Die sollen auch gar nicht alle sitzen

Buch: Kapitel 01

Samstagmorgen, es ist acht Uhr dreißig und ich stehe am Deich bei meinen Kindern, die alle schreien, so wie alles schreit in meinem Kopf. Gastro ist Krieg. Die Sonne scheint. Alles duftet nach Feld und Sommer und Leben und Lachen. Doch mir geht es schlecht. Alles dreht sich. Ich zittere und würde gerne wieder in mein Bett gehen. Herz. Es schlägt irgendwie, wie es nicht schlagen sollte. Unrhythmisch. Rumpelartig. Eine E-Mail, die ich heute morgen um sechs von einem Nachbarn gelesen habe, geistert mir noch durch den Sinn und verdoppelt meine Kopfschmerzen. Diese ganzen Hochzeits-, Familien-, Weihnachts- und sonstwas-Feiern, zu laut, zu lang, zu scheiße. Ich habe Angst. So schlimm war es doch gar nicht. Der Bus, der meine Kinder gleich mit zum Zeltlager nimmt, ist schon da. Alle sind schrecklich aufgeregt. Da fängt neben mir eine Mutter an zu weinen. Schließlich sieht sie ihre Tochter gleich für die nächsten zwei Wochen nicht mehr. Ich denke noch – und ich meine das wirklich nicht böse –, ist doch nicht so schlimm, sie hat doch noch fünf andere Kinder, da fange auch ich an, loszuheulen. Oh nein, oh nein, was denken bloß all die anderen Eltern? Der Typ mit der riesigen Sonnenbrille unter dem schwarzen Hut in zerzausten Jogginghosen fängt jetzt auch noch an zu heulen. Was ist da bloß los bei dem? Cut / schwarz.
“Jo Timmann, du Loser, willst du eine Banane? … Wattwurm! Psycho!”, ruft der eine, der hatte so dunkle Haare.
“Öhm…”
Dann singt der auch noch: “Willst du eine Banane?” Ich weiß noch genau, wie die Melodie geht.
“Öhm…”, was soll ich sagen, was soll ich bloß sagen? Meine Kehle wird ganz trocken und ich immer kleiner. Ich bin wieder in der Schule als ich so ein verdammter kleiner Loser war und von allen immer nur fertig gemacht wurde. Ich habe keine Ahnung, wie die auf die ganzen Namen gekommen sind. Warum die gesungen haben und warum überhaupt, ich habe das nie verstanden. Aber irgendwas stimmt nicht mit mir.
“Weißt du, du siehst echt scheiße aus von der Seite. Also vor allem von der Seite. Weißt du, ich bringe dir morgen eine Waffe mit zur Schule, dann kannst du dich ja direkt damit umbringen.”, Andreas hieß der.
Ich weiß nicht, was mit dem heute ist. Der war ganz dünn und weiß. Es war die Hölle für mich. Ich kann mich nicht gut an meine Kindheit erinnern, aber diese eine Szene werde ich nie vergessen. Bildlich, wie der da stand und mir das einfach so gesagt hat. Nicht lustig. Der hat das nicht lustig gesagt. Der hat nicht gelacht. Der hat mir das todernst gesagt. In your face. Bei den Treppen vor diesem einen Schulgebäude. Da war dieses Vordach und dieser Eisenträger. Alles schrecklich häßlich.
War nicht so meine Zeit. Das hallt nach. Nur ein paar Worte. Und doch beeinflussen sie bis heute mein ganzes Leben. Ich hatte mich jahrelang nicht richtig im Spiegel angeguckt, wollte nicht fotografiert werden und hatte nie gelacht. Kann sich kein Mensch vorstellen.
Cut / wieder am Deich. Die Eltern sind auch noch da. Totale Überforderung. Ich gucke nach unten. Boden. Ja, Boden ist gut. Der ist grau und lacht mich nicht aus. Tati, meine wunderbare Frau, steht nur da, abwesend und reglos. Durchsichtig. Aber ich weine eigentlich gar nicht, weil ich nicht damit klarkomme, dass zwei meiner Kinder gleich wegfahren werden. Auch. Ich weine vor allem, weil ich gleich zusammenbreche.
Die Nacht davor, beziehungsweise die zwei Stunden Schlaf davor, vor der Nacht mit den paar Stunden Schlaf. Dazwischen die Tage, an denen ich über zwanzig Stunden am Stück gearbeitet hatte, ohne eine Sekunde Pause gemacht zu haben. Eine Braut. Ein Brautpaar. Und unser Haus. Unser uraltes und erst vor kurzem von uns gekaufte und komplett sanierte Bauernhaus. Das Haus, bei dem gleich fast 120 Menschen ihren schönsten Tag im Leben verbringen möchten.
“Du, 120 Personen sind etwas viele, die können niemals bei uns alle sitzen.”, gab ich beim Kennenlerntermin des Brautpaars bei uns in der Bauerndiele zu bedenken.
“Die sollen auch gar nicht alle sitzen!”, erwiderte der Bräutigam tiefenentspannt.
Okay. Aber wenn es dann losgeht, die Feier – immer alles auf einmal. Wo ist das, wer macht das, wie machen wir das, warum so und nicht so? Ich möchte mich gerne zehnteilen. Geht nicht. Putzkraft, Hausmeister, Barkeeper, Psychologe, Wedding-Planer, Gärtner, Chauffeur, Tontechniker, Sanitäter, heute sind wir alles. Und die drei Kinder, die sind ja auch noch da. Fehlt was? Ja. Mein Gehirn. Egal.
Morgens wachen wir auf, und ich stelle mir den Spiegel vor, wie er bei unserem Anblick zerbirst. Wie diese Detailaufnahmen in Comic-Serien im TV, wenn irgendwer wirklich richtig fertig ist. Ren and Stimpy oder so. Furchtbar. Close-Up. Furchen im Gesicht, grünblaue Ringe um die Augen, unrasiert, Haare kreuz und quer, sabbernd, röchelnd. O Gott, noch ein Tag. Psychisch und physisch voll am Limit. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Ich gucke Tati in die Augen, und es tut mir von Herzen leid, dass es jetzt so ist. Denn so war das nicht geplant. Gastro ist Krieg. Das glaubst du nicht. Niemals. Menschen.
“Minus und Minus ergibt Plus.”, haucht mir Tati in die Ohren, die jetzt oft an ihre Kindheit denken muss, als ihr Vater so früh gestorben ist, und sie ähnlich verzweifelt war, und dass sie jetzt schon älter ist, als er jemals geworden ist, und dass sie das jetzt alles gar nicht mehr richtig verarbeiten kann. Und dass sie sich fragt, ob er stolz auf sie gewesen wäre, und auch darauf, dass sie nach ihrem Burnout beim Studium in Australien wieder aufgerappelt hat. Und ob sie einfach seine aller aller beste Tochter gewesen wäre. Es ist alles so viel.
Streit, Mahnungen, die drei Kinder, die einfach immer was wollen, kein eigenes Schlafzimmer. Unser Wohnzimmer direkt neben dem Saal für die Feiern ist zusätzlich Schlafzimmer, Lagerraum, Büro und Küche für uns und teilweise auch für unsere Feriengäste (dazu später mehr). Unsere Matratzen liegen auf einer Hochebene mit 1,20 Meter Deckenhöhe über dem Esstisch. Meterhohe Türme mit Aufbewahrungskästen neben dem Sofa. Jeder Mitarbeiter muss immer durch unser Wohnzimmer. Nachbarn, Gäste, Schule und Elternabende, Stressstressstress und kein bisschen Privatsphäre mehr, auch nicht im Haus. Ein, wie soll man das sagen?, normaler Tag im Sommer sieht so aus: Wir frühstücken schnell, machen die Kinder fertig und bringen sie zum Kindergarten und in die Schule. Danach putzen wir einige Stunden ein paar Wohnungen, Hütten und Baumzelte. Meist kommen schon die ersten Gäste, die die Diele für eine Hochzeit dekorieren wollen, und es geht ab. Wo sind Steckdosen, habt ihr ein Verlängerungskabel, wie machen wir das mit den kleinen Kindern, können wir den Sektempfang vorziehen und dafür die Mitternachtswurst ausfallen lassen? Ach ja, der DJ kommt gleich, wo kann der teure Whisky hin? Parallel reisen neue Gäste verfrüht an, die sich zwar entschuldigen aber natürlich trotzdem schon in die Wohnungen wollen. Stressstressstress, wir müssen die Kinder wieder abholen. Ich flitze los, komme zurück und treffe Tati, die mir sofort in den Arm fällt und fragt, ob ich sie kurz gegen eine Wand klatschen könnte. Der Raum zieht sich zusammen, Scheuklappen, alles wird eng, kurzatmig, die Gedanken irrlichtern durch die Gegend, sie finden kein Ziel. Doch da kommen schon die weiteren Gäste und kurz danach das Brautpaar. Unsere Serviceleute sind eingewiesen, jetzt müssen wir uns noch schnell umziehen. Einen Tag vorher sind zwei andere Serviceleute ausgefallen und wir müssen selbst an der Bar stehen. Kein Problem, macht ja auch Spaß und so. Aber nachts gegen drei Uhr verlässt einen schon mal die Motivation, Müdigkeit und Schwindel sind deutlich spürbar und man merkt, oh, ich hab seit vier Stunden nichts getrunken (von essen ganz zu schweigen). Also schnell ein paar Gläser Wasser runterkippen und weitermachen. Natürlich werden die Gäste mit steigendem Alkoholkonsum nicht unbedingt ruhiger. Wo war nochmal der Beamer, können wir draußen eigentlich ein Feuer machen, warte mal, ihr wolltet doch auch Sambuca ausschenken. Die Fragen und Wünsche bleiben. Dienstleistung at it’s best. Gegen halb fünf geht Tati rüber und versucht zu schlafen, bumm, bumm, bumm, nur eine dünne Trockenbauwand trennt sie von der Feier. Ich folge um sechs. Sie steht wieder auf und putzt drüben für die nächste Hochzeit, zwei Stunden später kümmere ich mich um die Kinder und steige wenig später ins Putzen mit ein. Der Spiegel ist schon zwanzig Mal zerborsten.
Da ist er nun. Und wir sind mittendrin. Unser Lebenstraum. Wir, Tati und Stefan, zwei Exwerber und ein 300 Jahre altes Bauernhaus in den Vierlanden in Hamburg am Elbdeich. Ein paar Waldhütten mit Baumzelten und jede Menge Arbeit. Eventlocation, Ferienwohnungen, Café, Hofladen und in allem auch noch unser eigenes Zuhause mit unseren drei Kindern.
Manchmal, wenn wir so gar nicht mehr können, packen wir uns, schauen uns tief in die Augen und machen uns bewusst, was wir geschafft haben: 15 Jahre an einen Traum geglaubt. Ein halbes Jahrzehnt das richtige Bauernhaus gesucht. Dabei dutzende Male verarscht worden und menschliche Abgründe erlebt, aus denen man wunderbar den ein oder anderen Psychothriller hätte schreiben können. Zwischendurch unsere drei bezaubernden Kinder bekommen. Dann unser recht neu gebautes Haus verkauft und aus einem verfallenen Schrotthaus und ein bisschen verwüstetem Brachland in weiteren fünf Jahren unsere eigene Wohnung, vier Ferienwohnungen, vier Waldhütten, zwei Baumzelte, eine Eventlocation und ein Hofcafé gemacht. Jahre, in denen ich jeden einzelnen Knochen meines Körpers persönlich sehr gut kennenlernen durfte. Schmerzen, Blut und Wunden. Jahrelang Tonnen an – wie soll man das nennen? – Zeugs, alten Sachen, Krempel, Schrott, Müll und so weiter von einer Ecke in die andere getragen und wieder zurück, weil irgendwie auch in einem Bauernhaus nicht so viel Platz ist, wie man ihn eigentlich bräuchte. Anträge, Handwerker, Denkmalschutz, und der Millionenkredit – eine Summe von der wir nie zu träumen gewagt hätten. Da sitzt man dann vor diesen grauen Herren in der Bank und hofft und hofft und hofft. Und fünf Jahre, in denen wir ein Geschäft aufbauen mussten ohne jegliche Vorahnung. Kein Elternhaus auf dem wir aufbauen konnten, kein Haus geerbt. Wir haben keinerlei Backgroundwissen gehabt. Keiner war in der Gastro oder Hotellerie, kein BWL, VWL oder sonstwas. Schule? Ja, Opfer, Loser, schüchterne Freaks. Furchtbar. Tati hat ihren Vater früh verloren. Keine Eltern, Freunde, Familie, die uns ständig geholfen hätten. Die Kinder schreien. Und, und das kennt natürlich jeder Selbständige, keine Zeit mehr für Freunde, Feste, Wochenenden und so weiter. Für die Gäste nur das Beste. Wir haben das alles ganz alleine aufgebaut. Und dabei sind wir eine Familie geblieben. Ein Wunder. Tati, David, Johanna, unser Schlüsselkind Mathilda und ich.
Manchmal sagen wir uns das, denn manchmal, ist das die einzige Überlebensstrategie. Keiner hat uns geglaubt. Keiner hat an uns geglaubt. Und ich glaube, es hat uns auch keiner zugetraut.

Es war einmal ein kleiner Junge. Der war ganz leise und still. Die Welt war grau, sein Zuhause war eckig und die Straße vor der eisernen Haustür ängstigte ihn. Überall Maschinen. Auf der einen Seite große stinkende, auf der anderen Seite kleine und viel lautere. Maschinen mit Rädern, Motoren und Auspuffen. Gegenüber war eine eckige Schule mit vielen und noch vielen mehr Kindern und Lehrern und Menschen, vor denen er irgendwie immer Angst hatte. Er wünschte, er wäre unsichtbar. Unauffällig, nicht vorhanden. Denn nicht immer, aber so doch manchmal, und zwar viel zu oft, wurde er von den Bösen bedroht, beschimpft und auch geschlagen, als er auf dem Nachhauseweg von der anderen eckigen Schule war, auf die er später einmal gehen sollte. Einmal, da tickte ihn etwas an, er drehte sich um, und dann war es ganz schwarz und bunt und aus. Ein sehr starker Halbstarker hatte mit aller Kraft und seiner ganzen Faust in sein Auge geschlagen. So einfach aus dem Nichts. Ich hab ihm doch gar nichts getan, dachte der kleine Junge noch, jetzt läuft mein Auge aus. Das hat er genau gespürt. Doch irgendwie konnte er sich nach Hause tasten und stellte ein wenig später mit unterschwelliger Freude fest, dass sein Auge noch drin war. Die Schmerzen und der Bluterguss über das halbe Gesicht begleiteten ihn noch viele Wochen.
Nur weiter hinten, hinter all dem, was eckig war, bückten sich etwas abseits hinter Hecken und Büschen Häuser, die ein Dach hatten. Ein spitzes Dach mit Dachziegeln, kleinen Fenstern und manchmal sogar Gauben. Die hatten Schornsteine und manchmal kam da Rauch raus. Mein Gott, war das schön.
Erst viel später sollte der kleine Junge, der da schon gar nicht mehr klein war, feststellen, was Nachbarn aus Menschen sind – nicht Maschinen.
Doch da standen zwei Eichen vor seinem Zimmer. Zwei Bäume direkt vor dem Haus, die er, so oft es ging, beobachtete. Sie waren seine Rettung. Warum wusste er nicht. Er wusste es einfach.
Einmal, da war Winter, der kleine Junge hatte gerade eine fünf in Mathe nach Hause gebracht, und am nächsten Tag musste er eine Französischarbeit schreiben, fing es an zu schneien. Er hat ganz genau geschaut, wie die Schneeflocken auf den Ästen der Eichen landeten. Die waren aber nicht lange da. Die schmolzen ganz schnell wieder. Es war zwei Grad.
Zuhause war ein Gefühl, das er nie ganz zu deuten vermochte. Seine Welt war in seinen Gedanken, aber seine Gedanken waren woanders. Städte in fernen Zeiten, oder Hummeln und Bienen und viele andere klitzekleine Tiere tummelten sich auf vielen Blättern Papier, die in seine Welt abtauchten. Mama hat ihn nach dem Waschen immer mit warmer Luft angepustet. Das war schön, dachte er. Und Papa war manchmal ein bisschen komisch. Verwirrt, orientierungslos. Manchmal war Papa ganz ruhig, aber manchmal hat er so Sachen gesagt und Mama und der kleine Junge wussten gar nicht so richtig, was sie machen sollten. Irgendwann hat das aufgehört und Mama und der kleine Junge waren sehr glücklich darüber.
Als der kleine Junge von der einen eckigen Schule auf die andere eckige kam, wurde er noch stiller. Seine erste Schule fand er noch ganz in Ordnung. Einmal, da ist er beim Spielen mit seinem Fuß umgeknickt und konnte vor Schmerzen nicht mehr gehen. Er hat sich nicht getraut, den Lehrern Bescheid zu geben. Bis heute hat er Probleme mit seinem Fuß. Aber die Kinder mochte er, manchmal hat er sogar andere geärgert. So stark hat er sich da manchmal noch gefühlt. Und das tut ihm auch bis heute Leid, das mit dem Ärgern. Aber die Kinder auf der zweiten Schule mochte er nicht mehr so sehr. Er glaubt, sie mochten ihn nicht. Und er wusste gar nicht warum. Sie ärgerten ihn. Sie riefen Namen nach ihm. Von Tieren oder von Obst. Sie lachten ihn aus. Und sie stießen ihn in einen Dornenbusch. Einmal, da hat ihm einer gesagt, er bringt ihm so eine Schießpistole mit. Er wolle den kleinen Jungen nicht mehr sehen. So hat der das gesagt. Ich habe das nicht verstanden, dachte er. Aber es hat ihn gar nicht traurig gemacht. Ihm war nur kalt. Denn er kannte das irgendwie gar nicht anders, dachte er. Er wusste auch nicht, was er machen sollte. Er hat das Mama und Papa auch nicht erzählt.
Betondorf. Ein Dorf aus Beton. Mit Ginster hat das nichts zu tun. Ein Leben in Beton.
Nur die Ferien waren schön. Denn da war die ganze Familie an einem fernen Ort. Ein Ort, an dem Berge waren, Bäume und Wälder, Bäche, in denen das Wasser rauschte, Häuser mit spitzen Dächern und Dachziegeln. Überhaupt nur spitze Dächer. Und überall Bäume. Hausbäume, nennt man die. Aber das sollte er erst viel später erfahren. Dass die Menschen früher an diesem fernen Ort und auch noch an vielen anderen Orten, auch an Orten, die gar nicht so weit weg waren von seinem eckigen Dorf, einen Baum an ein Haus mit einem spitzen Dach gepflanzt hatten. Einen Hausbaum. Als Schutz, als Schutz vor den Blitzen, oder einfach, weil es schön aussieht. Eine Linde musste es sein, oder eine Eiche – vielleicht so eine wie vor seinem Zimmer, denn da stand ja immerhin eine, und sogar noch eine – ein Birnbaum und manchmal auch andere Bäume. Aber bei Linden und Eichen wachsen die Wurzeln schön nach unten und machen das Haus nicht kaputt. Die Bäume, die Häuser, die Bäche und all das. So schön war das.

“Ich mach euch fertig! Ich mach euch jetzt kaputt!”, schreit der DJ gegen vier Uhr den 120 Gästen durch das Mikrophon entgegen. Meine Ohren. Die sind kaputt. Die meiner Kollegen an der Bar auch. Laut ist das.
“Ein Caipi! Zwei Wasser und … ö … zwei Skinny Bitch!”, schwurbelt mich ein Gast an. Ich verstehe ihn kaum. Ich kann mir nichts merken. Aber ich fange schon mal an. Zwei Wasser, geht klar. Helene Fischer läuft. Warte mal, eben lief doch noch Dune von Oblast. Eher was für den Wagenbau statt für diese Hochzeit. Aber der DJ rockt, das muss man ihm lassen. Jetzt der Klassiker vom Albers Eck auf dem Kiez: Summer of 69. Ich weiß nicht, wie der das macht, aber der Whisky für 240 Euro, den der DJ unbedingt haben wollte, erscheint mir jetzt in einem anderen Licht. Er ist jeden Cent wert. Denn völlig egal was der DJ spielt, die Gesellschaft tanzt auf den Tischen und scheint vergessen zu haben, dass das hier eine Hochzeit ist.
“Läuft…”, sage ich zu Tati und bin verdammt froh, dass sie da ist.
Plötzlich betritt ein Gast, der vorher im Garten war, die Diele und mischt sich unter die Menge.
Ich kann meinen Augen nicht trauen: “Hier, Alter, hast du den gesehen?”
Tati blickt ratlos in der Gegend umher.
“Da hinten!”
“Wo?”
“Da!”
“Der mit dem bunten Hemd?”
“Ja!”
“Wer ist das?”
“Oooooh, dein Ernst?”
Da steht tatsächlich der Frontmann einer in Deutschland sehr bekannten Band. Tati kennt sich nicht so aus mit Musik. Außer die Kelly Family, besonders hervorzuheben sind hierbei Angelo und Michael Patrick Kelly, obwohl sie gar nicht mehr zusammen Musik machen. Ich kenne mich ein bisschen besser aus mit Musik. Man soll ja nun jeden Gast gleich behandeln, aber dieser Gast / Frontmann übersteigt nun doch unseren Horizont, und wir werden nur noch unruhiger.
Ich kippe gegen den Kühlschrank. Mein Gott, ist mir schwindelig. Vier Uhr fünfundvierzig. Ich muss was trinken und kippe mir ein paar Gläser Wasser rein. Warum guckt der Typ an der Bar mich so schräg an? Besoffen. Ist der. Scheiße, seine Skinny Bitch und was weiß ich, was der noch wollte.
“Was war das nochmal?”, frage ich ihn.
“Ssswei Caipi, n Skinny Bitch … ööö und …”, er kann nicht mehr, dreht sich weg und geht. Gut.
Dann kommt die Braut: “Ffffkrra diiiiieecc ssscccchmaucccch …”
“Hi, na, wie geht’s dir? Alles gut bei euch? Kann ich noch was Gutes für euch tun?”, erwidere ich.
“Ffffkrra diiiiieecc ssscccchmaucccch …”
“…”, ich verstehe kein Wort.
“Ffkra diiiecc sschmauccch …”
“Sorry, ich verstehe dich leider nicht!”
Dann kommt Sie hinter die Bar, quetscht die anderen beiseite und nimmt mich in den Arm. Ich glaube, sie ist glücklich.
Dass unser Traum so groß wird, wie er jetzt ist, hatten wir eigentlich gar nicht geplant. Aber jetzt ist er da. Und wir wissen, dass es etwas ganz Besonderes ist, dieses Haus, dieser Ort, und dass wir für Menschen nicht einfach irgendeine Eventlocation oder ein Hotel sind, sondern ein Ort, der diesen Menschen, unseren Gästen, die vielleicht schönste Zeit ihres Lebens bereitet – eine Liebe, die ewig hält, eine einfache Tasse Kaffee oder eine schöne Zeit mit Freunden oder der Familie. Das ist nicht unser Job. Das ist Magic.

Rügen, ein paar Wochen später. Urlaub. Ein paar Tage raus. Anruf auf Tatis Mailbox. Sie ruft es nicht ab.
“Neeee, das war Mark von der Hochzeit mit den 120 Gästen! Der hat uns auf die Mailbox gequatscht! O ne, ich will das nicht hören!”, ruft Tati, als wir gerade so richtig schön am Strand in unser Lieblingscafé einkehren wollen. “Ne, ne, ne! Nachher versaut der uns noch den ganzen Urlaub. Vielleicht will der nicht zahlen, weil er alles so scheiße fand. Oder, – oderoder, der will nur die Hälfte zahlen. Oder noch schlimmer!”
“Hm”, ich versuche erstmal ruhig zu bleiben. “Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.”
“Doch bestimmt!”
“Nein.”
“Ich hör das nicht ab!”
“Komm!”
“Ne.”
“Das versaut uns doch jetzt den ganzen Urlaub!”
“Ne.”
“…”

15 Jahre vorher – 2005. Unser Traum, unser Lebenstraum. Alles, an was wir glauben, alle Leidenschaft, alles Bangen und Hoffen. Aber auch all das, all dieser Wahnsinn, dieser Stress, diese Sorgen, Herzkasper, immer auf 180, die nächste Rate, die Gäste, die Wünsche, alle diese Gedanken drehen sich immer um dieses Haus und die Kinder und wie man die nächsten Tage überstehen soll. All das liegt in unendlicher Ferne, und wir haben absolut keine Ahnung. Jungfräulich liegt das Leben vor uns und will entdeckt werden. Peter Pan, wir können fliegen, und erwachsen werden wir auch nicht. Kontrastgefühle. Hätten wir das gewusst, hätten wir das alles noch mal so gemacht? Dieses Gefühl von Feierabend, von wirklich frei haben und nichts mehr im Kopf – wir können es nur noch erahnen. Wie ein anderes Universum, und wir waren Außerirdische auf einem Planeten, der voller Apfelbäume ist; keiner hat je einen Apfel probiert. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, durchströmt mich ein Gefühl von Zeit und Raum, das nicht zu fassen ist. Das setzt sich im hinteren Bereich des Gehirns ab. Dieses Leben, das irgendwo hin rinnt und läuft und zerläuft wie und wo es will.

Ich werde so niemals heiraten

Tati und ich sitzen im Rover, einem irischen Pub auf dem Großneumarkt in Hamburg. Dunkel, Rauch, Live-Musik. Irish Traditional. Nicht jedermanns Sache. Ich weiß nicht, ob es ihr gefällt, und ich kenne Tati auch noch gar nicht so richtig. Ein paar Tage vorher hatte ich sie in der Kirche, die ich immer besuche, entdeckt und angesprochen. Habe mich sofort in sie verliebt. Blonde Haare, grünbraunbisschenblaue Augen. Schöne Stimme, das habe ich gleich gedacht, als sie da so neben mir angefangen hat zu singen. Und sonst auch schön natürlich. Inner Werte und so. Klar. Dass wir hier sitzen ist allerdings sehr überraschend für mich. Denn ich bin eher nicht so der draufgängerische Typ. In ein so einem Teenagerhighschoolfilm wäre ich definitv der Loser. Okay, war ich auch. Aber das ist eine andere Geschichte. Schüchtern, unscheinbar, aber wenigstens nicht auch noch klein. 1,85 geht gerade noch. Aber voller Selbstzweifel. Ständig die Frage, was denkt die jetzt von mir? Die, und der und all die anderen. Diese Gedanken, diese Gedankengeister nagen immer und immer wieder an mir rum und machen es mir schwer, mich auf eine Situation einzustellen. Wie kleine Vögel oder so. Ganz kleine und ganz viele. Mit den Schnäbeln picken die so an mir rum und an meinem Gehirn. Die knabbern, die nagen. Die haben so einen kleinen Drachenkopf mit einem Maul und tausenden klitzekleinen Zähnen. In meinen Gedanken. Ganz kleine, scharfe. Das tut nicht immer ganz doll weh, eher unterschwellig. Aber wie ein ständiger Begleiter, der alles zersetzt. Einfach mal einen fremden Menschen was fragen? Wo geht es lang, zum Beispiel? Unmöglich. Nur unter größter Überwindung. Kann man sich nicht vorstellen. Ich habe es trotzdem geschafft, sie zu fragen, ob sie mal in den Pub mitkommen würde. Und hier sitzen wir also.
“Boa, Männer! Ich werde so niemals heiraten!”, sagt Tati plötzlich.
“Hm”, ich so. Keine Ahnung. Hat sie das gerade wirklich gesagt? Und warum überhaupt? Ich habe ihr doch die ganze Zeit zugehört. Wie sind wir denn auf so ein Thema gekommen? Bin aber auch so schrecklich aufgeregt und muss mich die ganze Zeit darauf konzentrieren, nicht zu stottern.
“Ich weiß nicht, ich hab einfach nur schlechte Erfahrungen gemacht.”, sagt sie wieder.
“…”, mir fällt immer noch nichts ein. Das sieht ja gerade nicht so gut aus für mich. Gut. Schlecht. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Bin sonst eher so der Deprityp, der schnell in Selbstmitleid zerfließt. Aber das geht jetzt nicht. Ich trinke Guinness. Sie Cola. Verdammt, was mache ich jetzt? Die Musik ist gut. Jürgen spielt. Ein mittelalter Typ mit Mütze und superweicher Stimme. Ich wäre gerne wie Jürgen. Er hat bestimmt keine Probleme mit Frauen. Groupies. Vielleicht frage ich ihn nachher mal, wie er das macht. Vielleicht aber auch nicht. Wie soll ich denn jetzt weitermachen?
“One Guinness please.”, bestelle ich bei Jacquie, der Chefin des Pubs. Sie nickt. Schön, schön.
“Du auch noch was?”, frage ich Tati. Ich möchte ihren Namen nennen. Aber ich traue mich nicht, du auch noch was, Tati, zu fragen. Kann sich kein Mensch vorstellen, dass man sich nicht traut, einen Namen auszusprechen. Hallo, Frau Soundso, ich habe ihre Unterlagen dabei. Bla. Ist doch normal, dass man Menschen mit Namen anspricht. Aber für mich ist das nicht normal. Ich musste sogar verstehen, dass ich lange Zeit nicht mal meine Eltern, Mama oder Papa genannt hatte. Heute noch muss ich daran denken, wenn ich mich zum Beispiel von ihnen verabschiede. Tschüs, Mama und Papa.
“Ne.”, antwortet sie.
“Und sonst?”
“Was meinst du?”
“Ja keine Ahnung. Mein Haus. Mein Auto. Mein Boot oder so was?”
“Hm.”, sie lacht verlegen.
“Ich meine, was machst du gerne oder so? Hast du irgendwelche Pläne sonst?”
“Hm.”
“…”, ok ok, jetzt muss ich was machen, damit es nicht unangenehm wird. “Na ja, ich mach jetzt Werbung und so. Also noch nicht mal lange, aber ich glaube, ich weiß jetzt schon, dass ich das nicht ewig machen werde. Also bis an mein Lebensende oder so.”
“Hm. Und was machst du dann?”
“Ich weiß, das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen verrückt an, aber ich glaube, ich möchte mal was Eigenes machen. Ein Café oder so. Irgendwann mal.”
“Balzac?”
“Neee, nicht so groß. Keine Kette oder so. Einfach ein kleines Café. Und da dann vielleicht nebenbei noch ein bisschen Grafik und so was. So beides. Café + X.”
“Vielleicht solltest du dir ihr Buch kaufen. Also die Gründerin von den Balzac Cafés, die hat darüber geschrieben, wie sie das alles aufgebaut hat.”
“Okay.”
“Ich möchte auch mal was Eigenes machen. Vielleicht auch ein Café. Oder Journalismus. Das finde ich auch super.”
“Ja?”
“Vielleicht.”
“Cool.”, jetzt läuft es besser.
Unbewusst – natürlich –, aber im Grunde doch schon präsent, wie ein kleiner Keimling, den am Anfang noch keiner sehen kann, hatten wir damals unseren Traum das erste Mal ausgesprochen, den Grundstein gelegt. Ein Traum, der unser ganzes Leben beeinflussen sollte. Ein Traum, der alles geändert hat und so viel größer werden sollte, als wir das jemals gedacht hätten.
Wir unterhalten uns noch den ganzen Abend über das Café, Männer, Musik und all die anderen Träume. Physiotherapie. Rockstar. Familie? Nee. Ein Haus? Ach was. Und so weiter und sofort. Wir sitzen da, und für einen Moment ist einfach alles gut. Schön ist das. Aber dann holt mich wieder die Angst ein, dass ich nicht gut genug für sie sein könnte. Für niemanden. Was will sie überhaupt von mir? Und wie sehe ich überhaupt aus? Pulli, Cap, dünne Haare, Zimmermannshose. So Holzkettengedingsel an den Armen. Eine Scheiße ist das. Wie denke ich überhaupt von mir? Bin ich komisch? Ein paar Freunde hab ich doch. Tati dagegen wirkt selbstsicher und stark auf mich. Ich weiß es nicht.
Die Zeit vergeht, aber ich weiß nicht, doch ich weiß, sie ist nicht an mir interessiert. Und ich muss aufpassen, dass ich nicht wieder in einen Abgrund sinke. Mein finsteres Tal.

Dunkel, Herbst, Sonne Fehlanzeige, alles farblos, und ich renne jeden Tag in meine Agentur nach Ottensen. Dort mache ich Grafik und Internet und so.
“Du kannst doch ganz gut zeichnen!”, sagte meine Mutter damals. “Mach doch was mit Werbung oder so. Da muss man doch zeichnen können!”
Das war der Grund, warum ich in die Werbung bin. Ich hatte keine Ahnung, was ich sonst machen sollte. Dabei ist zeichnen so ziemlich das Letzte, das man da braucht. Aber das wusste ich da noch nicht. Ich war einfach so dermaßen hinterherentwickelt in allem, ich hatte einfach keine Ahnung vom Leben oder von mir und was ich wohl mal machen sollte.
Aber vielleicht war im Nachhinein genau das ja doch das Richtige. Denn in der Werbung muss ich einfach aus mir rauskommen. Sonst gehe ich unter. Noch tiefer als ich sowieso schon bin. In der Agentur merke ich, dass ich nicht nur scheiße bin. Meine Ideen kommen an, und manchmal reden sogar die Girls mit mir. Einmal sitzen wir noch lange mit ein paar Arbeitskollegen vor unseren Bildschirmen. Ab 21 Uhr gesellt sich ein bisschen Bier dazu und wir driften ab. Anja zeigt mir auf youtube Runaway von Kanye West. Sie fasst mich an die Schulter und nimmt mich in den Arm, einfach so. Ich kann das gar nicht glauben, dass mich ein fremder Mensch, ein fremdes Girl einfach so anfasst. Das ist wie ein Rausch für mich. Die hat mich einfach so angenommen, so wie einen normalen Menschen. Vielleicht bin ich ja auch halbwegs normal. Aber das zu glauben, war fast unmöglich für mich. Dieser Abend bleibt lange in meinem Gedächtnis. Kanye, Anja und ich.
Ist also nicht alles schlecht und mein Gedankenkarussell hat auch helle Momente. Vielleicht gibt es Hoffnung.
Eines Abends erreicht mich ein Anruf von einem Freund, ob wir nicht wieder mal nach Irland fahren wollen. Zuerst zögere ich, aber dann, warum nicht. Ich kann Urlaub nehmen und bin dabei. Da kann ich dann vielleicht Tati vergessen. Wir suchen uns noch ein, zwei Leute zusammen, buchen den Flug und fliegen los. Ich war schon oft da. Das Land passt zu mir, denke ich. Wechselhaft. Nachdenklich. Überall Musik, Wasser, Berge, grün. Da schreibt Tati mir auf einmal ständig irgendwelche SMS. Wie geht’s? Wie ist es da? Das Wetter? Und wie ist es mit Jörg, Angela und so weiter? Ich verstehe die Welt nicht mehr und antworte nur kurz.
Wieder in Hamburg will Tati mich gleich sehen. Am ersten Abend fallen wir uns in die Arme und sind zusammen. Ich kann es bis heute nicht glauben. Dass das da so funktioniert hat, und wir tatsächlich ein Paar geworden sind.

Dann geht alles so seinen Weg. Trotz aller Selbstzweifel und nicht allzu voll des Glaubens an das Gute auf der Welt – und ich sollte feststellen, dass auch Tati leider keinen leichten Start ins Leben hatte – führen wir ein ziemlich normales, ja fast schon spießiges Leben. Beide einen ganz guten Job in der Werbung, Hochzeit und ein paar Jahre später, ja, doch, tatsächlich, sogar ein kleines Haus am Rand von Hamburg. Das erste Kind schlüpft und die Blumen im Garten blühen. Alles ist irgendwie gut; eine Entwicklung, die wir in diesem Moment gar nicht so bewusst realisiert hatten. Es passierte einfach. Und das war eine Konstante, die neu für uns war.
Dabei standen die Zeichen keineswegs auf Hausbau. Denn wir waren jung und hatten kein Geld. Werbung, wie gesagt. Kein allzu gut bezahlter Job. Damals lebten wir in einer kleinen Wohnung in Barmbek und waren völlig zufrieden damit. Doch Alda, eine Kollegin aus der Agentur, in der ich damals gearbeitet hatte, stellte uns irgendwann einfach diese eine Frage: “Was zahlt ihr eigentlich an Miete?”. Wir so, so und so und sie so, ja dann baut doch lieber. Sie hätten in Lurup günstig ein Haus geschossen. Und wir so, okay, dann gucken wir mal. Und so haben wir indirekt und ohne es zu wissen die Grundlage für unser späteres Bauernhaus gelegt. Der Flügelschlag des Schmetterlings.

Fünfhausen in Vierlanden

2008. Ich durchquere ein häßliches Gewerbegebiet. Gigantische Hallen reihen sich aneinander, eine grauer als die andere, häßliche Monotonie vom aller Feinsten. Industrie, auch noch. Hallen und Schornsteine. Eine Tankstelle, Schwerkrafttransporter, ein Autofriedhof, Gaswasserscheiße und immer diese übergroßen Hallen. Ein Kohlekraftwerk, prost Mahlzeit. Dann biege ich rechts ab in eine Straße, die gar nicht mehr aufhört, endlos geradeaus. Ich überquere eine Autobahn und lande schließlich wieder bei einer Tankstelle.
Etwas später lichten sich die Häuser, ich komme an einem Deich raus und fahre das erste Mal über die Elbe. Von einem Moment auf den anderen – Stille. Und Weite, und Sonne und Felder und schön. Ich fahre weiter und immer weiter. Die Straße nimmt kein Ende. Nur ab und zu versteckt sich ein reetgedecktes Haus am Deich oder hinter irgendwelchen verwunschenen Bäumen. Ich folge der abknickenden Vorfahrt und durchquere ein pittoreskes Dorf mit alten Häusern, Katen und einem kleinen See. Wahnsinn. Die Straße führt mich weiter, und auf einmal schwebe ich über unendliche Felder und Wiesen. Wie das Meer, so weit und still. Oder Fliegen vielleicht. Ruhig und schwerelos. Ganz anders als ich das kenne aus Hamburg. Ich öffne das Fenster und rieche etwas, von dem ich dachte, dass es das nur in der Rhön gibt, im kleinen Wendershausen, dem Ort, an dem meine Mutter geboren ist, und den ich alle Ferien besucht hatte – den Duft von frisch gemähten Wiesen und Feldern im Sommer.
Irgendwann lande ich in einem weiteren Dorf an dessen Einfahrt mich eine Reihe aus gigantischen Pappeln begrüßt. Aber das wusste ich damals noch nicht, dass das Pappeln sind. Überhaupt, diese ganze Natur, das viele Grün und diese ganzen Höfe überall. Schließlich finde ich den Bauplatz, der für unser zukünftiges Haus geeignet wäre. Ganz schön weit raus, das Ganze.
Am Abend erzähle ich Tati von meinem Erlebnis.
Am Wochenende sind wir nochmal zusammen da.
“Megaschön!”, strahlt sie.
“Ja. Finde ich auch.”, sage ich.
“Was machen wir jetzt?”
“Ist aber auch ganz schön weit raus.”
“Schon.”
“Ist aber auch echt schön!”
“Ja, stimmt.”
“Wo sollen wir denn sonst hin?”
“Tja, stimmt. Da reicht das Geld dann nicht mehr. Aber das ist aber ja auch trotzdem schön!”
“Ja. Wir bauen ja auch nicht irgendwo, nur weil wir nichts anderes haben.”
“Ne. Und ist ja auch schön!”
“Dann machen wir das!”
“Ja.”
“…”
“Ja!”
“Wie heißt das da noch?”
“Vier- und Marschlande. Also Vierlande. Da, wo wir hinwollen.”
“Fünfhausen in Vierlanden?!”
“Ja!”
“Machen wir! Das, was so heißt, kann doch nicht so schlecht sein!”
Liebe auf den ersten Blick, für uns beide. Ein bisschen weit raus, aber genau das Richtige. Dieser eine Moment, damals, auf dieser einen Brücke am Elbdeich, dieses Portal in ein fremdes verzaubertes Land, diesen einen Moment haben wir niemals vergessen.
Schicksal? Diese eine Frage von meiner Arbeitskollegin Alda. Es sollte wohl einfach so sein. Wir wären niemals auf die Idee gekommen, uns diese Frage zu stellen: Bauen. Und wir verstehen bis heute nicht, wie uns die Haus-Firma, die uns auf den Bauplatz in Vierlanden hingewiesen hat, eine Finanzierung für unser Haus besorgt hat. Tati war in der Ausbildung und ich hatte zwar einen ganz guten, aber so dermaßen unterbezahlten Job in der Werbung, dass es wirklich an ein Wunder grenzt. Einzig das Startkapital meiner Eltern – Mama, Papa, ich bin euch wahnsinnig dankbar! – und ein wenig Angespartes von mir und ein bisschen mehr von Tati war vorhanden. Und das auch nur, weil Tati durch eine alte Versicherung etwas Geld durch den Tod ihres Vaters auf der hohen Kante hatte.
Der Bau an sich war die Totalkatastrophe. Bauverzögerung, Rechtsstreitigkeiten, schlaflose Nächte und so weiter und sofort. Tati musste quasi den komplett unfähigen Bauleiter ersetzen und hätte das Ding auch einfach alleine hochziehen können. Dabei mussten wir beide den ganzen Tag arbeiten.
“Wo soll da was sein?”, der Bauleiter so vor Ort.
“Na da!”, wir so zurück und fuchteln mit unseren Armen vor der besagten Stelle rum. Baubesprechung.
“…”, er guckt ins Leere.
“Hier!”
“…”, er kann es immer noch nicht entdecken.
“…”, ich krieg einen zu viel.
“Jetzt kommse, bitte, zeigense mir mal genau, wo.”
“Vielleicht scheint die Sonne da so ungünstig gegen. Aber hier, diese großen Furchen da an der Decke, das ist doch nicht normal.”
“Ach da.”, er schweigt einen Moment und stellt sich direkt unter die Stelle. “Die meinse.”
“…”, jetzt bin ich gespannt.
“…”
“Und?”
“…”
“Also schön ist das jawohl nicht.”, bemerkt Tati schon leicht erregt.
“Ja, also, da könnse doch einfach was rüberspachteln.”
“… … …”
Das meint der nicht ernst. Da erstreckt sich eine mehrere Zentimeter breite und tiefe Furche an der Decke durch unser gesamtes Wohnzimmer, und wir sollen das einfach zuspachteln? Ganz zu schweigen von falsch gesetzten Durchbrüchen oder Wänden, Bauverzögerung und so weiter und sofort. Okay, kann man machen, muss man aber nicht. Baumängel? Nie gehört. Wahnsinn. Fehler macht jeder, aber der Ton macht die Musik. Hast du nicht gesehen. Billig ist am Ende immer teuer. Aber lassen wir das. Für diese ganzen Besichtigungen, Abstimmungen, Kontrollen und so weiter bin ich Tati bis heute sehr sehr dankbar!

2010. Wir leben nun in unserem kleinen Haus in Fünfhausen in Vierlanden. Unser Sohn David ist geboren. Er ist wunderbar, aber auch sehr ängstlich. Ständig klebt er an Tati, die ohne ihn nicht einmal auf Toilette gehen kann. Doch zum ersten Mal in meinem Leben passiert etwas, dass ich noch nie erlebt habe. Ich nehme nicht nur David an. Ich nehme auch mich an. Als Mensch. So wie ich bin. Ich bin okay. Denn David ist okay. Ich liebe ihn! Und er ist so genau wie ich. Dann kann ich doch nicht so schlecht sein. Ein kleiner Schritt auf dem Weg zu meiner, na sagen wir, innerlichen Heilung.
Mit meinem neuen Rennrad fahre ich die Straße entlang, vorbei an den kleinen Backsteinhäusern, Reetdachkaten, Wiesen und Feldern und trete in die Pedale. Neben mir und um mich herum ist nur diese große Freiheit und dieser weite Himmel. Ich freue mich immer noch, hier leben zu können. Ich weiß nicht mehr, ob es kalt war, ob die Sonne schien oder ob es geregnet hat. Meine Aufgabe als fürsorglicher und hingebungsvoller Vater war die Beschaffung einzelner Substanzen für die Genesung unseres Sohnes. Ich weiß weder, was er hatte, was genau ich kaufen sollte, noch warum ich mit dem Fahrrad statt mit dem Auto gefahren bin, aber ich kann mich noch lebhaft an diese unendlich lange Straße durch das ewig weite Land, und am Ende diese klitzekleine Dorfapotheke, erinnern.
Nachdem ich die Arznei an mich genommen habe, fahre ich wieder zurück. Ich schwebe und zähle die Häuser, trete die Pedale, sehe die Menschen am Straßenrand, spüre den Wind in meinen Augen und bin einfach nur da.
“Alles gut”, beruhigt mich Tati, als ich zu Hause ankomme. “David geht es gut!”
“Puh, also, … ja, alsoalso, wirklich – gut ist das …”, keuche ich und verschwinde schnell in unserem Schlafzimmer. Komplett nassgeschwitzt wechsle ich meine Klamotten und stürme dann zu meiner Frau und David zurück. “Schatz, jetzt bin ich wieder da, wie geht es Purzel jetzt?”
“Bär”, sagt sie fürsorglich und guckt mich an wie jemand, der alles weiß, der alles macht, und der alles kann. Mutterinstinkt oder so heißt das, und das ist auch gut so.
“Er schläft, siehst du?”, flüstert sie und strahlt bis über beide Ohren.
Ich strahle auch.
Nach einiger Zeit hat sich alles etwas normalisiert, und ich beschließe in ein paar ruhigen Momenten den Süderquerweg – denn das war die Straße zur Apotheke, aber das wusste ich damals noch nicht –, erneut mit dem Fahrrad entlangzufahren. Diesmal mit meinem Fotoapparat.
Wenn ich mir heute die Bilder angucke, muss ich immer lachen. Ich habe einfach jedes Haus fotografiert, das auch nur annähernd nach irgendetwas aussah. Ein alter Birnbaum vor dem Haus? Foto. Ein bisschen Krempel im Vorgarten? Foto. Ein bisschen Fachwerk, ein bisschen Klinker, ein bisschen Reet oder eine kleine Scheune? Foto. Farben, Steine, Holz, Materialien – alles ganz toll. Natürlich steht da nicht an jeder Straßenecke ein wahres Schmuckstück, aber ich habe in vielem etwas gesehen, das ich mir bis heute nicht ganz erklären kann. Es ist, als ob diese Häuser, diese Orte ihr eigenes kleines Leben führten. Es ist, als hätten sie so etwas wie einen eigenständigen Charakter, als ob sie mit der Welt in Kontakt träten, als ob sie mir etwas erzählten.
Und so kommt es auch, dass wir irgendwann Ernst vom Freundeskreis Rieck Haus – das ist Norddeutschlands ältestes Bauernhaus und Freilichtmuseum – kennenlernen. Mit ihm fahren wir durch unsere neue Heimat, die Vier- und Marschlande, um mehr über die Häuser und das Leben dieser Region zu erfahren. Der Mann ist ein wandelndes Lexikon, ein Archiv, ein Geschichtskontor oder so etwas. Zu jedem Haus, das uns über die Jahre aufgefallen ist, hat er eine Geschichte zu erzählen. Wir lauschen nur.
“Halt, halt, halt! Hier, fahr noch mal zurück!”, ruft Ernst. “Da müssen wir noch mal ran!”
Er erzählt von den Menschen hier, über die Jahrhunderte, von Handwerkern und Bauern, von alten Herrschaften und gewieften Hausmuttis – er kennt alle mit Namen –, von Bränden, Fluten und anderen Katastrophen, von alten Bräuchen, altem Handwerk und alten Freunden. So schön ist das, und dabei wirkt er immer etwas in sich gekehrt, nachdenklich, er sieht die Bilder vor seinen Augen, und fragt sich, wie es heute ist. Ich sehe auch die Bilder, aber ich kenne sie nicht. Ich habe es nicht erlebt, wie es früher mal war. Heute ist es nicht schlechter. Nur anders.
“Vielleicht sollte ich mal was mit Facebook machen.”, sage ich eines Abends im Bett.
“Was meinst du?”, fragt Tati.
“Na ja, ich hab mal geguckt, es gibt noch absolut nichts auf Facebook mit den Vier- und Marschlanden.”
“Okay?”
“Ja keine Ahnung. Ich mach da doch gerade so viel in der Agentur mit. Und warum sollte ich nicht auch mal was für hier machen? Für hier von hier, weißt du?”, ich lache. Jeder noch so kleine Betrieb vom Land benutzt so einen Spruch für seine Werbung. So oder so ähnlich.
“Warum nicht.”
“Ja.”
“Kost ja nix.”
“Ne.”, und so mache ich mich ran und gründe die Facebook-Seite Vier- und Marschlande. Mein erster Post: Ein großes reetgedecktes Hufnerhaus am Deich in Kirchwerder. Zehn Jahre später sollte ich es wieder posten. Da ist es komplett zusammengebrochen und zum Abriss freigegeben.
Zuerst passiert gar nichts, und ich vergesse die Seite wieder. Aber nach ein paar Wochen gucke ich zufällig vorbei und sehe, dass da einige Kommentare eingegangen sind. Also mache ich weiter und befasse mich immer mehr mit dieser sehr besonderen Region. Ich kaufe Bücher und lerne Menschen aus Heimat- oder Schützenvereinen und der Freiwilligen Feuerwehr kennen. Tati und ich landen außerdem als Mitglieder im Freundeskreis Rieck Haus, dem Verein, durch den wir Ernst kennengelernt hatten. Heinz-Werner, der Vorstand, hat uns auf einem Dorffest angesprochen und herzlich aufgenommen. Dieser Verein kümmert sich um eben dieses älteste niedersächsische Fachhallenhaus Norddeutschlands mit alter Bockmühle, Backhaus, Scheune und Heubarg (einer ursprünglichen Scheunenform).

Unser erstes Erdbeerfest

Rückblende: “Hier muss es sein!”, rufe ich.
“Wo?”, fragt Tati.
“Ja hier irgendwo, das stimmt doch, Curslacker Deich 228, das kommt da doch gleich!”
“Ja!”
“Siehst du!”
“Ist dein Vater noch hinter uns?”
“Was?”
“Dein Vater, ist der noch hinter uns?”
“Ja!”
“Park doch jetzt einfach hier! Den Rest gehen wir dann. Nachher kriegen wir da keinen Parkplatz mehr oder so.”
“Ach.”
“Doch!”
“Ja.”
Erdbeerfest im Rieck Haus 2000irgendwas, damals hatten wir noch keine Ahnung von diesem Bauernhaus, geschweige denn von dieser Region. Wir begannen gerade erst mit den Planungen für unser eigenes Haus in Fünfhausen.
Die Autokarawane vor uns kommt zum Stehen, und ich frage mich, wie binnen weniger Sekunden die Dorfidylle in innerstädtische Staustopfhektik umschwenken kann. Schnell fahre ich an den Deichrand – dabei stürze ich mein Auto fast denselbigen hinunter – und betrachte das rege Treiben.
“Hier soll das Erdbeerfest sein?”, frage ich.
“Ja hier wohl nicht. Das Rieck Haus kommt aber gleich.”
“Ja!”
“Wo sind deine Eltern?”
Ich weiß es nicht. Und ich kann nicht glauben, was hier los ist. Unser erstes Erdbeerfest. Unser erstes Mal Rieck Haus.
Als sich wenig später vor mir dieses ehrfurchtsvolle, alte Bauernhaus auftut, bin ich fassungslos. Sofort bin ich in einer anderen Welt und von der Idylle des Freilichtmuseums geplättet. Die alte Bockmühle im Zentrum, die Scheune, der bunte Bauerngarten und der Heubarg verzaubern mich augenblicklich. Und die Stockrosen. Diese wunderschönen Stockrosen, die mir auf ganz besondere Weise zeigen, dass hier ein ganz besonderer Ort ist. Ein Stückchen schöne heile Welt. Überall alte Gewerke mit Schmieden, Tischlern, Reetdeckern, Korbbindern, Stände mit Erdbeerkuchen, Erdbeerbowle oder Erdbeerirgendwas.
Ich schaue Tati an, ihre Augen strahlen auch. Doch sie guckt nicht die Häuser, die Stände oder die weiten Felder an, ihr Blick klebt an einer buntroten wunderschönen Dame – der Erdbeerkönigin. Alice im Wunderland. Das Rieck Haus, der Kaninchenbau. Wahnsinn.
“Purzel!, das will ich auch mal sein!”, platzt aus ihr heraus. Purzel, mein alter Spitzname.
“Klar!”, was soll ich sagen?
Meine Eltern sind schließlich angekommen und können sich dem Zauber auch nur schwer entziehen. Eben noch habe ich mich gewundert, wie in dieser Dorfidylle eine derartige Hektik ausbrechen kann, jetzt kann ich nicht glauben, dass ich im 21. Jahrhundert lebe. Überall werkeln, schnitzen oder spinnen Menschen in Kluften, Kostümen und Trachten herum, Musik erklingt aus alten Instrumenten und Trachtengruppen schwingen auf der Bühne das Tanzbein.
Der erste Auftritt von Ernst, den wir hier das erste Mal gesehen hatten: “Dat is mi nu jüst infullen un ik will jü dat mol eben vertellen. Manch een kennt dat villich ook noch vun freuher ut de Veerlanner Garnereen.”
Ernst schnackt Platt. Wir verstehen kein Wort (das hat sich im Laufe der Jahre zum Glück etwas geändert). Irgendwann redet er hochdeutsch und wir verstehen ein bisschen. Schön ist das. Er stellt die einzelnen Trachtengruppen, Gewerke und das Rieck Haus vor und hat immer einen lustigen Spruch auf den Lippen.
Natürlich probieren wir irgendwann auch Erdbeerkuchen‑, bowle oder andere Gerichte mit der Sammelnussfrucht (das ist die Erdbeere nämlich, hab ich mittlerweile auch gelernt), aber dieses majestätische Rieck Haus an sich bleibt mir seit dem Erdbeerfest am meisten im Kopf. Die Grot Döns mit hunderten Delfter Fliesen, die Lütt Döns, der lange Stall mit den ganzen Gerätschaften und all die anderen Räumlichkeiten des Rieck Hauses lassen mich tief in eine Zeit eintauchen, die der heutigen so fremd scheint und doch so fasziniert. Von 1533 ist der erste Eichenbalken des Rieck Hauses, das kann man sich ja kaum vorstellen. An diesen zwei Tagen haben wir die Welt wieder aus den Augen von Kindern gesehen.
Jedes Jahr wieder sind wir da, und Tati ist tatsächlich irgendwann Erdbeerkönigin geworden.

2012, Johanna, unser zweites Kind wird geboren. Sie ist ganz anders als David. Selbstsicher, laut, wild. Einmal waren wir auf Rügen am Strand. Sie war zwei oder so, und ist einfach abgehauen. Wir haben sie dann im Foyer eines Luxushotels wieder eingesammelt. Ob uns das etwas sagen sollte? Wir lieben sie und sind unendlich dankbar.
Mittlerweile habe ich die Agentur gewechselt und arbeite deutlich mehr. Der Chef meiner vorherigen Agentur hat sich von einem Tag auf den anderen entschieden, einfach nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Und so brachen nach und nach die Kunden weg und irgendwann auch ich. Die neue Agentur, höher, schneller, weiter. Schon ein bisschen mehr so Weltniveau. Nicht Jung von Matt, gut, aber Kampagnen für Banken, große Bäckereiketten oder Autos im Luxussegment waren schon drin. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für ein Privatleben. Und das Leben von Tati war auch nur noch Haushalt und Kinder und Haushalt und Kinder. Und Werbung. Denn halbtags ist sie ja auch noch in ihrer Agentur tätig.
“Ja, ich weiß auch nicht. Der Pitch zieht sich echt! Ist aber auch alles nicht so einfach gerade!”, höre ich mich oft stöhnen. Zehn Uhr nachts.
“Was ist denn das Problem genau?”, will Tati wissen.
“Die Stage! Die kommt einfach noch nicht so!”
“Was meinst du?”
“Die sieht einfach scheiße aus! Da fällt mir auch nichts ein. Und da arbeiten wir jetzt mit vier Grafikern dran. Voll Battle und so.”
“Okay.”
“Wie war dein Tag?”
“Haha.”
“Haha. Jaja. Aber sag mal.”
“Mamamamama, Hunga, Mamamama, wo Papapapa. Kochen, Kacken, krank. Sorry. Ich musste mit Johanna zum Arzt, weil sie irgendwelchen Schleim im Auge hat und danach kam gleich der Typ für die Lüftungsanlage. Heute gibt es Nudeln mit Ketchup.”
“…”
“Ja geht nicht anders. Habe das Einkaufen nicht mehr geschafft!”
“Jaja, kein Problem.”
Das ging ständig so. Kinder, Arbeit, Kinder, Arbeit.
Nächster Morgen: “Schatz! Ich muss los!”, schreie ich aus dem Kinderzimmer.
“Ja, denn geh!”, schreit Tati aus der Küche.
“Aber David!”
“Was denn?”
“Der hat doch Bindehautentzündung!”
“Scheiße!”
“Der will das Zeug nicht in die Augen!”
“Jaaaa!”
“Ich muss zur Arbeit!”
“Whuaaaaaa haaaa hahahahaaa!”, David meldet sich auch zu Wort und schreit.
“Schatz, komm hoch!”, rufe ich wieder.
“Ich kann nicht!”
“Warum?”
“Whuaaha haha haaaa. Whuaaa!”
“Johanna hat gerade den ganzen Brei im Haus verteilt!”
“Ist doch egal! Komm hoch!”
“Nein!”
“Whuaaaaaa haaaa hahahahaaa!”
Ich nehme Davids Arme, halte sie mit einer Hand fest, lege ihn in sein Bett und versuche mit der anderen seine Augen mit den Tropfen zu treffen, whuaaa, whuaaa, haaaaahaa, unmöglich, er zappelt, presst die Augen zu, dann wieder auf, ich mache den nächsten Versuch, whuaaa, whuahaha, wieder daneben, zu, auf, Tropfen, zu, auf, Tropfen, whuuuaaaahahah, zuauftropfenunmöglich! Ich sehe schon meinen Chef, der mich anmacht, weil ihn meine Probleme nicht interessieren und ich gefälligst pünktlich zu kommen habe. Scheißegalwasmitdeinenkindernist! Ich schwitze. O Gott, o Gott, das kann doch alles nicht wahr sein.