen. Vergleich. Mein Ex-Chef ist untergetaucht. Er war nicht mehr zu finden. Jetzt müsste ich die Polizei einsetzen, soll das ein Witz sein?
Meine Jobsuche neben all dem gestaltete sich als sehr nervenaufreibend. Alles probiert. Überall beworben. Vorstellungsgespräche über Vorstellungsgespräche. Dieser Druck, einen Job finden zu müssen, ohne, auch wenn nur kurzzeitig, in die Arbeitslosigkeit abrutschen zu dürfen, um einen eventuellen zukünftigen Kredit nicht zu gefährden, brachte mich fast um. Ein Vorstellungsgespräch in einer Agentur in Ottensen war so krass, dass ich mir heute noch in die Hose mache. Ein anderes in Winterhude lief so gut, dass mich der Chef sofort haben wollte. Ich wollte aber nach Bergedorf. Denn eins wusste ich, wenn diese Agentur mich genommen hätte, hätte ich endgültig kein Privatleben mehr gehabt – ganz schlecht für ein zukünftiges Bauernhaus. Aber das wäre dann wohl der Preis gewesen, den ich für das lange Pokern und hoffen in der alten Agentur hätte zahlen müssen.
Ich bewarb mich also auch in Agenturen in Bergedorf. Eine wollte mich vielleicht. Aber das würde etwas dauern. Und so musste ich wieder pokern und die andere Agentur hinhalten. Vielleicht geht alles schief. Vielleicht verliere ich schon wieder alles.
Am Ende ging es zum Glück gut, und ich konnte in der Agentur in Bergedorf anfangen. Mein Leben konnte weitergehen.
Ich sollte noch lernen, was das alles heißt. Yin, Yang. Und so. Eine ganz große Scheiße das alles, und doch habe ich von diesen Ereignissen und auch von meinem Ex-Chef für mein Leben gelernt – mehr als in allen Schulen, Unis oder sonstwas in meinem Leben. Im Leben eines Unternehmers ist das alles viel wichtiger. Auf in den Krieg. Am Ende habe ich doch meinen Frieden gefunden.

Dann öffnet sich eine Tür und die Bankberater bitten uns herein. Ich habe Angst. All diese Psycho-Scheiße in den letzten Jahren, das alles habe ich durchgestanden, damit dieser Tag, diese eine Fininzierung hier möglich ist. Ich habe das alles, diese Sorgen, diese Angst, diese Existenz-Zweifel, diese Fragen vor dem Leben immer noch in mir. Ich habe es erlebt, durchlebt, überlebt, es ist und bleibt ein Teil von mir. Dieser Teil ist da, ein Teil meiner Seele, meine kleinen Gedankenwesen in mir, sie knabbern wieder, neben mir, Parallelwesen, die sich verselbstständigen und die Kontrolle übernehmen können. Sie schlummern, jeder Gedanke, den ich denke, kann jederzeit wieder von diesen Gedankenwesen beeinflusst werden.
Aber jetzt nicht. Jetzt bin ich dran. Das ist meine Chance. Unsere. Vielleicht die letzte.
“Da sind wir wieder.”, beginnt der Bankchef.
“Ja.”, sagen Tati und ich unisono und kann das hier immer noch nicht glauben. Als Tati und ich uns kennengelernt haben, habe ich mich nicht mal richtig getraut, bei einem Amt anzurufen. So schüchtern war ich, und wie Tati das immer abgefeiert hat. Kann sich kein Mensch vorstellen. Doch jetzt sitzen wir hier.
Wieder geht es so und so und dies und das und all das, was wir schon so oft gehört und gesagt hatten und doch jedes Mal für den Arsch war. Wir hoffen so sehr, dass es dieses Mal nicht so ist. Nur ein Mal muss es doch klappen, ein Mal, dass der Besitzer des Hauses, das wir kaufen wollen, nicht aus irgendeinem Grund wieder absagt – uns liegt noch die Maklerin im Kopf, die ja plötzlich doch jemanden aus der Familie hatte, der das Haus auch gerne gekauft hätte. Wir hoffen.
Dann die Bank: “Wunderbar. Das ist dann für sie ja wahrscheinlich wieder etwas aufregend. Die Finanzierung bekommen wir hin, und – glauben sie mir – ich wünsche ihnen dieses Mal von ganzem Herzen alles Gute und ein bisschen Glück, dass es dieses Mal mit dem Haus klappt. Jetzt sollten sie den Notartermin anvisieren.”
“Ja.”, sagen wir wieder unisono und schauen uns tief in die Augen. “Ja, das hoffen wir auch.”
Bevor wir unterschreiben, lesen wir uns nochmal alles genau durch. Das ganze Kleingedruckte ist gar nicht so leicht zu verstehen.
“Dieser Satz hier”, Tati zeigt beim Vertrag auf ein so eine Klausel. “Was genau heißt das?”
“Das? Ach, das ist eine gesetzliche Auflage, das müssen wir erwähnen und meint…”, der Herr im Anzug redet noch eine ganze Weile. Wir verstehen nur die Hälfte.
“Hier, hier ist auch noch etwas, was heißt dieser Satz?”, so und so weiter geht das eine ganze Zeit, bis alles irgendwie geklärt ist.
“Das ist ja toll.”, sagt der eine Herr wieder.
“Was?”, fragt Tati.
“Na, dass sie das alles so genau wissen wollen.”
“Was genau?”
“Na, das, was sie unterschreiben. Das Kleingedruckte. Normalerweise will das kein Mensch wissen.”
Stille.
“…”, Tati und ich gucken uns an wie Autos. Und wir fragen uns, ob wir vielleicht doch gar nicht so unfähig sind mit dem, was wir aufbauen wollen, wenn es scheinbar genug Menschen gibt, die noch ganz bestimmt viel mehr aufbauen und viel mehr Geld brauchen, aber trotzdem nicht das Kleingedruckte lesen. Bis heute denken wir noch oft an diese Szene zurück.
Der offizielle Teil ist irgendwann beendet, die meisten Berater sind wieder weg, da nimmt uns der Chef an die Seite und sagt: “Wir glauben an sie, das sollen sie wissen. Die Finanzierung hätten wir nicht bei jedem gemacht. Wir haben das natürlich im Kopf, dass sie so oft Pech hatten und trotzdem immer wieder aufgestanden sind. Das hat uns beeindruckt. Wir glauben, dass sie auch in schweren Zeiten nicht gleich die Flinte ins Korn werfen.”
“Ja, das glauben wir auch.”, wir wieder.
“Eins noch, das hatten wir noch gar nicht erwähnt. Wenn wir den Vertrag final unterschreiben, vorher bitten wir sie beide, eine vernünftige Lebensversicherung über einen hohen Betrag abzuschließen, der sie nochmals absichert.”
“Ja, gut. Das checken wir dann.”
Ein kleiner Satz, den wir gar nicht weiter beachtet hatten, doch er sollte uns noch längere Zeit beschäftigen.

“So, jetzt mal schön treten!”, ruft der Arzt.
Ich sitze auf einem Fitnessrad in der Praxis und muss so doll und so lange wie möglich treten. Nach kürzester Zeit fange ich an zu schwitzen und habe Angst, dass mein Lebenstraum nun von einem Fahrrad zerstört wird.
Das ist so: Die Lebensversicherung, die wir brauchen, ist derart hoch, dass diese von uns einen kompletten Gesundheitscheck vom Arzt verlangt, bevor wir einen Vertrag abschließen können. Hat der Arzt so auch noch nie gesehen, wie er uns berichtet, aber er tut, was von ihm verlangt wird.
“Gut, gleich haben sie es geschafft!”, ruft er wieder.
“Das ist ja doch mal ganz gut anstrengend!”, keuche ich.
“Ja, das muss es ja, sonst können wir ja nicht erkennen, ob mit der Belastbarkeit ihres Herzens alles in Ordnung ist.”
“Ja, gut, dann hoffen wir mal.”
“Keine Sorge.”
“Ha.”, wenn der wüsste.
Danach nimmt er mir Blut ab. Urin muss ich auch noch machen. Alles fürs Haus, sage ich mir, da musst du jetzt durch, und dann wird das schon. Der Arzt macht noch ein paar andere Untersuchungen, glotzt mir überall rein, pocht rum, hört ab und sonstwas, bis Tati das ganze auch noch machen muss.
Ein paar Wochen später meldet sich der Arzt. Bei Tati ist alles super. Ich habe Blut im Urin.

Erst kann ich das gar nicht glauben, aber nachdem ich es etwas habe sacken lassen, nistet es sich in meinen Gedanken ein. Blut im Urin. Blut. Urin.
Blut.
Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. So viel haben wir überstanden, so weit sind wir gekommen und jetzt habe ich irgendwas oder sterbe oder sonstwas und alles, diese ganzen unendlich langen scheiß Jahre waren alle umsonst? Und die Kinder? Wenn ich nicht mehr da bin?
“Das ist jetzt erstmal nichts Beunruhigendes.”, versucht der Arzt am Telefon mich zu beruhigen. “Aber wir müssen dem natürlich nachgehen.”
Klar, nachgehen, wenn es nichts Beunruhigendes ist. Ja klar, sie haben noch drei Tage zu leben. Ist doch nicht schlimm, dann haben sie es doch auch schon geschafft, so beruhigend ist das.
“Was heißt das?”, möchte ich wissen.
“Sie kommen in zwei Wochen nochmal mit Urin vorbei und wir checken das wieder.”
“Und dann?”
“Dann sehen wir weiter.”
“Ich meine, wenn dann noch Blut drin ist.”
“Das nehmen wir jetzt erstmal gar nicht an.”
“Ja, schon klar, aber wenn?”
“Dann warten wir nochmal ab und untersuchen das nach zwei Wochen erneut. Das kann auch mal eine Entzündung der Blase sein, die wieder abklingen kann.”
“A”, klar, kann aber auch Krebs im Endstadium sein, verdammt!
Zwei Wochen später, Urin im Fläschchen, die Arzthelferin nimmt es an sich und verschwindet. Nach ein paar Tagen, immer noch Blut.

Aber nicht mehr so viel. Der Arzt ist guter Dinge, dass es beim nächsten Mal weg ist. Ich bekomme jetzt doch ein bisschen Hoffnung.
Zwei Wochen später: Urin, Fläschchen, Arzthelferin, Tage später, Anruf, Blut ist weg.
Kein Blut.
Die nächste Hürde haben wir auch überstanden.
Ich atme tief ein.

Der Notar

Ein paar Wochen später kann es losgehen, der Notartermin liegt an. Schön zurecht gemacht steigen wir ins Auto und fahren nach Bergedorf. Dort angekommen, müssen wir erstmal einen Parkplatz finden. Aber kein Problem, das ist alles eingeplant. Bloß nicht zu spät kommen und bloß kein Stress. Tatis Bauch sagt uns jeden Tag: kein Stress.
Nach einigen Minuten finden wir den gesuchten Parkplatz und machen uns auf den Weg zum Notar-Büro.
“Schatz, hier, wir sind da.”, freue ich mich.
“Ja. Wo?”, fragt Tati.
“Da, das Schild. Das ist er doch.”
“…”, Tati schweigt.
“Was ist denn?”
“Also, hieß der nicht irgendwie anders?”
“Wie, hieß der nicht irgendwie anders?”
“Na ja…”
“Notariat Behnken-Neuberg. Nicht?”
“…”
“Das ist irgendwie nicht der Notar, zu dem wir wollen.”
“Was, wie, ich meine – wie? Wir fahren zum falschen Notar und wissen nicht, wie unser Notar heißt?”
“Jetzt warte doch mal”, Tati kramt in ihrer Hose und zückt ihr Handy hervor. “Im Termin steht Blauvogel & Kolk. Aber das ist nicht Blauvogel & Kolk. Ich meine das steht hier nicht. Blauvogel & Kolk. Hier steht Behnken-Neuberg!”
“Was? Blauvogel & Kolk. Behnken-Neuberg, what?”
“Scheiße! Ich glaube, das ist der Notar, bei dem wir unser jetziges Haus haben abwickeln lassen!”
“Was?”
“Ja!”
“Und jetzt?”
“Scheiße jetzt!”
“Wo ist denn unserer?”
“Warte, ich guck!”
Normalerweise sind wir gut strukturiert. Aber bei all den Terminen, Fristen und Aufgaben für das neue Haus, die neben der normalen Arbeit erledigt werden müssen, und der Schwangerschaft von Tati ist uns das wohl irgendwie im Kopf falsch zusammengekommen. Altes neues Haus, neues altes Haus.
Zum Glück liegt unser jetziger Notar nicht weit entfernt vom alten, und wir schaffen es gerade noch pünktlich. Der Aufzug nach oben braucht eine Ewigkeit und führt uns in Sphären, die wir nie zu entdecken glaubten. Wir werden unser neu gebautes Haus für ein altes Schrotthaus verkaufen. Wir werden eine gigantische Geldsumme von der Bank erhalten, um das alles finanzieren zu können. Und wir haben keine Ahnung, ob unser Geschäftsmodell jemals aufgehen wird. Ich habe Angst.
“Schatz, das ist eine ganz schön krasse Scheiße”, murmele ich.
“Ja, ich weiß. Ich glaube, meine Fruchtblase platzt gleich.”
“Was?”, ich werde laut.
“Scherz!”
“Scherz? Schatz, bitte! Jetzt nicht!”
“Ich bin aber so aufgeregt. Hoffentlich kommt Frau Dethe überhaupt.” Frau Dethe ist die Verkäuferin des Hauses.
“Warum soll sie nicht kommen?”
“Ja, keine Ahnung. Weil es bei uns bis jetzt noch nie geklappt hat mit einem Haus? Vielleicht?”
“Hm. Doch.”
“Ja.”
“Doch, doch, die kommt schon.”
“Bestimmt.”
“Ja!”
Der Fahrstuhl geht auf. Fahrstuhl des Lebens. Neues Leben, wir kommen. Wie Herzblatt, diese Sendung aus den Achtzigern. Hier ist ihr Herzblatt: ein Schrotthaus! Oder Naked Attraction vielleicht. RTLII mal wieder. Die äußeren Werte kennen wir vom Haus schon mal. Bei den inneren wird es noch spannend.
Frau Dethe ist nicht da.
Am Empfangstresen flüstert Tati mir zu: “Da, siehst du, sie ist nicht da!”
Ich flüstere zurück: “Jetzt warte doch erstmal.”
“Ich hab’s dir gesagt!”
“Schatz.”
“Scheiße!”
“Bitte.”
“Was kann ich für sie tun?”, unterbricht uns die nette Dame am Tresen.
“Oh, ja. Timmann. Wir haben gleich einen Termin bei Herrn Blauvogel.”, antwortet Tati.
“Einen Moment… Ja, in Ordnung. Nehmen sie doch noch einen Moment Platz hier vorne. Gleich hier”, sie zeigt auf eine Stuhlreihe, eine Stuhlreihe mit vielen Stühlen, auf denen wirklich niemand sitzt.
“Ja, danke.”
Da sitzen wir nun. Herrgottsverlassen im Herrgottswinkel des Notariats. Ganz in die Ecke haben wir uns gesetzt, so als ob uns das neue Leben hier nicht ganz finden kann. Oder will. Wir beten. Das kann doch jetzt nicht schon sein.
Ich sitze wieder alleine in der Schule. 5. Klasse. Die Aula. Über eine halbe Stunde vor Schulbeginn. Da sitze ich schon. Nicht einmal ein Lehrer ist zu sehen. Einfach keiner da. Kein Mensch. Ich bin immer so früh zur Schule gefahren, weil ich Angst hatte, zu spät zu kommen. Angst hatte, ein Lehrer könnte mich vor den Schülern zurechtweisen. Angst hatte vor einfach allem. Eine unendliche Leere, diese nackte tote Halle, erfüllt von meiner Angst. Irgendwann kommen die ersten Schüler, ich stelle mich nichtssagend und nichtsaussagend dazu. Karsten oder Pierre, irgendwer, bei dem ich weiß, dass ich nicht viel zu befürchten habe.
Dann kommen die anderen.
“Na, der Wattwurm ist ja auch schon da!”, der erste Spruch.
“Willste eine Banane?”, der zweite Spruch, gesungen in der immer gleichen Melodie.
Meistens geht das immer noch, fängt harmlos an. Die krassen Dinger kommen eher in der Pause.
“Ey, komm mal rüber!”, ruft Jan.
“Hm?”, ich weiß nicht was er meint.
“Komm her!”
Da stehen noch ein paar andere.
“Ich will dir was zeigen!”, Jan wieder.
“Was denn?”, ich komme rüber.
Dann schubst er mich ohne Vorwarnung in einen Busch, lacht mich aus, alle lachen mich aus, und verschwindet wieder. Alle anderen auch. Dornen. Die Dornen bleiben. Der Dornbusch lacht auch. Zu Hause ziehe ich mir noch die Stachel aus den Beinen.
“Scheiße, Scheiße, Scheiße! Wo bleibt die?”, fragt Tati wieder.
Ich muss mich ein bisschen sortieren: “Ähm, Schatz… die kommt schon noch!”
“Ich habe Angst!”
“Ja.”
“Ich will das nicht mehr!”
“Bitte!”
Tatis Unruhe übernimmt ihre Gedanken und ihren Körper. Ihr wird schwindelig. Was, wenn Frau Dethe wirklich nicht kommt? Aber was, wenn sie kommt? Es gibt kein Entkommen mehr für dieses gigantische Projekt. Sie hat Angst, zu versagen.

Kopfüber nach Down Under

Jetzt schreibt Tati

Die Würgegeräusche, die ich über dem Klo von mir gebe, hallen an den kalten Wänden meiner Studentenbude wider. Es ist drei Uhr nachts. Ich kann nicht schlafen und habe so starke Regelschmerzen, dass ich mich in Dauerschleife übergeben muss. Hilft nichts, die Schmerztablette von eben schwimmt in der breiigen Masse im Klo vor mir – also noch eine Tablette. Das muss ja mal aufhören.
Morgen schreibe ich eine Klausur in Medienrecht. Da muss ich wieder fit sein. Ich schaffe es tatsächlich bis um sechs Uhr zu schlafen und schleppe mich zur Fachhochschule Mittweida, wo ich als eine von 60 Mitstudenten ausgewählt wurde, um Medienmanagement zu studieren.
“Das schaffst du nie”, hat meine Mutter immer gesagt, als ich mit 14 Jahren anfing von einer Karriere als Journalistin zu träumen.
Tatsächlich habe ich diesen Studienplatz nicht bekommen, weil mein NC so gut war (im Gegenteil: Er war grottenschlecht) sondern weil es dort einen Aufnahmetest gab, der sich auf das tagesaktuelle Geschehen und journalistische Proben bezog.
Und so bin ich im tiefsten Osten von Deutschland gelandet – ja, das darf man heute nicht mehr sagen, ich weiß, aber damals habe ich das so empfunden. 400 km von zu Hause entfernt. Als eine von 60 gehöre ich sozusagen zur Elite. Ich bin ein bisschen stolz.
Mein Zimmer: 20qm Plattenbau, eigenes Bad, eigene Küche. Finanziert durch das Geld, das mein Vater mir hinterlassen hatte und Bafög. Studentenjobs gibt es hier kaum. Das alles darf ich mir nicht durch Krankheit vermasseln.
Nach der Klausur dann der Termin bei der Frauenärztin. Seit ungefähr drei Monaten habe ich diese unerträglichen Beschwerden, wenn ich meine Regel habe. Sie kamen zeitgleich mit der Schlaflosigkeit – die hatte ich aber jede Nacht und nicht nur einmal im Monat.
“Also körperlich sind sie gesund”, sagt die Ärztin, die gerade ein Ultraschall von mir macht. “Vielleicht sollten wir es mal mit der Pille, versuchen. Aber so starke Schmerzen, und vor allen Dingen mit anhaltender Übelkeit vor Schmerzen, sind schon ungewöhnlich. Was machen sie denn beruflich?”
“Ich studiere hier an der Fachhochschule Medienmanagement”, sage ich mit erhobener Stimme (yeah, yeahyeah, die Elite, nur 60 Personen aufgenommen, ich gehöre dazu und kann es immer noch nicht fassen, Mama hat es nicht geglaubt!).
“Oh, das ist sicherlich interessant. Wie geht es ihnen denn sonst so? Haben sie Stress? Schlafen sie gut?”
Ich bin angenervt. Alles, was ich will, ist eine Diagnose oder irgendwas, das hilft, damit ich nach Hause kann, um weiter zu lernen.
“Ich schlafe in letzter Zeit ein bisschen schlecht, aber kaum der Rede wert.”, die Untertreibung des Jahrhunderts.
“Ich verschreibe ihnen jetzt erstmal die Pille. Vielleicht hilft das ja schon”, sagt sie und drückt mir das Rezept in die Hand.
Meine Nächte sind weiterhin kurz. Vor drei Uhr in der Nacht kann ich nicht einschlafen. Nach ein paar Wochen gebe ich es auf um 23 Uhr ins Bett zu gehen und lege mich erst um ein Uhr nachts hin. Einschlafen kann ich trotzdem erst um drei Uhr. Morgens wache ich um sechs Uhr auf. Nicht, weil der Wecker klingelt, sondern weil ich unruhig bin. Der permanente Schlafmangel setzt mir zu. Ich habe Augenränder und kann nicht konzentriert in der Uni arbeiten.
Ich merke, dass irgendwas nicht mit mir stimmt. Das Lernen und sogar Alltagsdinge wie Einkaufen fallen mir schwer. Mein Hirn fühlt sich breiig an. Ich kann nicht mehr weinen. Immer häufiger kommen mir komische Gedanken in den Sinn: Mich würde ja eh keiner vermissen. Wie kann man sich am schnellsten umbringen? – Tati, aufwachen! So einen Schwachsinn kannst du doch nicht einfach denken, mahne ich mich. Aber wenn ich jetzt sage: Bitte denke nicht an Brot. An was denkst du? Richtig: An Brot. So ist es auch bei mir.
“Janalein, ist alles in Ordnung?”, meine Oma tätschelt besorgt meinen Rücken, als ich ein Wochenende nach Hause fahre.
Ich war lange nicht mehr zu Hause.
“Du hast sehr abgenommen. Du siehst bedrückt aus. Läuft das Studium nicht?”, fragt sie weiter.
Ich antworte nicht und genieße die paar Tage.
“Kann ich hier bleiben?”, frage ich meine Großeltern bei meiner Abreise. Dieses Wochenende konnte ich seit Ewigkeiten endlich mal wieder normal schlafen und nicht nur drei Stunden.
“Ja natürlich, aber du musst doch in die Uni. Komm doch einfach nächstes Wochenende wieder und dann sehen wir weiter.”, beruhigt mein Opa.
Ich winke beiden zum Abschied aus meinem kleinen Auto zu und merke, wie mein Herz mit jedem Kilometer, den ich näher an meinen Studienort komme, mehr in Aufruhr gerät. Bubumm, Bubumm, Bubumm – immer schneller. Mein Bauch krampft sich zusammen. Da sind sie wieder: die Regel-Schmerzen. Wie eine Gewitterwolke brauen sich meine negativen Gedanken im Auto über mir zusammen. Schwarz, mächtig, gleich platzt es aus ihnen heraus. Ich fahre rechts ran, übergebe mich und atme schwer ein und aus.
Auf meiner einen Schulter sitzt der Teufel: “Hier, dieser Baum ist perfekt. Nimm den, dann hat alles ein Ende.”
Auf meiner anderen Schulter sitzt der Engel: “Janalein, du weißt doch, dass das nicht stimmt. Wir finden eine Lösung. Deine Freundin Sonja ist doch in Australien richtig aufgeblüht. Wie wär es denn, wenn du eine kleine Auszeit in Australien nimmst?”
Die Gedanken an die australischen Sonnenstrahlen strahlen meine Gewitterwolke weg. Das wäre es doch: Ein paar Monate Work and Travel in Australien. Ich könnte ein Urlaubssemester beantragen und danach dann wieder mit dem Studium weitermachen.
Die Woche verfliegt schnell, mein Entschluss steht fest: Ich mache das. Die Gewitterwolke muss endgültig weg. Und was hilft da mehr als Sonne? Lieber versuchen, als im Gewitterregen stehen.
Für das Urlaubssemester müssen meine Professoren ihr okay geben, erst danach kann ich es im Büro der Fachhochschule einreichen. Schnell wird klar: Wenn ich zurück zur Uni kommen möchte, muss ich zwei Urlaubssemester nehmen und dann in den neuen Jahrgang unter mir einsteigen. Neue Kommilitonen, altes Studium. Und: Es ist April, ich muss dieses Semester bis zur Sommerpause durchziehen, um wieder einzusteigen.
Als ich nachts mal wieder nicht schlafen kann, suche ich nach günstigen Flügen. Meine To-do-Liste wird immer länger: Flug buchen, Visum beantragen, Urlaubssemester beantragen, Wohnung kündigen, umziehen, Sommerjob suchen, um mit einer kleinen Geldreserve nach Australien zu fliegen.
Klick – gekauft. Das war einfach ein unschlagbares Angebot und ich kann den Rückflug umsonst umbuchen.
“Ich muss euch was sagen”, ich an einem Wochenende bei meinen Großeltern.
“Was ist los, Janalein?”, meine Oma ist immer noch besorgt.
“Ich werde nach Australien gehen.”
Beide gucken mich mit großen Augen an. “Und dein Studium?”
Ich beginne, ihnen von meiner Planung zu erzählen: “Urlaubssemester, Umzug, Sommerjob, Flug ab Bremen, über Amerika, ich bin pünktlich zu Opas 70. Geburtstag wieder zurück.” Mein Monolog dauert etwas. “Ich muss es einfach machen.”, sage ich am Ende.
Meine Großeltern schauen sich an: “Das wissen wir. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. Wann ist der Umzug geplant?”
Als sie mich in den Arm nehmen, fließen wieder meine Tränen. Diesmal Tränen der Erleichterung. Ich möchte leben.
Es sollte eine der besten Entscheidungen meines Lebens sein – nach 6 Monaten hatte die australische Sonne meine Gewitterwolke verdrängt. Ich lebe wieder. Und Australien bleibt für immer ein großer Teil meines Lebens. No worries. Das sollte ich mir immer wieder sagen.

Jetzt schreibt Stefan wieder.

Die Tür öffnet sich und Frau Dethe kommt rein.
“O wie schön!”, flüstern Tati und ich und schließen kurz die Augen.
“Guten Tag.”, sagt Frau Dethe als sie uns sieht. “Was ist denn so schön?”
“Ach, das sie kommen.”, grinst Tati.
“Ja? Warum sollte ich denn nicht kommen?”, jetzt lächelt auch Frau Dethe. Zaghaft und irgendwie verloren steuert sie auf den Empfangstresen zu.
“Ach, das ist eine lange Geschichte. Nicht so wichtig.”
Dann betreten wir – den Raum –, der unser Leben verändern wird. In exakt konträr zur deutschdeutschen Nüchternheit / Trostlosigkeit / Verlorenheit eines Todraumbüros stehender Weise empfängt uns Herr Blauvogel mit überschwänglicher Wärme und Offenheit. Seine Augen sind blau, seine Zähne weiß, seine Haare Schwarz, die Frisur sitzt, ich liebe ihn. Sein Deutsch ist perfekt. Der Anzug sitzt noch besser. Azurblau, schätze ich, aber dafür bin ich zu aufgeregt.
“Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich ihnen”, beginnt er das Gespräch und betont jedes einzelne Wort als ob er gerade die Deutsche Sprache entdeckt hätte.
“Guten Morgen”, wünschen wir alle irgendwie euphorisiert zurück.
“Wir haben uns heute hier versammelt, um in der Sache Immobilie Altengammer Hauptdeich 82 einen Verkauf respektive Kauf vonstatten zu bringen. Wenn sie hierzu Fragen haben, lade ich sie recht herzlich ein, diese immer munter drauf los zu stellen.”
“…”, wir schweigen und sind immer noch ein wenig von seiner Erscheinung verzaubert.
Dann geht es los. Er liest achttausend Seiten Vertrag in weniger als einer Minute vor. So schnell habe ich noch keinen Menschen vor ihm lesen oder sprechen hören. Es ist unfassbar.
Trotzdem gehen mir achtmillionen Gedanken durch den Kopf, die alle nichts mit diesem Vertrag zu tun haben. Sie blitzen durch meine Synapsen und schreien am Ende alle dies: Du kleines Opfer, das nicht mal in der Lage ist mit einem anderen Menschen als deiner Frau und vielleicht ein paar Freunden ein vernünftiges Gespräch zu führen ohne dabei rot zu werden, willst dir dieses alte Schrotthaus kaufen, um daraus ein komplett saniertes und generalüberholtes Haus mit Ferienwohnung, Eventlocation und Café zu machen? Für einen Betrag, von dem du nicht dachtest, dass du ihn jemals auch nur in deinem ganzen Leben zusammen genommen im Entferntesten zu erwirtschaften im Stande wärst.
Eine gigantische Schlucht tut sich vor mir auf. Im Hintergrund eine monströse verfallene Ruine sondergleichen. Vor mir ein furchteinflößender Mann vor ein paar Dutzend anderen furchteinflößender Männern.
“Wer nun also gewillt ist, mir zu dienen, der trete vor”, so oder so ähnlich, Lord Voldemort beim vermeintlichen Sieg über Harry Potter.
Der kleine Stefan tritt vor.
“Wer bist du, bitte, junger Mann?”, der dunkle Lord scheint verwundert.
“Stefan. Stefan Timmann.”
Alle lachen.
“Nun ja, Stefan, wir finden schon einen Platz für dich in unseren Reihen.”
“Ich möchte etwas sagen.”, traue ich mich dann doch.
Der Notar schaut von dem Vertrag auf sagt: “Nun denn, ich bin mir vollkommen sicher, dass alle gebannt an ihren Lippen hängen.”
“…”, was? Ich verstehe nicht.
“Herr Timmann, sie wollten etwas sagen?”
“Oh, was?”
“Schatz?”, Tati ist verunsichert.
“Was?”
“Du willst etwas sagen?”
“Oh… oh nein. Neinnein, ich war in Gedanken. Entschuldigung.”
“Ist etwas unklar, Herr Timmann?”, fragt der Notar wieder.
“Nein, nein. Entschuldigung, das ist einfach alles so aufregend.”
“Ja. Das denke ich mir.”
Dann schweigen wir einen Moment, bis der Notar, jetzt wie in Zeitlupe, zwei Stifte mit zwei Fingern aus seiner Anzugjacke zückt und gekonnt, wie bei einem Säbelduell, vor Frau Dethe und uns positioniert. Den Vertrag, der da so schön auf dem Tisch liegt, dreht er um 180 Grad und schiebt ihn genüsslich auf uns zu.
“Wer fängt an?”, fragt er nun.
Die Unterschriften. Ich schwitze, ich schwitze, ich schwitze. Tati schwitzt. Und Frau Dethe fängt an zu weinen. Ganz leise, aber wir können es sehen.
Stille.
Das ist schrecklich pietätlos, aber Tati und ich dachten beide in diesem Moment, dass es das jetzt auch wieder mit diesem Haus war, dass Frau Dethe aufstehen und rausgehen würde und wir zum vierten Mal oder so gescheitert wären. Dass wir aufstehen würden und uns auf der Stelle aus dem Fenster des deutschdeutschen Büros stürzen würden.
“Ach, das ist nicht leicht für mich. Dass ich diejenige sein würde, die das hier übernehmen muss, die das alles verkaufen muss.”, Frau Dethe. Sie sagt es, als ob sie gescheitert wäre, als ob es eine Schande wäre, eine Last, die sie gehofft hat, nicht tragen zu müssen. Doch es hat sie getroffen.
Aber für uns ist es der Neuanfang in unser Leben. Mindestens 250 Jahre war das Haus in Familienhand. Jetzt ist es in der Hand einer anderen Familie. Und wir hoffen auf mindestens 250 weitere Jahre in unserer Familie. Denn dieses Haus ist so viel mehr für uns. Unser überlebensgroßes Haus.
Frau Dethe unterschreibt. Wir unterschreiben. Ein paar kleine Zeichen auf dem Vertrag, ein sehr großes Zeichen für unser Leben.
Dann verschwindet Frau Dethe wortlos und wir sacken in uns zusammen. Der Notar sagt noch irgendetwas – auch wenn es noch so charmant ist –, doch wir können es nicht mehr hören.
Im Fahrstuhl angekommen, schauen wir uns kurz an, und Tati fragt: “Eis?”
“Eis”, sage ich auch.
Das ist immer so. Wenn etwas Besonderes passiert, gehen wir in Bergedorf ein Eis essen. Wir machen ein Selfie mit Schoko- und Schwarzwaldbecher und überführen uns langsam ins neue Leben. Wir lassen uns hineinfallen. No worries. Das Selfie gucken wir noch heute immer wieder an.
Am nächsten Morgen gehen wir das erste Mal in den Kindergarten nach Altengamme. Wir stellen uns vor und fragen schon mal nach, ob Mathilda hier einen Platz bekommen könnte, wenn sie soweit wäre (sie ist noch gar nicht geboren, aber heutzutage muss man ja vorsorgen, ist alles nicht mehr so einfach mit Kitaplätzen). Nach einem kurzen Gespräch stöbern wir noch ein bisschen am Empfang durch die Bücher, die da so liegen. Alles regional, von hier und für hier und so. Bücher über alles, was im Dorf so los ist, Bücher über früher und Bücher über die Vereine. Schön, schön, schön.
“Wo wohnen sie denn?”, fragt auf einmal die nette Dame vom Empfang.
Während wir immer noch die vielen Bücher entdecken, bleibt Tatis Blick an einem bestimmten kleben. Dort zu sehen, auf dem Cover, unser Haus mit der Giebelfront und Deichbrückentür. So zeigt Tati kurzerhand auf das Buch und antwortet schmunzelnd: “Hier. In dem Haus da, da werden wir wohnen.”

Haus, Haus, Schlüssel, Kind

“Die wollen uns fertig machen!”, schreie ich ein paar Wochen später an einem sonst ganz schönen Sommerwochenende.
Wir sind gerade dabei, einen Käufer für unser Haus in Fünfhausen zu finden. Es sollte komplizierter werden, als gedacht.
Der Makler ist schnell gefunden. Er übernimmt das Haus zum zweiten Mal, nachdem es bei dem letzten Hausversuch nicht geklappt hat. Interessenten kommen schnell, einer nach dem nächsten, meistens Paare. Viele finden es gut, anderen ist es zu klein. Manche bringen gleich einen Gutachter mit, der alles grob checkt und die Paare berät. Andere kommen und gehen.
Schließlich einigen wir uns nach ein paar Wochen mit einem Paar, das alles in Ordnung zu finden scheint. Bis ein Brief von einem Gutachter in unserem Briefkasten landet, der besagt, dass unser Haus an vielen Stellen nass sein soll.
“Die wollen uns fertig machen!”, schreie ich wieder.
“Was sollen wir denn jetzt machen?”, ruft Tati verzweifelt.
“Das soll ja wohl ein Witz sein?”
“Ich will nicht mehr!”
“Da ist doch nichts nass!”
“Natürlich ist das nicht nass!”
“Aber das sagen die!”
“Und jetzt sollen wir ein Gegengutachten erstellen? Soll das alles ein Witz sein? Das müssen wir doch auch alles bezahlen!”
“Und dann kommt ein Gegengutachten vom Gegengutachten und das geht immer so weiter!”
“Was, wenn es wirklich nass ist?”
“Das ist doch nicht nass!”
“Papa, können wir was spielen?”, David taucht auf.
“Aber was, wenn?”
“Das ist nicht nass!”
“Paaapa.”
“Hast du hier jemals irgendwas Nasses gesehen? Oder gerochen? Da ist nichts Nasses!”
“Also wir werden auf keinen Fall einen Gegengutachter einschalten. Wir müssen da jetzt erstmal hinschreiben.”
“Mama. Kannst du vielleicht mit mir spielen?”
“Ja, jajaja! Ich will auch spielen!”, Johanna ist jetzt auch da.
“Jetzt wartet doch mal bitte. Gleich.”, versucht Tati die Kinder zu vertrösten.
“Aber Mama, ich hab euch heute doch schon den ganzen Tag gefragt. Ihr habt immer gleich gesagt.”, kontert David.
“Ja genau!”, trällert Johanna.
“Wir haben gerade ein paar Probleme! Bitte lasst uns jetzt in Ruhe”, ich.
“Was wollen wir denn schreiben? Dass wir das nicht glauben?”
“Nein, da müssen wir natürlich mit Bildern arbeiten oder so. Du hast doch so viele gemacht. Wir müssen denen irgendwie beweisen, dass das hier richtig gebaut wurde.”
“Paaaapa!”
“Jetzt IST ABER SCHLUSS! IHR GEHT JETZT AUF EUER ZIMMER, ICH DREHE DURCH! Wir haben PROBLEME”, brülle ich aus mir heraus wie ein Weltuntergang.
… Stille. Im Haus und in meinem Kopf. Schon beim zweiten oder dritten Wort meiner Attacke habe ich ein schlechtes Gewissen. So oft leiden die Kinder wegen unserer ganzen Ideen mit diesen ganzen Häusern, die wir schon fast bekommen hätten, mit den ganzen Problemen, die wir deswegen hatten und so weiter und sofort. Und überhaupt. Es tut mir so Leid.
“Ihr habt doch immer Probleme”, winselt David als er aus dem Wohnzimmer geht. Johanna läuft weinend hinterher.
Ich habe so ein schlechtes Gewissen. Tati auch. Ja, die Kinder leiden. Das erst Mal in unserem Leben fragen wir uns ganz bewusst, ob es das Wert ist. Schon bevor es überhaupt richtig losgeht. Dass wir nicht unser ganzes Leben verpassen, weil wir denken, dass wir uns unbedingt ein neues Leben aufbauen müssen.
In Davids Zimmer haben sich beide unter Davids Bettdecke verkrochen.
“Es tut uns Leid”, sagt Tati, als sie die Bettdecke ein Stückchen hochhebt.
“Mir tut es auch Leid”, sage ich.
Die Kinder sagen nichts. Sie verkriechen sich weiter unter der Decke und pressen ihre Augen zu, so wie Kinder es tun, damit man sie nicht mehr sehen kann. Eigentlich sind sie zu alt dafür, aber wir alle wissen, dass man nie zu alt dafür ist.
“Wollen wir Jenga spielen?”, fragt Mama.
Keiner reagiert.
“Uno? … Ich seh was, was du nicht siehst? … Wollt ihr was anderes spielen?”
Keiner reagiert. Tati und ich kriechen schließlich unter die Decke und legen uns einfach dazu. Wir pflücken sie weg, sagen wir immer. Wie einen Apfel oder so, den man vom Baum pflückt, pflücken wir die Kinder von ihrem Platz und pressen sie ganz doll an uns. Nach einer gewissen Zeit verschwindet die Anspannung und beide knuddeln zurück.
Mama wieder: “Es tut uns so, so, so Leid. Könnt ihr uns verzeihen?”
Sie lächeln, so, wie nur Kinder lächeln können und man genau weiß, dass zwar nicht alles gut ist, aber doch für den Moment alles in Ordnung. Dass für einen Moment die Welt nur aus uns Vieren und unserer Liebe besteht – und am Ende besteht ja das ganze Leben nur aus Momenten, und von daher ist das doch schon ziemlich viel, wenn dieser Moment aus uns vier Lieben besteht.
“Wir fragen uns manchmal, warum wir immer so viel Pech haben, Bär.” flüstere ich und versuche unsere Situation etwas zu erklären. “Johannili, hörst du uns?”
Sie ist schon eingeschlafen, David hört zu. Ich erzähle weiter: “Dieses Haus, was wir jetzt gekauft haben, zu finden, hat uns so viel Zeit und Kraft gekostet. Und das war so ein langer Weg. Und ständig passiert wieder was Bescheuertes, und wieder, und wieder. Wir wissen, dass das alles nicht so schlimm ist, denn wir haben euch und uns und wir sind gesund und so. Aber manchmal kann man einfach trotzdem nicht mehr. Und jetzt behauptet irgendein Gutachter, dass unser Haus nass sein soll. Aber das ist nicht nass.”
“Was meinst du mit nass, Papa?”, möchte David wissen.
“Oh, ja klar, entschuldigung. Also, das Feuchtigkeit, also Wasser, in den Wänden von unserem Haus sein soll. Und das wäre nicht gut. Denn wenn da Wasser drin ist, dann schimmelt das irgendwann, und das ist dann nicht gut für die Gesundheit.”
“Warum?”, Johanna schläft doch noch nicht.
Ich freue mich: “Von dem Schimmel fliegen dann so Sporen, oder sowas ähnliches, durch die Luft. Die atmet man dann ein und das ist nicht gut für die Lunge. Ist einfach so.”
“Hm…”, machen beide nur.
“Aber jetzt müssen wir irgendwie beweisen, dass unsere Wände nicht nass sind. Und das kostet wieder entweder viel Geld oder sehr viel Zeit. Wir werden also wieder sehr viel Zeit damit verschwenden, uns jetzt auch noch darum kümmern zu müssen, obwohl wir doch eigentlich die Zeit in den Umzug oder unser neues altes Haus stecken wollen. Und das alles ist auch deswegen so ärgerlich, weil – stellt euch vor, wir bekommen keinen guten Preis mehr für unser Haus. Dann haben wir für den Ausbau für unser neues altes Haus nicht mehr genug Geld, und dann bekommen wir ein noch viel größeres Problem. Weil, wo wollen wir denn wohnen, wenn wir das Haus nicht so ausgebaut bekommen, damit wir drin leben können? … Wisst ihr, was ich meine?”
Keiner sagt etwas. Beide sind eingeschlafen, genau wie Mama. Ich habe mal wieder zu viel geredet. Ich weiß nicht, was die beiden alles noch mitbekommen haben, hoffe aber, dass sie fühlen, was wir meinen und vor allem, dass wir die beiden unfassbar doll lieben.
In den nächsten Tagen machen wir uns dran, Fotos vom Bau des Hauses zusammen zu tragen, die zeigen, dass alles mit Rechten Dingen zugegangen ist. Wir sprechen mit dem Makler alles durch, und machen uns auf die Suche nach einem weiteren Käufer.
Zum Glück ist der nach einigen Wochen gefunden: ein nettes Paar mit zwei Kindern. Alle sind sehr zufrieden mit den ganzen Bildern, die wir gleich vorzeigen und keiner hat etwas zu beanstanden. Der Verkauf kann über die Bühne gehen. Wir sind sehr dankbar, dass alles noch geklappt hat, und sind bis heute mit den Käufern dann und wann in Kontakt.

Das geht gar nicht, ist eigentlich unmöglich. Aber Tati und ich wissen beide, dass es sein muss.
“Wir müssen da jetzt anrufen.”, sagt Tati.
“Ich weiß.”, erkenne auch ich.
“Vielleicht reicht auch eine E-Mail.”
“Ja, gute Idee. E-Mail ist besser.”
“E-Mail, ja.”
“Dann haben wir es auch schriftlich und so.”
“Ja, das ist gut. Ist besser.”
Wir wissen, dass wir nun den Mann anrufen müssen, der unser Leben mit einer E-Mail – wie passend, E-Mail ist besser – zerstört hat. Zerstört wie ich so zerstört bin in meinem Kopf und meinen Gedanken. Tati hat die ganze Sache mit dieser letzten Absage des Hauskaufs auch mitgenommen, aber für mich war es wohl doch wesentlich heftiger. Ich bin ein anderer Mensch geworden und auch nach über eineinhalb Jahren geblieben.
Wir müssen diesen Mann nun fragen, ob das Angebot, das vor eineinhalb Jahren beim vermeintlichen Kauf seines Hauses zum zwischenzeitlichem Wohnen zur Miete in einem seiner weiteren Häuser bestand, immer noch besteht. In den Vier- und Marschlanden bekommt man nicht mal eben so ein Haus oder eine Wohnung mit demnächst drei Kindern zur Miete – vor allem nicht, wo doch der ein oder andere aus den Medien wissen könnte, dass wir ein Haus suchen und zur Miete wahrscheinlich nicht lange bleiben würden.
“Selbstmord”, sage ich.
“Ich weiß”, sagt Tati. “Aber was sollen wir machen?”
“Alter, das ist Selbstmord! Wir kriechen zu ihm zurück und bitten den Allmächtigen um einen Gefallen. Das ist Selbstmord! Ich könnte auch gleich zum Henker gehen… oh Mann!”
“Ich weiß! Es bleibt uns aber nichts anderes übrig. Also?”
“Ja, jaja, ist gut.”
“Schreibst du, schreib ich?”
“Wollen wir nicht vielleicht lieber campen? Komm, zwei, drei Jahre schaffen wir das bestimmt. Wir sind erprobt. Was wir auf Rügen beim Campen schon alles erlebt haben. Ganz ehrlich!”
“Schatz!”
“Ernsthaft.”
“Bär, bitte.!
“Hm. Okay”, mein Seufzen ist so tief und lang, dass meine Sauerstoffsättigung im Blut kritisch wird. Seelenseufzen. Chihiros Reise ins Zauberland – das Rote Tor. Ich sehe, wie es einatmet. Und ausatmet. Wie ein gewisser innerer Widerstand nicht über das Unausweichliche hinwegtäuschen kann. Der einfachste Weg ist nicht der einfachste. Der Verstand sagt ja – unsere einzige schnelle Möglichkeit mit den Kindern –, das Herz schreit nein, wie kannst du nur?
Aber es nützt nichts, wir schreiben diese Mail. Und tatsächlich, nach einiger Zeit kommt eine Antwort: das Angebot besteht noch. So rettet uns in dieser Zeit mehr oder weniger der, der alles zerstört hat, den Arsch. Falls Sie das lesen sollten, danken wir ihnen recht herzlich dafür. Yin, Yang, das Schicksaal ist ein Arschloch.

Schlüsselübergabe. Schlüsselkind. Und ein Legomännchen. Der 30. Oktober 2015, alles ist erledigt. Bank, Notar, Grundbuch, Behörden, Geld und so weiter und sofort. Es ist nicht zu glauben, wir kaufen doch nur ein Haus und nicht ganz Deutschland – heute ist die Schlüsselübergabe. Dann gehört das Haus ganz offiziell uns. Familie Timmann, Tati, David, Johanna, das was da noch kommt und ich in Altengamme am Elbdeich.
“Boa, mir geht es gerade gar nicht gut!”, stöhnt Tati nachmittags auf der Couch.
“…”, ich schließe die Augen.
“Ich glaube, heute kommt das Kind.”
“Ist richtig!”, lache ich.
“Nein, wirklich!”
“Ist richtig! Heute ist die Schlüsselübergabe. 17 Uhr, im Haus. Wahnsinn, da müssen wir anstoßen und so weiter. Da kann es dir doch jetzt nicht einfach so schlecht gehen. Beere, bitte!”
“Booooaa, ne, das ist gar nicht gut!”, sie stöhnt und stöhnt.
“…”
“Du musst da alleine hin.”
“Schatz… ne, komm, was soll das?”, vielleicht habe ich nur Angst, da alleine hinzugehen.
“Ist doch nicht schlimm. Du schaffst das schon.”
“Ja, schaffen schon, aber … ich möchte das nicht alleine machen. Das ist doch was Besonderes, da musst du doch mitkommen. Vielleicht geht es dir ja gleich besser.”
“Boooooaaa. Ne, wirklich.”
“Ne, nä?”
“Ja, was denkst du? Ich habe mir das auch nicht ausgesucht! Was kann ich denn dafür? Mann!”
David und Johanna kommen rein und kuscheln sich an Mama. David sofort: “Mama, Mamamamamama, ich glaube, wir bekommen heute ein Geschwisterchen!”
“Ist klar!”, rufe ich wieder und gucke wie ein Mops, der noch weniger weiß als sonst.
“Jaaaaa!”, freuen sich die beiden weiter.
“Schatz.”, möchte ich vorschlagen. “Vielleicht machen wir es so, dass…”
“Du fragst einfach, ob dein Vater mitkommen möchte”, unterbricht Tati. “Ooooooh.”
“Öm…”
“Okay?”
“Hm…”
“Schatz, bitte!”
“Okay, okay, ja, gut… okay, das ist eine gute Idee. Okay, dann kannst du dich etwas beruhigen und…”
“Boooaa … das ist krass …”
“Oke, oke, ich rufe jetzt meinen Vater an! Okay, okay…”
Da mache ich mir natürlich schon so meine Gedanken. Aber heute – ich glaube, heute kommt das nicht. Das wäre einfach zu viel auf einmal. Ich rufe meinen Vater an und frage, ob er mitkommen möchte. Er willigt ein, und eine Stunde später sind wir mit einer Flasche Prosecco auf dem Weg zur Schlüsselübergabe beim Haus.
Helles Scheinwerferlicht auf der ewig langen und nachtschwarzen Deichstraße. Die Elbe liegt irgendwo rechts neben uns, die Kurven bewegen mein Herz. Wir fahren.
Wir stehen. Der Motor geht aus, Frau Dethe steht tatsächlich vor dem Haus. Wir gehen den Deich runter und begrüßen sie vor dem großen Dielentor hinten am Wirtschaftsteil des Hauses. Stockdunkel, nur das Licht der alten hölzernen Straßenlaterne lässt Umrisse erahnen.
“Jetzt ist es soweit”, sagt sie ohne Umschweife und kommt sofort zu Sache. Sie gibt mir den Schlüssel und zeigt zum Tor.
“Danke”, antworte ich nur. Was soll man da sagen, ich bin so aufgeregt wie vor der Abiprüfung.
Der Schlüssel passt, und ich öffne zum ersten Mal das große Tor. Wir gehen durch die dunkle Diele in das Flett (die Wohndiele), Frau Dethe macht das Licht an. Eine merkwürdige Leere erfüllt den Raum.
“Wollen wir vielleicht anstoßen, also, einen trinken?”, frage ich mit wackeliger Stimme.
“Ach was”, antwortet Frau Dethe in schlichter Unaufgeregtheit.
“Nein? Also, gut. Nicht”, meine Worte fallen zu Boden.
“Nein, nein. Das ist nicht nötig. Ich wünsche euch alles Gute mit eurem Projekt. Das wird bestimmt nicht immer einfach.”
“Danke, ja. Tatiana konnte übrigens nicht mitkommen, weil es ihr gerade nicht so gut geht. Sie wäre gerne hier.”
“Oh, sie ist doch hochschwanger. Dann kommt bestimmt das Kind heute noch an.”
“Ach was, ich glaube – nein, ich glaube, das kommt noch nicht.”
“Na, denn.”
“Vielen Dank nochmal, dass das jetzt so geklappt hat.”
“Gerne. Ich glaube, ich habe mich die letzten Jahre doch noch, so gut es ging, um das Haus gekümmert.”
“Ja, bestimmt. Vielen Dank.”
“Ja.”
“Schön.”
“Gut. Also schön, dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen.”
“Ja. Also … wenn du magst, kannst du immer vorbeischauen. Also, was so passiert und so … weiter.”
“Danke, ja, vielen Dank. Also dann, alles Gute.”
“Gut. Also … ja, tschüs.”
“Ja, tschüs auch”, verabschiedet sich mein Vater.
Als Frau Dethe weg ist, lässt die Anspannung nach.
“So, was machen wir jetzt?”, frage ich.
“Wir fahren wieder nach Hause”, raunt er.
“…”, ich bin etwas ernüchtert.
“War doch gut jetzt. Du hast den Schlüssel, es ist kalt. Was sollen wir denn jetzt noch machen?”
“Ja…”, da fällt mir ein, dass Tati zu Hause gewisse Schwierigkeiten hatte. “Ja, okay.”
Dort angekommen fährt man Vater gleich weiter zu sich nach Hause, und ich merke, dass da ein Legomännchen am Schlüsselbund hängt. Ich stelle ihn auf den Schrank im Flur und schließe ihn ein in meine Gedanken. Der Hausgeist geht nun mit uns den Weg.
“Schatz, alles gut?”, rufe ich, als ich durch die Tür komme.
“Boooooaaa.”
“Warte, ich komme.”
“Wie war’s?”
“Gut.”
“Ging schnell.”
“Ja. Sie war halt recht kurz angebunden. Was soll sie machen?”
“Booooaa.”
“Okay, aber was ist denn jetzt los bei dir?”
“Boooaaaa, oh Mann, oh Mann!”
David und Johanna sind immer noch bei Tati im Wohnzimmer. Doch sie gucken nebenbei Spongebob.
“Papa, du bist wieder da.”, freut sich David.
“Ja. Ja, das bin ich.”
“Mama, geht es dir denn jetzt besser?”, möchte Johanna wissen.
“Bär. Ich glaube, es geht los.”, stöhnt Tati und schaut wie jemand schaut der sich nicht zwischen Angst oder Glück entscheiden kann.
“Was, wie, das geht los? Jetzt echt?”
“Booooaa, oooooooh … ooooo oo o oh.”
“Schatz, hallo?”, ich werde ganz unruhig.
“Hol deinen Vater zurück!”, ruft sie auf einmal.
“Öhm.”
“Schatz, hol deinen Vater zurück!”
“Ja, okay. Jaja”, okay, ich glaube, das wird jetzt doch ernst. Schnell rufe ich meinen Vater an und versuche Tati etwas zu beruhigen. “Mein Vater kommt.”
“Okay, das ist guooooooaaaa.”
Ich werde immer nervöser. Auch die Kinder spüren deutlich, dass da etwas ist. Sie machen freiwillig den Fernseher aus und nehmen Tati in den Arm. Wir kuscheln uns alle zusammen, und hoffen, dass alles gut wird.
Als mein Vater zurückgekommen ist, springen Tati und ich mit dem nötigsten an Kleidung in den Wagen und fahren zum Bergedorfer Krankenhaus. Mein Vater passt in der Zeit auf David und Johanna auf.
Wir parken irgendwo, gehen zum Empfangstresen, erzählen irgendwas, und irgendwer bringt uns irgendwo hin, wo wir erstmal irgendwie warten sollen. Alles läuft an uns vorbei wie in einem Film. Ich kann es immer noch nicht glauben.
Dann kommt der Arzt: “So, heute soll es also losgehen?”
“…”, wir reagieren nicht.
“Na ja, dann wollen wir sie mal untersuchen. Machen sie sich mal frei soweit.”
Das geht so weiter und sofort. Stunden vergehen, Wehen, Schmerzen, Schreie, wie das so ist. Ich stehe daneben, so wie auch die letzten Male und habe Angst um Tati, wie die letzten Male, und dass sie bald stirbt, und wie sie das jedes Mal aushält, und dass ich verdammt froh bin, ein Mann zu sein. Die Ohnmacht, die während der Wehen oder auch in den Pausen eintritt, wenn die Müdigkeit mitten in der Nacht für einen Moment die Oberhand über die Anspannung gewinnt – kurzes Wegnicken, die Augen fallen zu –, die Sorgen, die Gedanken, auch die Euphorie, zeigen doch jedes Mal wieder, wie nah und nackt wir immer noch mit der Natur verbunden sind. Und dann geht es los, Schreie, Kreischen, Atmen, auf das pure Leben zurückgeschmissen, auf den Körper, Instinkte, und dann ist es auf einmal da!
Ein Kind.
Unser Kind.
Mathilda.
Erst Wochen, nachdem wir uns langsam mit ihr eingelebt haben, fällt es uns auf – erst der Schlüssel, dann das Kind. Unser Schlüsselkind. Das Wort hat für uns seitdem eine komplett andere Bedeutung.

Da steht ein Klavier auf einem Anhänger, ein klitzekleiner halbschrotter Einachsanhänger und ein tonnenschweres gigantisches Klavier. Der Anhänger biegt sich unter der Last.
Jetzt steht der Umzug an, wir haben Angst.
Mathilda ist frisch geboren, und wir sollen mit Kind und Kegel umziehen. Das eine Haus ins andere Haus. Von unserem Haus in Fünfhausen, Vierlanden, in das Haus des Mannes, der unser Leben (fast) zerstört hat und, wer weiß wann, nach Altengamme in das Haus, das (hoffentlich) unser Leben rettet.
Ein 50er-Jahre Einfamilienhaus mit einer Art Schuppen nebenan. Backstein. Nah am Elbdeich, ganz schön gelegen. Unwichtig.
Wir trommeln ein paar Freunde zusammen – bis heute wissen wir nicht, warum wir keinen Transporter oder ähnliches gemietet hatten – und laden den Anhänger hunderttausend Mal voll, fahren hin, laden ab, fahren zurück, und von vorne. Schränke, Tische, Möbel, Kartons, Küchengeräte, altes Zeugs und so weiter und sofort. Das große Zeug. Das kleine Zeug. Alles zieht die nächsten Wochen um.
Tati ist komplett im Eimer. Eines Abends bricht sie weinend zusammen. Sie hat gerade Mathilda auf die Welt gebracht, ich arbeite schon wieder vollzeit in der Agentur. Die Elternzeit muss ich später nehmen, und darf sie auch nicht am Stück nehmen. Alles nicht so einfach.
Nach vielen anstrengenden Wochen ist es geschafft, und wir haben ein neues Zuhause. Zumindest versuchen wir es uns für die Zeit, die wir hier sein werden, so gemütlich wie möglich zu machen.
Wir werden uns noch wundern. Irgendwann, Jahre später erst, ist uns aufgefallen, dass uns der Umzug von unserem ersten Haus in Fünfhausen, das Haus, das wir uns als junges Ehepaar aufgebaut hatten, nicht schwer gefallen ist. Nichts, das wir vermisst hätten. Die Nachbarn, der Garten, der Oortkatener See vielleicht. Aber das Haus an sich hat uns völlig kalt gelassen. Das Haus in Kirchwerder, das wir nur für ein paar Jahre mieten sollten, das haben wir eher vermisst und in der ein oder anderen Nacht in Gedanken besucht, und uns vorgestellt, wenn wir am Ende unserer Kräfte waren und voll Sorgen, dass das Haus doch auch zum Leben gereicht hätte.
Unser gemietetes Haus ist fast komplett von alten Bäumen verschlungen. Ein kleines Grundstück, aber der Charme nicht uralter, aber doch gelebter alter Mauern, Räume und Gerätschaften catcht uns auch hier. Nur ein Warmwasser-Anschluss, der erstmal wieder hergestellt werden muss, und Strom aus dem letzten Jahrhundert – wir dürfen nur ein Gerät zur Zeit benutzen, das etwas mehr als 200 Watt hat – aber das geht trotzdem.
Alles egal. Alles für unseren Lebenstraum. Das Haus ist kein moderner Standard, aber für die günstige Miete reicht es uns allemal. Das können wir sagen. Und groß genug, um unser Hab und Gut vorübergehend zu lagern. Denn im Bauernhaus in Altengamme können wir nichts abstellen, da das ja nun – komplett – saniert werden muss.